Hamburger Abendblatt
Mittwoch, 20. Oktober 1993
Nr. 245 Seite 3

hab1993-10-20s3-1.jpg (95042 Byte) Karte: MICHAELIS
Von den ursprünglich 3,1 Millionen Sudetendeutschen leben heute noch etwa 150 000 auf tschechischem Boden.

Ein Denkmal spaltet Johannisbad
Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen. In einem kleinen nordböhmischen Kurort, wo vor 48 Jahren eine schreckliche Bluttat geschah, soll dies jetzt versucht werden.

Von DIRK R. GERHARD

„Wir sahen das Blut aus ihrer Brust spritzen“, die Stimme der alten Frau klingt rauh. Achtzig Jahre alt ist Frau T., die aus Angst vor tschechischen nationalistischen „Heimatkämpfern“ nicht will, daß wir ihren Namen nennen. Noch immer berührt sie das, was sie vor nunmehr 48 Jahren in dem nordböhmischen Ort Johannisbad (heute Janské Làzné) mitansehen mußte und woran sie jetzt durch die Diskussion um ein geplantes Denkmal für die ermordeten Sudetendeutschen wieder erinnert wird.

Damals, im Juni 1945, waren tschechische Milizionäre der „Roten Garde“ mit aufgepflanztem Bajonett in das Haus von Frau T. eingedrungen und hatten sie aufgefordert, zur Hinrichtung der Familie Schubert ins Zentrum des Ortes Johannisbad zu kommen. Alle Deutschen mußten sich auf dem Platz vor den Kolonnaden versammeln, bewacht von Partisanen mit schußbereiten Gewehren. Niemand durfte sprechen. Der alte Herr Schubert und seine 18jährige Tochter hätten in der Mitte des Platzes gekniet und gebetet. „Herta“, habe sie den alten Mann zu seiner Tochter sagen hören, „Herta, sei tapfer, du trittst heute vor deinen Schöpfer.“ Dann hätten die Partisanen den beiden in Kopf und Herz geschossen. Der Kommandeur sei vorgetreten und habe gesagt, so ergehe es allen, bei denen man etwas finde.

Gefunden hatte man bei den Schuberts „Familiensilber“, das Vater Schubert vor den umherstreifenden, wilden Partisanenverbänden retten wollte und wofür er eine Grube ausgehoben hatte. Außerdem hatte der alte Herr in die Grube die Jagdflinte eines Nachbarn und das Foto seines in Rußland gefallenen Sohnes gelegt. Auf dem Foto sei der Junge in Uniform zu sehen gewesen. Die Grube wurde gefunden und der alte Schubert wegen der Flinte und des Fotos zum „Werwolf“ gemacht, zum verkappten Nazipartisanen.

In Wahrheit seien die Schuberts, so erzählt Frau T., fromme Adventisten gewesen, keine Nazis, liebenswerte Menschen, die keinem etwas zuleide getan hätten, die in Frieden mit allen ihren Nachbarn lebten. Die Frau und den jüngsten Sohn hatte man schon vorher, vermutlich beim Verhör und um den Alten unter Druck zu setzen, erschossen. Offiziell habe es geheißen, die beiden hätten „Selbstmord“ begangen, was aber bei Adventisten aus religiösen Gründen abwegig sei.

Jetzt möchte ein deutscher Arzt aus Oranienburg, dessen Familie 1945 „ausgesiedelt“ worden war, im Namen der ehemaligen Bürger des nordböhmischen Kurortes den damals getöteten Deutschen ein Denkmal errichten. Seine Bitte, die er 1992 an den neugewählten Rat der Gemeinde richtete, löste in dem kleinen Ort in der Nähe von Trautenau (Nordostböhmen) eine Art Erdbeben aus.

hab1993-10-20s3-2.jpg (111108 Byte)

Die Front der Gegner wurde angeführt vom ehemaligen kommunistischen Bürgermeister Josef Burda. Es wurde vorgebracht, es gebe keine stichhaltigen Beweise für das Verbrechen. In der Tat sind die tschechischen Dokumente in den 60er Jahren unter dubiosen Umständen verschwunden, und die wenigen Deutschen, die in Johannisbad noch lebten, wagten zunächst nicht, sich öffentlich zu erinnern. Der neue Bürgermeister, Vacav Nemec, bat daher den Antragsteller aus Deutschland, die Gründe für seinen Antrag glaubhaft zu belegen. Das geschah. Vaclav Nemec erhielt eine eidesstattliche Erklärung des ehemaligen Johannisbader Totengräbers Rudolf Renner, der von mindestens 14 ermordeten Deutschen sprach, die im Juni 1945 von der „Roten Garde“ umgebracht wurden. Darunter auch 13- bis 14jährige Kinder in der Uniform der Hitler-Jugend.

