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Mitteleuropas Böhmen-Korrespondentin Hana berichtet weiter aus der Tschechischen Tagespresse:

Mlada Fronta Dnes 2003-07-11 
Wir benötigen in erster Linie eine Beruhigung
Interview mit dem Senatsvorsitzenden Peter Pithart
Der Vorsitzende des Senats informiert – während des Meetings mit dem Präsidenten sind die Namen Kinsky, Beneš und Dostal nicht gefallen.

Als Präsident Vaclav Klaus die Sitzung der vier höchsten Verfassungsverantwortlichen zum Thema „vermeintliche Bemühungen, die Fragen der Vergangenheit erneut zu öffnen“ einberufen hat, wurde eine Diskussion der Themen der Gerichtsfälle von Franz Ulrich Kinsky erwartet und auch der Forderungen zur Entschädigung der Vertriebenen.
Nichts derartiges ist, dem Vernehmen nach, am Mittwochabend bei dem Zusammentraffen des Vorsitzenden des Senats Petr Pithart, des Premiers Vladimir Spidla mit dem Chef des Abgeordnetenhauses Lubomir Zaoralek geschehen.
„In erster Linie wollten wir zur Besinnung aufrufen“ sagt Senatschef Petr Pithart.
Hatten die Verhandlungen beim Präsidenten am Mittwoch überhaupt einen Sinn?
Beruhigung ist das, was die Gesellschaft in diesem Augenblick benötigt. Ich hatte nicht im Geringsten den Eindruck, daß ein Krisenstab benötigt wird. Der Sinn dieser Zusammenkunft lag nicht in der Vorbereitung irgendwelcher legislativer Änderungen.
Nach dem Treffen haben Sie die tschechische politische Szenerie aufgefordert, sich mit übereilten Reaktionen auf Kommentare aus dem In- und Ausland zu  einzelnen Gerichtsverfahren zurückzuhalten. Haben Sie dabei etwa an Minister Dostal gedacht, der den Fall Kinsky besonders scharf kritisiert hat?
Der Name Dostal ist nicht gefallen. Wir haben uns in der Tat nicht über einzelne Gerichtsfälle unterhalten. Auch der Ausdruck Beneš-Dekrete ist nicht gefallen. Wir haben auch nicht über Kinsky gesprochen.
Der Präsident hat wortwörtlich erklärt, daß Sie partiell versucht haben festzustellen, welche Möglichkeiten zur Lösung bestimmten Unrechts, das bei uns entstanden ist, denkbar wären. Ist es dabei zum Beispiel um den Vorschlag des Vizepremiers Petr Mares um den Ausgleich des Unrechts an den tschechischen, nicht vertriebenen Deutschen gegangen?
Auch darüber wurde nicht gesprochen. In der Hauptsache sollte klar werden, daß niemand von uns der Meinung ist, daß das heutige Rechtssystem oder gar die Verfassung geändert werden sollte. Das ist eine sehr bedeutende Information zu den Themen der letzten Tage.
Was also weiter?
Es ist erforderlich, dem Recht seinen Verlauf zu lassen, geschehe, was geschehen soll.
Die Politiker sollten also in diese Angelegenheiten nicht eingreifen, wie bisher?
Es ist erforderlich, alles zu unterlassen, was auch nur den Eindruck eines direkten oder indirekten Einflusses [der Regierung] auf gleichwelchen Bestandteil unserer Justiz erwecken könnte. Was die Beneš-Dekrete betrifft, die kann kein einzelner Entscheid eines Gerichts durchbrechen. Das wäre schon die Angelegenheit des Gesetzgebers dadurch, daß er z.B. die gegebenen Datumsgrenzen änderte – und dies ist nicht geschehen. Unser nationales Interesse ist, daß in diesem Land zu Recht über einen Rechtsstaat gesprochen werden könne. Durch die Unabhängigkeit der einzelnen Gewalten.
Existiert in der Tat ein gesellschaftlicher Konsens zu den Fragen der Vergangenheit, auf den Sie sich am Mittwoch geeinigt haben?
Es ist möglich, darüber zu streiten, aber im Grundsatz ja. Er wurde deutlich in der tschechisch-deutschen Deklaration ausgedrückt, die unangreifbar ist. Eine Kontroverse ist immer möglich, aber es ist auch möglich zu sagen, daß ein gesellschaftlicher Konsens existiert.

