Rudolf Grulich
NICHT GENUTZTE ANSÄTZE UND CHANCEN DEUTSCH-TSCHECHISCHER VERSÖHNUNG

Wenn sich am 5. August 2000 die Charta der Vertriebenen zum 50. Male jährt, wird hoffentlich bis dahin bei Gedenkveranstaltungen mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, welche Bedeutung dieses Dokument für den Weltfrieden hatte. Ohne den damals klar ausgesprochenen Verzicht auf Rache und Vergeltung hätte es in Mitteleuropa sicher palästinensische Verhältnisse, aber keinen Wiederaufbau und keinen dauernden Frieden gegeben.

Einen Tag vor der Verabschiedung der Charta der Vertriebenen in Bad Canstatt unterzeichneten am 4. August in Wiesbaden tschechische und sudetendeutsche Politiker – beide Gruppen lebten im erzwungenen Exil – das Wiesbadener Abkommen, um das es leider seit der Wende 1989 sehr still geworden ist.

Die Betrachtung dieses Abkommens kann Ausgangspunkt sein um aufzuzeigen, welchen hoffnungsvollen Ansatzpunkt dieses deutscht-schechische Übereinkommen bot, dessen Grundlage für eine echte, tiefgehende Aussöhnung von Deutschen und Tschechen aber nicht genutzt wurde.

1. General Prchala bittet um Verzeihung
Bis heute heißt es, Präsident Vaclav Havel sei der erste führende Tscheche gewesen, der sich Anfang des Jahres 1990 bei den Sudetendeutschen entschuldigt habe. Tatsächlich hatte er damals erklärt, er habe „wie viele seiner Freunde die Vertreibung der Sudetendeutschen stets als zutiefst unmoralische Tat betrachtet“.

Mit dem Wiesbadener Abkommen können wir aber auf ein auch von Tschechen unterschriebenes Dokument zurückgreifen, das vier Jahrzehnte älter ist und viel weitergeht als das Bedauern Havels. Einen Tag vor der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ am 4. August 1950 hatten in Wiesbaden der Vorsitzende des 1940 in London gegründeten „Tschechischen Nationalausschusses,“ der im Exil lebende General Lev Prchala, und sein Landsmann Vladimir Pekelsky zusammen mit den Sudetendeutschen Dr. Rudolf Lodgman von Auen, Dr. Richard Reitzner und Hans Schütz dieses „Wiesbadener Abkommen“ unterzeichnet.

Es war ein unerhörter, Aufsehen bei Gut- wie bei Bösgesinnten erregender Vorgang, daß hier Vertreter zweier miteinander verfeindeter Völker aus demokratischer Weltanschauung heraus einander die Hand reichten unter Ablehnung einer Kollektivschuld und des aus ihr fließenden Rachegedankens und mit Blick auf ein einhaltliches Europa!“ stellt dazu Rudolf Ohlbaum fest.

General Lev Prchala war 1892 in Schlesisch-Ostrau als Sohn eines Bergmannes geboren und hatte das Gymnasium in Friedeck besucht. Er begann das Theologiestudium an der 1899 gegründeten Philosophisch-Theologischen Hochschule des Bistums Breslau im östereichisch-schlesischen Weidenau, brach es aber ab und machte sein Einjährigen-Freiwilligenjahr beim kuk. Infanterieregirnent Nr. 13. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er als Kommandant einer Maschinengewehrabteilung an der russischen Front, geriet 1916 in Gefangenschaft und schloß sich in Rußland den Tschechischen Legionären an, wo er bei Kriegsende eine Division kommandierte. Nach seiner Rückkehr in die nun unabhängig gewordene Heimat studierte er an der Militärakademie in St. Cyr und diente bis zum Ende der Ersten Tschechoslowakischen Republik in hohen Posten der Armee. 1939 führte er die Evakuierung der an Ungarn abgetretenen Karpaten-Ukraine durch, verließ die CSR und kämpfte seit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit einer Tschechischen Legion in der Polnischen Armee aktiv gegen die Deutsche Wehrmacht.

Nach der Niederlage Polens emigrierte er über Frankreich nach England. Hier widersetzte er sich den schon damals erarbeiteten Vertreibungspläncn des Exil-Ministerpräsidenten Beneš und gündete den Tschechischen Nationalausschuß.