Diese Kinder, so erinnert sich der in Johannisbad verbliebene Alois T., lebten in einem Heim der Kinderlandverschickung. Ihre Eltern waren Opfer alliierter Luftangriffe geworden. Nach dem Zusammenbruch des Naziregimes waren ihre Erzieher aus dem Heim geflohen und hatten die Kinder ihrem ungewissen Schicksal überlassen. Alois T. erinnert sich, daß die Kinder oft halb verhungert gewesen seien. Aber seine Warnung, die Wälder zu meiden, weil dort marodierende, selbsternannte Partisaneneinheiten der Tschechen umherstreiften, fruchteten nichts. Die Kinder wollten nichts anderes als nach Hause. Alois T. glaubt noch heute, daß in den Wäldern rings um Johannisbad Dutzende Leichen von Kindern aus ehemaligen Landverschickungsheimen liegen.

Dies wird zwar nie mehr aufzuklären sein. Für Vaclav Nemec jedoch reichten die eidesstattlichen Versicherungen der ehemaligen Sudetendeutschen, um die Sache erneut dem Stadtrat vorzulegen. Für ihn, so sagt er, sei die Frage des Denkmals für die Ermordeten in erster Linie eine humanitäre Frage. Natürlich wisse er, daß damit auch alte Wunden aufgerissen würden. Aber in jedem zivilisierten Land sei eine solche Geste eine Selbstverständlichkeit. Er könne auch verstehen, daß die Sache für die ehemaligen Einwohner des Kurortes eine Herzensangelegenheit sei. Erst die Kontroverse habe ein Politikum daraus gemacht.

Vavlav Nemec läßt keinen Zweifel aufkommen, daß es ihm mit Demokratie und Menschenrechten ernst ist. Da war es nur konsequent, als er nach einem erneuten Patt bei der Abstimmung im Rat den Vorschlag einbrachte, eine Volksabstimmung durchzuführen. In öffentlichen Bekanntmachungen ließ er seinen 707 wahlberechtigten Mitbürgern die Frage vorlegen, ob sie wollten, daß den Deutschen ein Gedenkkreuz mit der Aufschrift „Den Opfern des Juni 1945“ errichtet werde. Die überraschende Antwort: Eine Mehrheit von 56 Prozent beantwortete die Frage mit Ja.

Zur selben Stunde, da wir mit Nemec sprechen, bittet ein deutsches Ehepaar aus Lennep, bei ihm vorsprechen zu dürfen. Sie haben in ihrer Zeitung eine Meldung über das Gedenkkreuz gelesen. Beide haben sofort die Gelegenheit genutzt, um in ihr, wie sie es nennen, geliebtes Janské Làzné, zu reisen. Sie wollen bei der Einweihung dabei sein. Ein wenig enttäuscht nehmen sie zur Kenntnis, daß diese noch nicht ansteht.

Beiden liegt daran, dem Bürgermeister zu versichern, daß sie hier im Ort viele tschechische Freunde im Laufe von sechs Jahren gefunden haben. Es stellt sich heraus, daß beide während des Krieges als Kinder im ehemaligen „Haus Abendstern“ in Landverschickung waren.

Sicher, erwidert Vaclav Nemec, an diesem Ort hängen viele Erinnerungen vieler Deutscher. Achtzig Prozent der Einwohner waren einst deutsch. Doch dann erinnert er auch an den deutschen Juden und tschechischen Staatsbürger Gutmann, dem damals in Johannisbad drei Hotels gehörten. Herr Gutmann sei einer von nur zwei Juden aus Johannisbad, die den Holocaust überlebt hätten. Alle anderen seien ermordet worden. Dessen Meinung hinsichtlich der Errichtung des Mahnmals für die Deutschen hätte er gern eingeholt. Doch Herr Gutmann sei alt und krank. Außerdem lebe er seit 1948, dem Jahr der kommunistischen Verstaatlichung in der CSSR, in Lateinamerika.

Vor einigen Jahren habe Gutmann zwei seiner Hotels zurückerhalten, das dritte sei in den Sechzigern abgerissen worden. Dieser Herr Gutmann habe trotz des kommunistischen Unrechts das Herz gehabt, sein ehemaliges Eigentum in eine gemeinnützige Stiftung zum Wohle der Stadt einzubringen. Hingegen gebe es bei den Sudetendeutschen die ersten Anzeichen dafür, daß sie wieder Ansprüche auf ihre Häuser erheben. Solche Ansprüche verschärften die Situation ganz erheblich zwischen Tschechen und Deutschen. Was er bei den Deutschen vermisse, sei die Fähigkeit, sich in die Gefühle der heutigen Tschechen einzufinden. Die brutale Vertreibung für ein Verbrechen zu halten, sei das eine, aber wer jetzt lautstark Forderungen stelle – und seien sie noch so berechtigt –, bei dem bezweifle er den echten Willen zur Versöhnung. Die Frage nach einer Entschädigung könne doch erst am Ende eines Versöhnungsprozesses stehen, nicht am Anfang.

