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Mlada Fronta Dnes 2003-07-08
Fall Kinsky: Nur Populismus?
Von  Bohumil Dolezal, Politologe

Der Fall Kinsky gehört zu denen, die in der Öffentlichkeit Sorgen und Emotionen wecken. Diese wiederum sind im allgemeinen eine Quelle irrationaler Überlegungen und unangemessener Reaktionen; lassen aber gleichzeitig berechnenden Populisten ihren Auftritt. Für gewöhnlich gelingt es aus einer strittigen Angelegenheit einen kurzzeitigen Vorteil zu erhaschen, der einigen Politikern dienen kann. Dies kann jedoch langfristig verheerende Folgen für die gesamte Gesellschaft haben.

Es ist erforderlich anzuerkennen, daß die Sorgen in diesem Fall einen realen Kern haben. Das Eigentum, das Herr Kinsky beansprucht, bedeutet mehrere Milliarden (tschechische Kronen). Das bringt den gegenwärtigen Eigentümern (überwiegend, wenn nicht insgesamt dem Staat und den Gemeinden) einige Probleme.

Die tschechische Absurdität
Die Probleme sind die Folge einer gewissen Absurdität der Grundfesten der tschechischen Restitutions-Gesetzgebung. Im übrigen: Gesetze haben, wie alle Regeln,  für diejenigen, die sich danach richten, immer helle und dunkle Seiten. Der Wille, dies ausnutzen zu wollen und – nachdem dies geschehen ist – das weniger gute nachträglich umzukehren, gehört zu einem Frontalangriff auf das Rechtswesen als solches. Als würden nicht andere Wege zu einem vernünftigen Ausgleich führen. Warum setzen alle voraus, daß Herr Kinsky der Nation schaden will? Warum hat bisher keiner der kompetenten Verantwortlichen überhaupt einmal versucht festzustellen, welche Absichten er hat und ob nicht ein Weg zu einem vernünftigen Ausgleich möglich wäre? Ein Ausgleich, der das, was dieser Staat fürchtet, relativiert oder gar ganz beseitigt?

Mit dem Populismus hat, nach seinen üblichen Gepflogenheiten, (Kultus-) Minister Dostal angefangen.
Nicht nur, daß er eine ganz sonderbare Form einer Kollektivschuld definiert: eine „Familienschuld“ (er spricht über „Familien, denen ihr Eigentum aus Gründen ihrer Kollaboration konfisziert wurde“) offensichtlich deshalb, damit dem Kreis der Beschuldigten auch ein neunjahriges Kind zugeordnet werden kann, vergißt aber in seiner Zerstreutheit, daß sogar die Federalversammlung, in der er obendrein noch zur gleichen Zeit seinen Sitz hatte, die heilige Zeitgrenze des 25. Februar 1948 bereits durchbrochen hatte.

Die heilige Grenze des 28. Februar 1948 wurde durchbrochen, als die Federalversammlung die Nationalversammlungen mit der Aufgabe betraute, eine gesetzliche Regelung der Restitutionen von tschechischen Bürgern deutscher und ungarischer Nationalität, die aufgrund von Beneš-Dekreten enteignet wurden, zu finden (was auch erfüllt wurde).

Auf dem Boden des Parlaments initiierte Dostal ein Meeting, dessen Zweck war, „zu beraten über das weitere Vorgehen zur Verhinderung einer Änderung der in Folge des zweiten Weltkrieges entstandeten Eigentumsverhältnisse, die durch einige Gerichte angezweifelt werden.“  Und er schlug vor, ein Gesetz zu verabschieden, das die Unveränderbarkeit des Status, der nach dem zweiten Weltkrieg entstanden ist, festlegen sollte.
Premier Spidla übertrumpfte ihn allerdings damit, daß dies gleich eine Verfassungsregelung werden könnte.

Ein ganz besonderes Rechtsbewußtsein
Diese und ähnliche Überlegungen geben eine seltsame Zeugenschaft über den Stand des Rechtsbewußtseins unserer Verfassungsverantwortlichen wieder. Der Premier zum Beispiel trägt vor: „Es ist unmöglich, den Gedanken zuzulassen, daß die Ergebnisse des zweiten Weltkriegs durch einige komplizierte Rechtstricks durchlöchert werden sollten“.

Dieser Anfall von Militarismus bei einem sonst friedliebenden Menschen ist erschreckend. Wenn es um einen Krieg geht und ähnliche Gewalt, sollten alle „Rechtstricks“ weichen? Liegt nicht der Sinn des Rechtsgeschehens nicht eher darin, Ungerechtigkeit auszugleichen, insbesondere diejenigen, zu denen es leichter  in Zeiten entfesselter Gewalten kommt? Und war dies nicht gerade der Sinn der tschechischen „außergerichtlichen Rehabilitationen“?

Der Premier hat gleichzeitig Fachleute beauftragt, Anpassungen der Legislative zu finden, die „Fehlinterpretationen von Gesetzen im Zusammenhang mit Restitutionen und Nachkriegsdekreten“ vermeiden sollen. Der Premier also, gleichsam als Politiker, entscheidet darüber, was die richtigen und was fehlerhafte Interpretationen von Gesetzen sind, und beauftragt Spezialisten, danach die Gesetzgebung auszurichten? Das alles ist doch schon einmal dagewesen.