1945 kehrte er nicht mehr in die Tschechoslowakei zurück, da er schon damals die katastrophalen Folgen der Beneš-Politik und die kommunistische Machtergreifung voraussah.

Noch weniger bekannt als die Existenz des von ihm unterzeichnete Wiesbadener Abkommens ist der Inhalt dieses Dokumentes, das Frieden und Versöhnung beider Völker in Freiheit will. Wir bringen seinen Wortlaut im Anhang.

Bedeutsam ist auch, daß noch im gleichen Jahr 1950 die sudetendeutsche Frage auf dem Programm der Weltkonferenz für moralische Aufrüstung im Schweizer Caux stand, die „1600 Teilnehmer aus 21 Nationen auf dem traditionell neutralen Schweizer Boden zusammengeführt“ hatte.

Heute kennt kaum noch jemand diese einst bedeutsame Institution.

Im Mittelpunkt der Tagung in Caux stand eben dieses sudetendeutsch-tschechische Abkommen vom 4. August 1950. Für die im Ausland lebenden Sudetendeutschen sprach in Caux auch der Präsident des Anglo-Sudetenclubs in London, Rudolf Storch. Er hatte beim Zustandekommen der Gespräche in Wiesbaden die entscheidende vorbereitende Rolle gespielt, worüber er in der Hans-Schütz-Festschrift berichtet.

Für die Tschechen war General Prchala selbst nach Caux gekommen, der das Abkommen erläuterte und erklärte:
Ich fühle mich verpflichtet, die Sünden, die mein Volk gegenüber dem Nachbarvolk begangen hat, nicht zur zu bekennen, ich möchte mich bei meinen sudetendeutschen Freunden dafür entschuldigen, besonders für das Unrecht, das wir Tschechen ihnen angetan haben. Ich verspreche, alles zu tun, um den Schaden, den wir ihnen zugefiügt haben, wiedergutzumachen und mit ihnen eine bessere und glücklicherer Zukunft im Geiste von Caux aufzubauen.


Im Bericht über die Tagung heißt es:
„In Vertretung Dr. Logman von Auens, der der Einladung wegen Paßschwierigkeiten nicht hatte Folge leisten können, sprach im Namen derArbeitsgemeinschaft zur Wahrung sudetendeutscher Interessen Dr. Wilhelm Turnwald, dessen Rede die Zuhörer aus aller Welt aufs Tiefste ergriff. Als er geendet hatte und mit General Prchala einen Händedruck wechselte, begleitete tosender Beifall diese Geste. Nannte Dr. Turnwald das Abkommen eine revolutionäre Tat, so wurde es von den offiziellen Sprechern de Bewegung für moralische Aufrüstung als ein geistiges Kind von Caux bezeichnet.“

In Caux hatten übrigens bereits Ende August 1949 zwei Sudetendeutsche, der Augustinerpater Paulus Sladek und der christdemokratische Politiker Hans Schütz, die Gelegenheit gehabt, über die Tragödie der Vertreibung zu sprechen. Aus den dort gemachten Erfahrungen war dann auch die Eichstätter Erklärung der Ackermann-Gemeinde vom 27. November 1949 entstanden, die Bundeskanzler Adenauer am 14. Dezember des gleichen Jahres „richtig und sehr gut“ nannte.

Gegen das Wiesbadener Abkommen gab es von tschechischer Seite wüste Hetze, auch im katholischen Exil. Aber es schrieb im sudetendeutschen „Volksboten“ auch ein tschechischer Exilpolitiker von einem „verheißungsvollen Anfang« und erklärte:
Es wird an uns Tschechen liegen, den nächsten Schritt in dieser Richtung zu tun.“

Lev Prchala, den die Prager Presse als faschistischen Emigrantengeneral bezeichnete, wurde auch im Ausland systematisch verleumdet, da die tschechische Emigration von Benešisten beherrscht war, aber er ging seinen Weg der Versöhnung konsequent weiter.