Hans S. aus Lennep ist den Ausführungen des Bürgermeisters nachdenklich und still gefolgt. Dann sagt er unvermittelt: „Das Kreuz, das sollte doch Versöhnung stiften, nicht trennen. Daraus soll doch keiner Kapital schlagen.“ Zweifel daran hat jedoch Josef Burda, der ehemalige kommunistische Bürgermeister des Kurortes. Nein, sagt er, er glaube nicht, daß er verständlich machen könne, was ihn und die Menschen seiner Generation bewogen habe, gegen die Errichtung des Kreuzes zu stimmen. Er stehe jetzt doch als eine Art Menschenfeind in der Offentlichkeit. Noch dazu, wo er überzeugter Kommunist gewesen sei. Josef Burda wirkt fast traurig, bitter und müde.

Der 29. September 1938 sei für viele ältere Tschechen noch immer ein traumatisches Datum. In der Tschechoslowakei habe doch Demokratie und Freiheit geherrscht, wenn man damals auch nicht ganz gerecht zu den Deutschen gewesen sei. Aber die Sudetendeutschen hätten ja Hitlers Sklavenstaat der relativen tschechischen Freiheit vorgezogen. Sie hätten damals ihre Chance gehabt, Freiheit und Menschenrechte gegen die Diktatur zu verteidigen, doch sie seien lieber Anti-Tschechen gewesen als Verteidiger einer gemeinsamen Freiheit. Die Folge sei die Vertreibung von 1945 gewesen. Und wer garantiere, daß ihnen in Zukunft die Freiheit und Loyalität zur Republik Ceska wichtiger sein werde als ihre völkischen Sehnsüchte?

Er sei nicht antideutsch, er sei nur dafür, daß die tschechische Mehrheit auf ihrem eigenen Territorium nicht noch mal dem imperialen Anspruch eines großen Nachbarn zum Opfer falle. Es sieht so aus, als glaube der alte Herr Burda nicht recht, daß die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt hätten. Und mit ihm viele ältere Tschechen. Ob das nur ein Resultat kommunistischer Feindbildpropaganda ist, das können nur die Deutschen selbst beweisen.

Kritik zu Karte und Unterschrift:
Als die Sudetendeutschen noch nicht aus ihrer Heimat vertrieben waren, siedelten sie nicht auf tschechischem, sondern auf deutschem Boden. Tschechen und Deutsche teilten sich den Boden Böhmens und Mährens. Die Deutschen hatten sich ihre Siedlungsgebiete selbst gerodet und urbar gemacht, sie hatten sie nicht von den Tschechen gestohlen.
Und damals reichte „Polen“ nicht bis zur Lausitzer Neiße, sondern berührte Böhmen überhaupt nicht, und Mähren nur am östlichsten Zipfel, nämlich an den zwischen Polen und Tschechen heiß umkämpften Hultschiner Ländchen und Mährisch Ostrau.

Erläuterungen und Kritik zum Text:
Johannisbad liegt ca 10 km nordwestlich von Trautenau. Es hatte in den Dreißigerjahren 294 Einwohner, davon 276 (=94%) Deutsche. Daß Johannisbad in Böhmen liegt, ist unbestritten. Wer da behauptet, daß es auf tschechischem Boden liege, der lügt. Die Sudetendeutschen waren seit der gewaltsamen Besetzung ihrer Heimatländer durch das tschechische Militär nicht mehr Herr im eigenen Hause. Sie wollten aber nicht Bürger zweiter Klasse sein in einem Staat, der die nationalen Interessen eines Drittels seiner Bevölkerung mißachtete. Im September 1938 empfanden sie den Anschluß an das Deutsche Reich, zu dem die Prager Regierung durch England und Frankreich aufgrund der Beurteilung der tschechischen Mißhandlung der Sudetendeutschen (siehe Bericht des Lord Runciman) gezwungen wurde und dessen Durchführung  im Münchner Abkommen geregelt wurde, als Erlösung vom tschechischen Joch. Ab die Sudetendeutschen es innerhalb des „Großdeutschen Reiches“ besser hatten als in der CSR, das geht die Tschechen nichts an. Sie nachher mit Mord und Vertreibung dafür zu bestrafen, daß sie Deutsche bleiben wollten, steht ihnen nicht an. Geradezu lächerlich ist da die Rede vom Kommunistenbürgermeister Burda, die tschechische Mehrheit müßte Angst haben darum, in ihrem eigenen Territorium fremdbestimmt zu werden. Sind 6 % die Mehrheit oder 94%?
ML 2004-01-04.