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29. März 2003, 02:05, Neue Zürcher Zeitung
Die Wolgarepublik in Rußland - nur ein Traum im Nebel
Suche nach den Spuren der Wolgadeutschen in Engels
Die Republik der Wolgadeutschen war bis zu ihrer Zerstörung 1941 das symbolische Herz der deutschen Siedler in Rußland. Während jene, die sie noch erlebten, langsam aussterben, entgleitet auch der Traum ihrer Wiedergeburt allmählich in den geschichtlichen Nebel. Selbst die Spuren ihrer Existenz werden immer spärlicher.
«Baba Milja», mit bürgerlichem Namen Emilia Andrejewa Koslowa, geborene Stets, bittet mit etwas schüchternem Lächeln aus schelmischen Äuglein in ihr Heim, ein weiß getünchtes Backsteinhaus im Dorf Krasnojar im Gebiet Saratow, und beginnt schnell, fast atemlos zu erzählen. Zwei Kolchosen habe es gegeben hier, «Rotfront» und «Frischkraft». Die Familie habe zwei Häuser, 5 Kühe, 6 Pferde, auch einige Schweine und einen prächtigen Obstgarten besessen. Doch dann kam der unglückselige September 1941, als Stalins Regime den endgültigen Schlußstrich unter die Republik der Wolgadeutschen zog und die gesamte deutschstämmige Bevölkerung deportieren ließ. «Das eine Haus haben wir an die Kolchose verloren», sagt Baba Milja mit Tränen in den Augen, «das andere wegen der Deportation. Ich weiß bis heute nicht, warum wir wegmußten.»

Ein anderer schwarzer September
Weg mußten die Wolgadeutschen, weil sie hier, an einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt zwischen Saratow und dem damaligen Stalingrad, eine für die Sowjetunion einmalige Konzentration von Nachfahren deutscher Siedler bildeten und darum in den Verdacht gerieten, Sympathie für die vorrückenden Truppen Nazi-Deutschlands zu hegen oder gar zur Kollaboration bereit zu sein. Nicht daß die Mehrheit der Rußlanddeutschen je in der 1924 gegründeten Wolgarepublik gelebt hätten. Von schätzungsweise zwei Millionen Rußlanddeutschen Anfang der vierziger Jahre lebten höchstens 600 000 dort, der Rest, die Mehrheit, war über das gesamte Territorium der UdSSR versprengt. Doch in der Republik hatten die Wolgadeutschen ihre eigene Verwaltung, Deutsch war Amtssprache, und darum war die Autonome Wolgarepublik das symbolische Herz der Rußlanddeutschen.
Den Wolgadeutschen wurde damals gesagt, sie würden nur vorübergehend in das strategische Hinterland der Sowjetunion verlegt. Doch der befohlene Exodus erwies sich in den meisten Fällen als permanent. Nicht nur wurden die Wolgadeutschen selbst nach ihrer Rehabilitierung nie mit der Rückgabe ihres Siedlungsgebiets entschädigt, auch der Gebrauch des Deutschen war über Jahrzehnte hinweg strikt verboten oder verpönt. Die Rückkehr wurde den Wolgadeutschen und ihren Nachfahren auch dann noch schwer gemacht, als sie nach 1972 offiziell nicht mehr illegal war. Unzählige wurden erneut deportiert, andere erhielten keine «Propiska», jene amtliche Registrierung, die für sämtliche sowjetischen Lebensbereiche unerläßlich war. Laut Professor Arkadi German von der Universität Saratow, der sich an einer speziellen Abteilung mit der Geschichte der Rußlanddeutschen befaßt, waren 1989 nur rund 40 000 Wolgadeutsche und deren Nachfahren in die Gebiete Saratow und Wolgograd, welche die frühere Republik abdecken, zurückgekehrt.