Am 29. Juli 1951 sprach er bei einer Kundgebung in Königstein und erklärte Inhalt und Sinn des Wiesbadener Abkommens. Alle vorher geäußerten Befürchtungen, es könne zu Unmutsbekundungen von Vertriebenen gegen einen hochkarätigen tschechischen Redner kommen, waren unbegründet, denn Prchala lehnte ein Europa des Hasses ab und rief nach einem neuen freien und gerechten Europa.
Wörtlich sagte er:
Allen Schwierigkeiten zum Trotz ist es unsere heilige Pflicht, auch weiterhin für die Freiheit der Menschen, für das Recht der Völker auf ihr Selbstbestinimungsrecht, für eine freiwillige Föderation der Völker Europas und damit für eine freie und glückliche Heimat zu kämpfen. Unseren Kampf führen wir im Geiste tausendjähriger christlicher Tradition und Verpflichtung nicht nur unseres Volkes, sondern des gesamten Abendlandes. In Europa haben wir Platz genug, wenn wir nur als Europäer denken und wenn wir wie zivilisierte Menschen handeln. Jedem das Recht auf seine Heimat anzuerkennen, ist eine der ersten Vorbedingungen eines solchen Denkens und Handelns. Denn das ist Recht und das ist Moral. Und wo Moral und Recht herrschen, dort wird auch Frieden sein.
Frieden unter den Menschen,
Frieden unter den Völkern.

Vier Jahre später sprach Lev Prchala 1955 zu Pfingsten auf dem Sudetendeutschen Tag in Nürnberg:

Als Mensch und Europäer verurteile ich die Verbrechen, die 1945 an den Sudetendeutschen begangen wurden. Als Tscheche und Christ fühle ich mich verpflichtet, Sie, sudetendeutscheMänner und Frauen, um Verzeihung zu bitten. Dies tue ich aus freiem Willen, ohne Furcht und Zwang...

Er ging in seiner Rede auch auf das Wiesbadener Abkommen ein und sprach von einem „weiten und schweren Weg, voll von Hindernissen und Gefahren. Aber wir werden und müssen ihn gehen, vor allein wir Tschechen, wenn das tschechische Volk wieder ein vollwertiges Mitglied eines freien, christlichen und demokratischen Europa werden will.“

Bis heute ist Prchala in seiner tschechische Heimat nicht nur unbekannt, sondern totgeschwiegen, auch von der Kirche.

Im gleichen Jahr antwortete im August 1955 bei einer Feldmesse im bayerischen Grenzdorf Haidmühle in Sichtweite der tschechischen Grenze der sudetendeutsche Augustinerpater Paulus Sladek. Dort hatte im Rahmen einer Veranstaltung der Ackermanngemeinde ein geflohener tschechischer Priester die Messe zelebriert, zu der im Rahmen der Passauer Jahrestagung der Ackermann-Gemeinde über 1000 Menschen, Deutsche und Tschechen, gekommen waren. Die Predigt hielt Pater Paulus, der tschechisch begann: „Mily bratre v Christu – lieber Bruder in Christus“ und dann auf Prchala Bezug nahm: „Einer deines Volkes – General Prchala – hat zu Pfingsten vor Hunderttausenden ein Schuldbekenntnis gesprochen. Das muß ein Zeichen finden auch bei uns.
Wir bekennen heute unsere Schuld. Auch für das, was euch von Menschen angetan wurde, die nicht aus unserer Heimat stammen.
Wir sind schuldig geworden durch Geringschätzung, durch Verachtung, wir haben immer eure Dienste wie eine Selbstverständlichkeii angenommen, euch oft in Gedanken zum bloßen Dienstbotenvolk gemacht und waren oft nicht bereit, euch als vollwertig anzuerkennen. Wir waren blind für den Aufstieg eures Volkes im vorigen Jahrhundert. Wir wissen, es tötet auch der, der im Geiste tötet. Und die Verachtung eines Menscheu und eines Völkes tötet im Geist. Wir haben kein Recht zu dem armseligen Handel, den es gibt: daß wir einander die Toten vorrechnen und daß wir meinen, wir wären die Besseren, weil die Zahl der Erschlagenen auf unserer Seite größer ist in unserer Generation. Bruder in Christus, nimm unser Confitor an, das wir stellvertretend für unsere ganze Volksgruppe, für unser ganzes Volk sprechen, und nimm die Schuld unserer beiden Völker hinein in das heilige Opfer – die Schuld, die auf uns lastet.
Es bleibt aber unser Recht, die Hoffnung auf Wiederguhnachung, die Hoffnung auf Heimat.