Interview durch Johanna Grohova, DNES 2003-07-11 Seite A4

Leitartikel der Lidove Noviny 2003-07-11
Die Tschechische Republik zahlt erneut für langsame Gerichtsverfahren
Das Europäische Gericht hat dem Staat eine Entschädigung der Familie tschechischer Emigranten auferlegt.
Text von Martin Zeman:
Der Tschechische Staat hat sich eine weitere Portion Blamage beim Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte geholt. Hinter dem Problem steht wieder einmal die Unfähigkeit der inländischen Gerichte, die Gereichtigkeit in angemessener Zeit sicherzustellen.
Das Straßburger Tribunal hat gestern angeordnet, daß die tschechische Republik der Familie tschechischer Emigranten Jan und Jiri Hartmann 10.000 €uro bezahlen muß (also etwa 310.000 tschechische Kronen).
Die Brüder Hartmann, die nach 1948 aus der Tschechoslowakei emigrierten, haben das Tribunal mit der Beschwerde angerufen, daß die tschechischen Gerichte beinahe 10 Jahre zu einer Entscheidung über den Restitutionsanspruch zu vier Prager Häusern und Grundstücken in Mittelböhmen benötigt haben. Die Richter haben in ihrem Verdikt ausdrücklich auf die Tatsache hingewiesen, daß die tschechischen Kollegen nicht das hohe Alter der Brüder Hartman unberücksichtigt ließen.
Jan ist heute 77 Jahre alt, sein um ein Jahr älterer Bruder hat das Verdikt nicht mehr erlebt. Er verstarb im vergangenen Jahr. Die Satisfaktion im Höhe von 6000 €uro erhält sein Sohn. Jan Hartman erhält 4000 €uro. Darüberhinaus muß der Staat die Kosten des Gerichtsverfahrens in Höhe von 1500 €uro tragen.
Das gestrige Verdikt ist nicht der erste Fall, in dem das europäische Tribunal erkannt hat, daß die tschechischen Gerichte die Europäische Charta der Menschenrechte verletzt haben. Nach dieser hat ein jeder das Recht auf ein gerechtes Gerichtsverfahren in angemessener Frist. 
In Straßburg liegen darüberhinaus weitere 73 Klagen, bei denen, wie der tschechische Regierungsbeauftragte Vit Schorm informiert, „etwa vierzig Klagen aus Gründen der Dauer des Verfahrens gestellt wurden“. Wie Schorm weiter mitteilt, wird die bereits sprichwörtliche Trägheit der tschechischen Gerichte dazu führen, daß die Ergebnisse der Entscheide für die Tschechische Republik nicht sehr positiv ausfallen werden.
Wie damit in der Zukuft umzugehen?
„Die Gerichtsverfahren müssen schneller verlaufen. Es ist auch erforderlich, die Urteilsbegründung im Fall Hartman gründlich zu analysieren,“, so Schorm.
Bisher geschieht dies allerdings nicht. Im Januar z.B. hat Frau Dana Borankova als Klattau ihre Klage gewonnen. Sie wurde 1985 geschieden, die Gerichte waren allerdings seit dieser Zeit nicht in der Lage, die Eigentumsverhältnisse der Eheleute zu lösen. Ergebnis: die Tschechische Republik muß Frau Borankova 15.000 €uro bezahlen. Das Gericht hat befunden, daß das Verfahren sowohl „unter unbegründbaren Aufschüben“ litt als auch mit groben Mängeln und Fehlern behaftet war. Wobei zwischen zwei Folgeschritten zeitweise mehr als zwei Jahre vergangen sind.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seit 1993 zwölf Fälle entschieden, wobei in elf davon die tschechische Republik verloren hat und nur einen einzigen bisher gewonnen. Einmal konnte eine außergerichtliche Einigung erreicht werden und in zwei Fällen wurde die Klage zurückgezogen.

Danke, Hana! ML 2003-07-11

 

Aufruf der Redaktion an alle Leser!

Diese zeitnahen Berichte aus der tschechischen Presse, für die ich der „Mitteleuropa-Korrespondentin Hana“ von Herzen danke, können nicht mehr weit fortgesetzt werden, denn sie sind das Ergebnis eines arbeits- und erlebnisreichen Urlaubes in Karlsbad.
ABER: es gibt doch einige Leser und Stammgäste meiner Seite MITTELEUROPA, die in Tschechien zuhause sind, und andere, die auch dort Urlaub machen. Wäre es denn nicht möglich, daß andere in die Bresche springen und mit zeitnahen Berichten für die Aktualität unserer Nachrichten mitarbeiten?
Bitte haben Sie keine Angst vor Schreibfehlern, dafür arbeite ich mit. Nur kann ich, der ich leider ohne Kenntnisse der tschechischen Sprache aufwachsen mußte – oder durfte?? – nicht den Sinn von Presseverlautbarungen erfassen. In dieser Hinsicht muß ich mich auf meine Korrespondent(inn)en verlassen.

Darum sei hier der Aufruf gerichtet an alle Beobachter und Leser der tschechischen Presse: Berichten Sie für alle anderen Besucher unserer Netzseite MITTELEUROPA über alle wichtigen Pressemeldungen zu den Themen:
Diskussion um die Beneš-Dekrete, Restitutionen, Eingriffe der Tagespolitik in die Gerichtsbarkeit
Verzögerungstaktik der Gerichte bei Eigentumsstreitfällen
und andere Themen, die in unsere Netzseite passen.
In Hoffnung und Vorfreude auf rege Zuschriften grüße ich meine Leser sehr herzlich!
                    Markwart Lindenthal 2003-07-11.