Zu viel zu schnell
Anfang der neunziger Jahre, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, schien die Stunde einer Wiedergeburt der Wolgarepublik zu schlagen. Doch das Gebiet war unterdessen von ethnischen Russen besiedelt, die befürchteten, nun ihrerseits wegen der rückkehrwilligen Wolgadeutschen umgesiedelt zu werden. Bittere Vorwürfe habe es gehagelt, sagt Baba Milja, als man von der Wiederherstellung der Republik zu sprechen begonnen habe. Der Versuch zur Schaffung eines zweiten Nagorni-Karabach sei ihnen unterstellt worden. Zu viel sei zu schnell gefordert worden, meint Professor German, das habe Ängste der inzwischen hier ansässigen Russen geschürt. Das Scheitern des Plans für eine Neuauflage der Wolgarepublik habe dann zu einer massiven Auswanderungswelle von Seiten der Rußlanddeutschen geführt.
Wie viele frühere Wolgadeutsche mit ihren Nachfahren inzwischen in Deutschland leben, ist nicht in Erfahrung zu bringen, doch der Aderlaß muß gewaltig gewesen sein. Professor Tatjana Stupina leitet an der pädagogischen Hochschule in Saratow die Fachrichtung Deutsch als Muttersprache, die 1992 speziell für die Rußlanddeutschen in Saratow und anderen Städten eingerichtet wurde. Die fünf Jahre dauernden Kurse hätten besonders unter einer überdurchschnittlich hohen Aussteigerquote gelitten: «Die zogen alle weg nach Deutschland, manchmal mehr als 80 Prozent der Studenten.»

Nie mehr «wie früher»
Baba Milja aber will nicht mehr weg von Krasnojar, auch wenn sie die vorgeschriebenen Tests für die Aufnahme in Deutschland wohl mit Leichtigkeit bestehen würde. «Meine Mutter liegt hier begraben und mein Ehemann», erklärt sie in plattdeutschem Dialekt, gelegentlich durchzogen von russischen Ausdrücken. Ihre drei Söhne und deren Familien seien hier zu Hause und drängten ebenfalls nicht auf eine Auswanderung. Doch Baba Milja ist sich bewußt, daß die meisten Jungen weggingen, sofern sie dies konnten: «Nur die Alten sitzen hier, heulen und werfen sich vor, die Republik verloren zu haben, weshalb die Jungen wegzogen.»
Doch selbst wenn ihr Verstand weiß, daß das Thema der Republik der Wolgadeutschen erledigt ist, sperrt sich die Seele dagegen, dies zu akzeptieren. Die Lieder und Geschichten der Wolgadeutschen sind bei ihr noch lebendig, ohne falsche Scham trägt sie einige Müsterchen vor. Doch zum Abschied auf der Veranda bricht es aus ihr heraus: «Es wäre doch schön, wieder ein Stück Land zu haben, auf dem wir zusammenleben könnten wie früher.»
Die Frage, ob es außerhalb der aussterbenden Generation der Baba Milja noch wirkliche Rußlanddeutsche gibt, wird nur von jenen ohne Wenn und Aber bejaht, die sich selber als solche verstehen. Doch die Sicht von innen und außen unterscheidet sich stark, und sogar Arkadi German, der selber einer Rußlanddeutschen-Familie entstammt, erklärt nüchtern, man könne im Gebiet Saratow kaum noch eine reine deutsche Familie finden oder Rußlanddeutsche, die ohne ein entsprechendes Studium fließend Deutsch sprechen könnten.
Da die Frage zumal in Deutschland eine innenpolitisch heikle Angelegenheit ist, äußern sich solche Skeptiker oft nur im Schutz der Anonymität.
Eine Ausnahme ist die Redaktorin der «Wolgazeitung» in Saratow, Elena Arndt. Nicht nur der Traum einer Republik der Wolgadeutschen ist für sie restlos ausgeträumt, sondern auch jener von einer Zukunft für die Rußlanddeutschen. Die völlige Assimilierung sei unausweichlich, sagt Elena Arndt: «Wir werden Russen mit deutschen Familiennamen sein.»