Auf tschechischer Seite war es Premysl Pitter, damals evangelischer Lagerpfarrer im Valkalager bei Nürnberg, der in seinen Predigten bei BBC die „Worte eines sudetendeutschen Christen“ würdigte und auch die Vertreibung 1945 als den Verbrechen der Nazis vergleichbar nannte. Am 25. Dezember zitierte er Pater Paulus' Rede von Haidmühle im „BBC Sunday Talk“ in tschechischer Sprache und fügte hinzu:

So sprach ein sudetendeutscher Christ zu den Gläubigen seines Volkes. Dieserr Ton erklingt auch aus dem Munde anderer wahrhaftiger Christen unter unseren früherenAltbürgern. – Wie muß nun unsere Antwort auf dieses Bekenntnis klingen, damit sie wahrhaft christlich, im Geiste Christi sei. Überlegt das, ich bitte euch, und vielleicht kommt ihr dabei zu der Erkenntnis, daß Gott unserem Volk die Freiheit deswegen genommen hat, weil wir diese nicht richtig gewertet haben, weil wir sie nicht richtig benützen konnten und weil wir sie nicht int gleichen Maße anderen gegönnt haben und insbesondere, weil wir nach dem Zweiten Weltkrieg den Leidenschaften freien Durchzug gegeben haben, welche in ihren Auswirkungen nicht geringer waren als die Verbrechen der Nazisten. Vor Gott haben wir alle gesündigt, und mit Recht hat uns alle eine Strafe getroffen. Das ist das erste, dessen wir uns bewußt werden müssen. Das zweite: Gott um Verzeihung bitten mit dem besten Vorsatz, von neuem zu beginnen in seinem Geiste und mit seiner Hilfe. – Die Last der Sünden ruht auf uns allen, auf der ganzen Menschheil. Finden wir einen Weg zu Christus, werden wir auch einen Weg zueinander finden, und uns wird verziehen werden.

Sonst schwieg man in tschechischen katholischen Exilkreisen. Immer wieder mußten sudetendeutsche Priester feststellen, daß bei gemeinsamen Treffen in Königstein und Brannenburg, zu denen Prälat Kindermann auch tschechische Priester eingeladen hatte, die tschechischen Mitbrüder nur die Exzesse der Vertreibung, nicht aber diese Vertreibung selbst bedauerlich fanden.

Am weitesten ging noch der in Haidmühle anwesende tschechische Priester Dr. Alexander Heidler. Er stellte in einem in Rom erscheinenden Blatt für tschechische Exil-Priester 1956 fest, der Friede zwischen Deutschen und Tschechen sei ein großes Problem:
„Über diese Tatsache sollten wir tschechischen Priester nachdenken. Außer einigen persönlichen Handlungen fand sich bei uns tschechischen Katholiken von einer solchen Bemühung um den Frieden Christi seitdem Jahre 1945 keine Spur. Es ist sehr wahrscheinlich, daß wir in der Praxis kaum hätten viel ändern können, aber wir haben die seltene Gelegenheit zur Abgabe eines christlichen Zeugnisses vertan... Und doch bleibt die Bergpredigt ständig in Gültigkeit, und es bleibt weiterhin die Aufabe des Priesters und des Christen überhaupt, gegen den Haß auf beiden Seiten zu kämpfen und einen gerechten Frieden zu suchen.“

2. Eine verpaßte Chance: Die Zeit nach Kardinal Berans Freilassung
Während General Prchala seinen Weg weiterging und vielen Sudetendeutschen durch seine Teilnahme an sudetendeutschen Tagen in Erinnerung geblieben ist, tat sich wenig auf tschechischer kirchlicher Seite. Dies zeigt insbesondere die Diskussion um den Prager Erzbischof Kardinal Josef Beran, als dieser von den kommunistischen Behörden freigelassen wurde und in Rom seinen Lebensabend verbrachte.

Beran war 1938 Regens des Prager Priesterseminars gewesen, in dem bis dahin deutsche und tschechische Theologiestudenten gemeinsam wohnten, während sie die Vorlesungen auf zwei verschiedenen Theologischen Fakultäten zweier Universitäten – der tschechischen Karls-Universität und der Deutschen Universität in Prag – besuchten. Im Zweiten Weltkrieg war Beran in Dachau inhaftiert. 1946 wurde er zum Erzbischof von Prag ernannt, wo der erzbischöfliche Stuhl seit dem Tode von Kardinal Kaspar 1942 vakant war.