Die Krone hat dem Ganzen jedoch, wie üblich, President Klaus aufgesetzt. „Nach dem Jahr 1989 haben wir einen allgemein verbindlichen Konsens gesucht, wie wir die Vergangenheit sehen sollten. Ich habe Angst, daß in den vergangenen Tagen, von allen Seiten, im Inland und im Ausland, versucht wird, diesen Status quo in eine andere Richtung pendeln zu lassen. Es ist erforderlich, daß die höchsten Verfassungsverantwortlichen hierzu einige Worte sagen.“

Also zum ersten, von einem „allgemein verbindlichen Konsens“ im Hinblick auf die Nachkriegsvergangenheit kann keine Rede sein. Dieses Thema ist offen. In der letzten Zeit sind kritische Stimmen zu hören gewesen, auch von Seiten aktiver Politiker. Der Präsident der Republik hat gar keine rechtswirksame Macht, um offene Probleme autoritär zu schließen.

Das Vaterland ist in Gefahr
Und zum zweiten: Der Präsident schlägt Alarm wegen der inländischen und ausländischen Störer des Status quo. Das Vaterland ist in Gefahr! und es ist erforderlich, Recht und Ordnung wiederherzustellen!  Das alles ist schon mal dagewesen. Es ist eine wunderbare Zusammenarbeit. Was Dostal begann, wird Klaus beenden.

Was Not tut, ist, den Versuchen der tschechischen populistischen Politiker zu begegnen, einen ziemlich atypischen Gerichtsfall (der übrigens mit den Nachkriegsereignissen nur lose zusammenhängt) dazu zu benutzen, Kritiker des Themas, das schamhaft „jüngste Vergangenheit“ genannt wird, mundtot zu machen. Genauso muß man den Versuchen entgegentreten, die erforderliche nüchterne und rationale Einstellung zu einem konkreten Problem durch das Aufheizen von Massenleidenschaften zu ersetzen.

Soweit Bohumil Dolezal in der Mlada Fronta Dnes 2003-07-08.

 

Die Lidove Noviny melden 2003-07-08, daß auf Anregung des Justizministers die Vorsitzende des Obersten Gerichts das Plenum des OG  auffordern wird, dazu eine Stellungnahme zu formulieren. D. h., daß mindestens 60 Richter des Obersten Gerichts entscheiden müssen, ob Eigentum alleine aufgrund der Restitutionsgesetzgebung zurückgegeben werden kann oder ob auch die weitaus liberalere Variante – eine Klage aufgrund der Bürgerlichen Gesetzgebung – wirksam sein kann.

Der stellvertretende Vorsitzende des Obersten Gerichts erläuterte, daß eine solche Entscheidung mehrere Monate benotigt, da dazu natürlich eine Reihe Fachgutachten erforderlich sein werden. Die zu erwartende Entscheidung des Obersten Gerichts ist jedoch, so der stellvertretende Vorsitzende Kucera, für die niedrigeren Gerichtsinstanzen nicht bindend. Es geht hier lediglich um eine Art empfehlender Instruktion.

Das Oberste Gericht ist jedoch die letzte Instanz, die über außerodentliche Maßnahmen entscheidet, so daß Richter, die die Stellungnahme des Obersten Gerichts nicht respektierten, den (entprechend anders) entschiedenen Rechtsfall schnell wieder auf dem Tisch haben könnten.

Kucera gab zu, daß einige Äußerungen der Politiker leicht nach Beeinflussung der Gerichtsbarkeit riechen.  ...  Er ist gleichsam überrascht durch die politische Absicht, wg. der Restitutionsfälle eine Verfassungsänderung durchzuführen. „Ich kann mir nicht vorstellen, in welchem Punkt die Änderung eintreten sollte. Ich bin der Meinung, daß diese Angelegenheiten in der Kompetenz unabhängiger Gerichte bleiben sollte ...“ so Kucera.
(Entnommen aus Lidove Noviny 2003-07-08 Seite 5 von Jana Kalinova. )

Beide Berichte für www.MITTELEUROPA.de verfaßt von unserer Böhmischen Korrespondentin.
Herzlichen Dank! ML 2003-07-07

Radio Prag meldet 2003-07-09-20:16:
Präsident Klaus berät mit Premier Spidla und Parlamentschefs über Restitutionsfragen
Präsident Vaclav Klaus wird am Abend mit Premierminister Vladimír Spidla und den Chefs beider Parlamentskammern, Petr Pithart und Lubomír Zaoralek, über die Frage nach dem Umgang mit Restitutionsverfahren beraten, die in Zusammenhang mit den sog. Beneš-Dekreten stehen.
Bereits in der vergangenen Woche hatten Vertreter aller Parteien über dieses Thema diskutiert und Justizminister Pavel Rychetsky beauftragt, beim tschechischen Höchsten Gericht eine Richtlinie für Rückgabefälle zu beantragen. Grund für die Aktivitäten ist eine Klagewelle des in Argentinien lebenden Frantisek Oldrich Kinsky. Kinsky will Immobilien und Grundstücke im Wert von etwa 1,3 Milliarden Euro zurückbekommen, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf Grund der Dekrete konfisziert worden waren. Der Adlige hat 157 Klagen eingereicht, von denen er bereits einige gewonnen hat. Diese Urteile hatten Parteienvertreter als „Bruch der Dekrete“ bezeichnet und einen gesetzlichen Schutz der Enteignungen gefordert.

Fortsetzung