Nachforschungen von Verwandten
Über die vereiste Wolga führt eine mehrere Kilometer lange Brücke von Saratow nach Engels, jener früheren Ukrainerstadt Pokrowsk, die 1922 Hauptstadt der Wolgadeutschen wurde.
Zu Stoßzeiten staut sich der Verkehr hier gern, vor allem dann, wenn der Trolleybus sich rumpelnd über die Brücke quält.
Die Suche nach Spuren der Wolgarepublik zeigt gleich am Hauptplatz im Zentrum, der Lenin gewidmet ist, erste Resultate. Im staatlichen Archiv liegt immer noch das gesamte Personenstandsregister der Wolgarepublik. Laut der Direktorin, Elisaweta Erina, gehen pro Monat immer noch rund ein Dutzend Anfragen aus aller Welt zur Familiengeschichte der Wolgadeutschen ein. Zumeist handelt es sich um Nachforschungen von Verwandten, die im Laufe der Zeit nach Amerika, Deutschland oder Südafrika ausgewandert sind. An den Papieren wie auch am unscheinbaren zweistöckigen Gebäude nagt deutlich sichtbar der Zahn der Zeit. Ein Projekt mit Unterstützung der deutschen Regierung soll das einzigartige Zeugnis vor dem endgültigen Verlust retten.
Nur einige hundert Meter vom Archiv entfernt präsentiert das heimatkundliche Museum von Engels eine kleine permanente Ausstellung über Gebrauchsgegenstände und Kleidung der Wolgadeutschen. Der stellvertretende Leiter des Museums, Dmitri Rjaschatow, nimmt sich persönlich Zeit für eine kleine Führung.
Spitzbübisch meint der Historiker, die Republik der Wolgadeutschen existiere im Grunde immer noch: «Sie wurde nie formell abgeschafft, nur ihre Bewohner wurden verschleppt.» Auch Rjaschatow bestätigt, daß der Ruf nach einer Wiedergeburt der Republik in den neunziger Jahren in der Gegend böses Blut schuf: Die Wolgadeutschen hätten zuerst eine kulturelle Autonomie fordern sollen und nicht gleich die Republik, sagt er, «dann hätten sie wohl mehr Erfolg gehabt».

Kultureller Überlebenskampf
In der Tat tragen die Wolgadeutschen ihren Überlebenskampf heute vor allem auf kulturellem Gebiet aus. Gegenüber dem Museum, immer noch am weiten Leninplatz, beherbergt ein stattliches Gebäude das deutsche Kultur- und Begegnungszentrum. In die Blechtafel am Eingang sind mit groben Strichen ein Hakenkreuz und eine unflätige Bemerkung über Deutsche eingeritzt. Eine freiwillige Helferin im Zentrum erklärt, man kenne den Urheber, es handle sich offenbar um einen verstörten Menschen, der bereits im letzten Oktober einmal tätig geworden sei. Im Allgemeinen sei in Engels von Deutschfeindlichkeit aber wirklich nichts zu spüren. Man habe vielmehr große Sympathie und Solidarität von der russischen Bevölkerung gespürt, nachdem die Inschrift ein lokales Medienthema geworden sei.
Das Kulturzentrum von Engels war im März 1989 als erstes in Rußland eröffnet worden.
Wie an jedem Mittwoch treffen sich an diesem Morgen die Leiterinnen der Kulturzentren des Bezirks, um mit dem «Mutterhaus» Programme, Aktivitäten und Sorgen zu besprechen. Gesprochen wird an der Sitzung allerdings russisch.
Arthur Genrichowitsch Karl, ein 75-jähriger Bär von einem Mann, steht einerseits dem Zentrum vor, anderseits auch einer Organisation namens Wiedergeburt. Dieser Name, sagt Karl, dürfe nicht eindimensional mit der Republik der Wolgadeutschen in Verbindung gebracht werden. Zwar gibt Karl zu, daß eine solche Republik ein Traum geblieben ist, doch mehr eben nicht: «Die Frage der Nationalität muß sich im kulturellen Bereich erschöpfen; unter den gegebenen Umständen soll sie im politischen und sozialen Bereich keine Rolle spielen.»
Die Rußlanddeutschen in Engels hätten gemerkt, daß das gutnachbarschaftliche Zusammenleben mit den Russen wichtiger sei als die Wiederherstellung der Republik, erklärt Karl. Deshalb laute ihr Motto nun: «Achtet den Anderen, dann werdet auch ihr geachtet.»

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