Viele Sudetendeutsche wußten, daß der neuernannte Erzbischof Beran 1947 in einem Interview mit der Schweizer Zeitung „Die Tat“ die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei als „imperative Notwendigkeit“ gebilligt hatte. Viele antideutsche Zitate Berans wurden in sudetendeutschen Kreisen weitergegeben. Nicht alle halten genauen Nachprüfungen ihrer Historizität stand, doch auch ein renommierter Historiker wie Friedrich Prinz spricht in seiner Geschichte von Böhmen und Mähren von der antideutschen Einstellung des Erzbischofs und seiner Zustimmung für die Vertreibung:

Verurteilt werden müssen aber auch die erschreckend unmenschlichen Stellungnahmen des Prager Erzbischofs.Josef Beran wie des katholischen Parteiführers Jan Šamek zur Vertreibung der Sudetendeutschen; sie sind durch nichts zu entschuldigen.

Nach seiner Ankunft im Westen konnte sich Beran an das Interview mit der „Tat“ nicht mehr erinnern oder meinte bei Fragen danach, der Schweizer Journalist habe ihn falsch verstanden. Aber es ist interessant: Beran bestritt zwar seine Rechtfertigung der Vertreibung, verurteilte diese als Unrecht in se nicht. Auch sudetendeutsche Katholiken und Priester, die bis dahin klar Berans Haltung zur Vertreibung verurteilt hatten, verstummten nun in der Nähe des Bekenner-Kardinals. Nach seiner Leidenszeit unter den Kommunisten ließ man die Vergangenheit ruhen. Sein Besuch in Deutschland war eher ein Triumphzug, als daß man ihm kritische Fragen gestellt hätte.

Statt damals ehrlich über die Jahre 1945/46 zu reden, legte man das Fundament des später von Prag aus eingeleiteten Seligsprechungsprozesses, der heute viele Sudetendeutsche verbittert, die in den Jahren 1945 und 1946 viele antideutsche Aussagen des späteren Kardinals kannten.

Dabei zeigt die Haltung Berans von 1945 bis 1948 die ganze Tragik dieses Mannes. Während General Prchala bereits in London sah, wozu die Anbiederung von Beneš bei Stalin führen mußte, verharmloste Beran noch 1947 in dem „Tat“-Interview die kommunistische Gefahr, ja ließ 1948 nach dem Putsch der Kommunisten noch im Veitsdom ein Te Deum zur Wahl des neuen kommunistischen Präsidenten singen.

Der von der tschechischen Kirche in Angriff genommene Seligsprechungsprozeß für Beran ist deshalb ein echtes Ärgernis für viele sudetendeutsche Katholiken, ja könnte in einer weniger säkularisierten Zeit (ähnlich wie auch bei Schlesiern und Ermländern die beabsichtigte Seligsprechung des polnischen Primas und Kardinals Augustin Hlond) zu einer neuen „Los von Rom“-Bewegung unter den Sudetendeutschen führen.

Wenn für einen Diener Gottes und zukünftigen Seligen der „heroische Grad der Tugenden“ festgestellt werden muß, so ist dies für die vier Kardinaltugenden bei einem Diener Gottes Josef Beran sehr schwer!

Die prudentia (Klugheit) ließ er im Falle seiner Einschätzung der Kommunisten 1945 bis 1948 (!) vermissen.

Die fortitudo (Tapferkeit) war nie seine Stärke. Schon als Seminar-Regens sicherte er sich im schwierigen Jahr 1938 stets bei den Obrigkeiten ab.

Bei Besuchen im sudetendeutschen Grenzland 1946 /47 und vorher in Gefängnissen, in denen Deutsche schmachteten, wagte er kein mutiges Wort und verstieß so auch gegen die iustitia (Gerechtigkeit).

Hätte er die Kardinaltugend der temperantia (Mäßigkeit) besessen, hätte er sich als tschechischer Nationalist gemäßigt.

Nach der Freilassung Berans und seiner letzten Lebenszeit im Ausland wurde also eine Chance vertan, durch offene Gespräche im christlichen Geist zu einer gerechten, ehrlichen Beurteilung der Nachkriegszeit zu kommen.

3. Wenig Vergangenheitsbewältigung nach der Wende
Bald nach der Samtenen Revolution vom November 1989 bat Vaclav Havel als Dissident und nun führender tschechischer Politiker vom Unrecht der Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei gesprochen. Auch die tschechischen und slowakischen Bischöfe taten dies noch im gleichen Jahr in ihrem Brief vom 5. September 1990 an die deutschen Amtsbrüder. Sie zeigten „Bedauern über die Austreibung der Deutschen aus ihrer Heiniat, wobei das ungerechte Prinzip der Kollektivstrafe angewandt wurde. Hierbei wurden schuldlose Menschen, unter ihnen viele Gläubige und eine Reihe von Priestern, betroffen.“

Dieses „Bedauern“ von 1990 genügt bis heute den meisten deutsch-tschechischen Gesprächspartnern. Aber was heißt: „Viele Gläubige“? Was bedeutet: „Eine Reihe von Priestern“? Sind dahinter die Dimensionen von drei Millionen Katholiken, 1600 sudetendeutschen Priestern und 2800 Ordensfrauen ersichtlich, als mit der Vertreibung ganze Dekanate vernichtet und in allen Diözesen der böhmischen Länder pastorale Ruinenfelder hinterlassen wurden?

Niemand will schmälern, was seit 1990 an Begegnung,Verständigung und Hilfe geschah. Die dabei Beteiligten schmerzt aber, daß die echte Aufarbeitung der Vertreibung meist ausgeklammert wurde.

Die Vertreibung ist in Tschechien oft noch ein Tabu oder wird für richtig angesehen, leider auch in kirchlichen Kreisen. Schuld an allem waren nur die Kommunisten, die aber erst 1948 an die Regierung kamen.

Noch lange nicht haben die Kirchenführer Tschechiens anerkannt, welchen Schaden die Vertreibung der zu über 90% katholischen Sudetendeutschen für die gesamte Kirche Böhmens und Mährens bedeutete. Die Diözese Leitmeritz verlor über 70% ihrer Katholiken. In den übrigen Diözesen schwankte der Anteil der Deutschen zwischen einem knappen Fünftel (Brünn) und einem Drittel der Katholikenzahl (Prag). In allen vier böhmischen Diözesen (Prag, Leitmeritz Königgrätz, Budweis) und den zwei mährischen (Olmütz, Brünn) hatte der Prozentsatz der Deutschen an der Katholikenzahl höher gelegen als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung.

Das lag daran, daß die Katholische Kirche nach dem Ersten Weltkrieg unter den Tschechen durch Massenaustritte und Übertritte zur Tschechoslowakischen Kirche große Verluste erlitten hatte. Nach der Volkszählung von 1921 bekannten sich 724.000 Staatsbürger als bekenntnislos, 523.333 als Angehörige der tschechoslowakischen Kirche. Zum größten Teil waren es Tschechen. Damals ging der Anteil der Katliolischen Kirche in manchen politischen Bezirken rapide zurück: Im Bezirk Rakonitz z.B. von 98,58% auf 37,11%. Die Tschechoslowakische Kirche machte hier 29,93% aus, die Konfessionslosen 31,42%.

Die deutschen Katholiken waren von dieser Austrittswelle kaum betroffen. Auch die Nazis hatten wenig Erfolge bei ihrer Werbung zwischen 1938 und 1945 für die Kirchenaustritte im Sudetenland verbuchen können.

Der Hinweis der tschechischen und slowakischen Bischöfe in ihrem Brief vom 5. September 1990 von „schuldlosen Menschen, darunter viele Gläubige und eine Reihe von Priestern“ ist bei der Gläubigenzahl von drei Millionen und einer Zahl von 1.600 Priestern doch sehr verharmlosend.

Die Vertreibung der Deutschen traf die Kirche hart, da in sehr vielen Fällen die tschechischen Katholiken die Lücke nicht schließen konnten. Anders als in den deutschen Ostgebieten, wohin eine Million Polen aus den Gebieten östlich der Curzon-Linie kamen, hatte die Tschechoslowakei nur 20.000 aus der UdSSR repartierte Wolhynien-Tschechen zur Ansiedlung, dazu Zigeuner aus der Slowakei und Glücksritter mit Wild-West-Mentalität, die nicht gerade enge Bindungen zur Kirche hatten.

Unter diesem Blickwinkel muß man heute auch manche statistischen Angaben über Priestermangel und andere Probleme betrachten.

Dabei soll nicht beschönigt werden, was 40 Jahre kommunistischer Herrschaft anrichteten. Aber ebensowenig kann die schwierige Lage der Kirche nur den Kommunisten angelastet werden.

Wenn heute die südböhmische Diözese Budweis für 432 Pfarreien nur 130 Priester zählt, so ist dies erschreckend, aber das Bild ändert sich, wenn man durch die Vertreibung bedingten Strukturen des Bistums betrachtet.

Ein Viertel der Diözesanen waren Deutsche gewesen, die man mit 200 Priestern vertrieben hatte. Von den kirchenrechtlich bestehenden 432 Pfarreien sind 13 völlig verschwunden, in 28 anderen liegt die Zahl der Einwohner (nicht der Katholiken) unter 200, z.T. beträgt sie nur 9 oder 11 Menschen wie in Deutsch-Reichenau, das vor 1945 über 2000 Katholiken zählte oder in Stein im Böhmerwald, wo es vor dem Krieg 1451 Gläubige gab. In weiteren 73 Pfarreien leben weniger als 500 Menschen. Die Zahl der aktiven Katholiken ist verschwindend klein in diesen ehemals deutschen Gebieten.

Aber Bischof Lischka von Budweis aber beklagt, daß Präsident Beneš bei den Sudetendeutschen so wenig beliebt sei!

Ähnlich wie mit der Zahl der Pfarreien und dem Priestermangel verhält es sich mit dem Ordenswesen. Auch hier soll auf keinen Fall verharmlost werden, daß seit 1950 alle männlichen und weiblichen Ordensgemeinschaften verboten waren und erst 1990 einen Teil ihrer Klöster zurückerhielten.

Nicht verschwiegen werden darf aber, daß zahlreiche Klöster und ganze Ordensprovinzen seit 1946 nur mehr ein Schatten ihrer selbst waren.

Betroffen waren die großen, praktisch rein deutschen Stifte der Benediktiner in Braunau, der Prämonstratenser in Tepl, der Zisterzienser in Osseg und Hohenfurth sowie der Angustiner in Böhmisch-Leipa.

Vertrieben wurden auch die deutschen Patres und Brüder aus den Niederlassungen der Kapuziner, Jesuiten und des Deutschen Ordens, der Redemptoristen und Oblaten, die eigene Noviziate und Juvenate hatten.

Bei den Ausschreitungen nach Kriegsende kamen auch deutsche Ordensleute ums Leben, noch im August 1945 (!) wurden zwei Patres der Abtei Braunau von tschechischen Partisanen erschossen.

Von 34 größtenteils deutschen im Sudetenland und in der Tschechoslowakei bestehenden weiblichen Ordensgemeinschaften durften nur sechs bleiben, die übrigen Orden und Kongregationen wurden ausgesiedelt, insgesamt 2.800 Schwestern.

Die deutschen Klöster wurden größtenteils von tschechischen Ordensleuten übernommen, waren aber personell unterbesetzt, da es zu wenige Patres und Schwestern gab. Wie das ganze Sudetenland verödete und verfiel, da es nicht besiedelt war, so waren auch die Klöster in diesen Gebieten oft nur mehr leerstehende Gebäude.

Leider hat eine große Ausstellung „Die kirchlichen Orden und Kongregationen in den böhmischen Ländern“ 1991 im Prager Kloster Strahov diese Tatsache völlig verschwiegen, auch der 173 Seiten umfassende Katalog, den Ludek Jirasko erstellte. In einer historischen Einführung kommt die Cäsur der Jahre 1945/46 nicht vor, ebenso wenig bei den einzelnen Orden.

Obgleich auf solches Verschweigen von sudetendeutscher Seite immer sachlich und fundiert hingewiesen wurde, geschah keine Richtigstellung, sondern zog sich diese Haltung bis heute weiter. Es sei nur auf die Behauptung von Kardinal Miloslav Vlk in seinem Buch „Reifezeit“ verwiesen („Nach dem Krieg haben 235 Priester das Sudetenland verlassen“) und auf seine Auslassungen beim Katholikentag 1998 in Mainz. Damals glaubte er, betonen zu müssen, es sei gar kein Grund mehr, sich bei den Sudetendeutschen zu entschuldigen, das hätten die tschechischen Bischöfe bereits 1945 in einem neu entdeckten Dokument getan. Dieses „neue“ Dokument ist der alte Hirtenbrief vom November 1945, als die tschechischen Bischöfe schrieben:

Nicht ein Schatten der Grausamkeit der gewesenen Konzentrationslager darf uns beflecken, weil die Geschichte einen durchdringenden Blick hat und in den späteren Jahren jeder Übergriff so an den Pranger gestellt würde, wie heute die Grausamkeit der Lager in Dachau, Auschwitz oder anderswo.“ 

Die Realitätsferne dieser Aussage ist erschreckend: Denn bis zum November 1945 waren Zehntausende von Sudetendeutschen ermordet worden, hatte es den Brünner Todesmarsch und das Massaker von Aussig, die Massenmorde von Totzau und an anderen Orten gegeben.

Daß für diese Verbrechen von der Prager Regierung Straffreiheit gewährt wurde, kommentierten die Bischöfe später nicht. Wohl aber druckten die Ordinariatsblätter die Beneš-Dekrete ab.

Noch krasser und unverständlicher ist die Formulierung im Hirtenbrief vom 14. November 1946 über die pastorale Lage: Man beklagte damals den Priestermangel im Grenzgebiet, vor allem in der Diözese Leitmeritz!

Wußten die Oberhirten damals nicht mehr, daß es im Priesterseminar in Prag vor dem Krieg fast 100 deutsche und in Olmütz 65 deutsche Priesteramtskandidaten gegeben hatte?

1945 gab es in der tschechischen katholischen Kirche einen radikalen antideutschen Flügel mit Monsignore Stasik an der Spitze, dessen Aussage „Alle Deutschen sind schlecht, und das Gebot der Nächstenliebe gilt für sie nicht“ die „Lidové demokrace“ am 24. Juni 1945 zitierten.

Leicht machen es sich auch viele Tschechen, die Vertreibung als ein Ergebnis der Konferenz von Potsdam hinzustellen.

Seit 1941 saßen zwei Priester in der Londoner Exilregierung, „die sich nach 1945 keine Gelegenheit entgehen ließen, ihre Verdienste um die Annäherung der Kirche an den Staat sowie die Durchsetzung der Vertreibungspläne hervorzuheben.“ (E. Hrabovec)

Einer von ihnen war der Ministerpräsident der Exilregierung, Dr. Jan Šramek, der als Professor für Moraltheologie am Brünner Priesterseminar gelehrt hatte und Vorsitzender der Tschechischen Christsozialen war. Heute wird er als Begründer der tschechischen Soziallehre in Tschechien gewürdigt. 1945 und 1946 diente er als Aushängeschild für die Berechtigung der Vertreibung, wie Karel Horalik am 4. Juli 1946 in der Zeitung der Katholischen Volkspartei schreibt:

Der Abschub der Deutschen aus dem Gebiete unseres Staates war bei der Regierung im Ausland vorbereitet, an deren Spitze Msgr. Dr Jan Šramek stand. Er hätte sicher dieser Regelung nicht zustimmen können, wenn sie widerrechtlich gewesen wäre und den Normen der christlichen Sittlichkeit widersprochen hätte...
Daher erklären die tschechischen Katholiken jede andere Anschauung betreffs des Abschubes der Deutschen, soweit es um die kollektiv gerechte Strafe für ein kollektives Vergehen geht, als feindlich, da eine andere Anschauung unserem Staat keine gerechte Beurteilung wünscht. Der Abschub der Deutschen, seine Begründung und seine Durchführung tragen den strengsten Stempel internationalen Rechtes, welches in nichts die Normen der christlichen Sittenlehre verletzt.

Hat sich je die Kirche in Prag von solchen Aussagen distanziert? Darüber muß endlich offen geredet werden.
Der 50. Jahrestag des Wiesbadener Abkommens gibt dazu Gelegenheit, weil seine tschechischen Unterzeichnet damals weiter waren als die meisten Kirchenführer der Tschechischen Republik heute.

(Vortrag vor sudetendeutschen Priestern 14. 2. 2000)
Quelle: ISBN 3-87336-015-2 Mit den Beneš-Dekreten in die EU? Gerhard Hess Verlag, Ulm 2000