Heimkehr ins Land Unwissen
von Reinhard Brockmann (Westfalen-Blatt Nr. 201, S.4, 2001-08-30)

 »Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß man uns hier als Russen, beschimpft ... Und jedesmal trifft es uns wie ein Schlag ins Gesicht.«  Else Schwengler

Makellose Handschrift, oft Dutzende von Seiten lang, mit Akribie niedergeschrieben und in ihren Schilderungen von ergreifender Tragik: selbstverfaßte Berichte von Aussiedlern, die nach einem langen und entbehrungsreichen Leben nach Deutschland heimgekehrt sind, aber auf Fremdenfeindlichkeit treffen. Politiker, Beamte wie Journalisten entdecken in Staatskanzleien, Behörden und Redaktionsstuben seit Jahren immer wieder Lebenszeichen von Deutschstämmigen, die am heutigen Deutschland verzweifeln. Der Ton ist ausgesprochen zurückhaltend, die kalte Nichtzurkenntnisnahme fällt so allzu höflich Angesprochenen leicht.

Das schwere Los der Rußlanddeutschen, ihre Biografien und der »Kulturschock« der bei uns Ankommenden interessieren hierzulande nicht. Auch der 60. Jahrestag der Verschleppung von mindestens 400 000 Wolga-Deutschen fand diese Woche fast kein Medienecho.

Sommer 1941: Stalin erklärte angesichts der vorrückenden deutschen Front die Einwohner der »Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen« kollektiv zu Spionen und Kollaborateuren. Was folgte, ist schnell gesagt, aber in seinen Schicksalen bis heute nicht geheilt. Zwangsarbeit, massenhafter Tod in Bergwerken und Steinbrüchen, Verfrachtung ins fernste sibirische Regionen...

Immerhin in Moskau, nicht in Berlin, gab es an diesem 28. August 2001 eine politische Initiative. Präsident Wladimir Putin wurde in der Duma aufgefordert, Rußland möge sich bei den Rußlanddeutschen für Deportationen und massenhaftes Leid entschuldigen. Die Rußlanddeutschen sind die einzige Volksgruppe, die bis heute nicht politisch rehabilitiert ist. Zwar hat das Präsidium des Obersten Sowjets schon 1964 die Spionagevorwürfe zurückgenommen, aber das blieb ohne spürbare Erleichterungen.

Die rußlanddeutsche kommunistische Duma-Abgeordnete Tamara Plitnjowa hat in dieser Woche die Wiederherstellung der Autonomie für die Rußlanddeutschen in Rußland gefordert. Allerdings: Der Vorstoß soll die Sympathie Putins gefunden haben. Das macht die Sache wieder zweischneidig.

Boris Jelzin hatte den 2,2 Millionen Rußlanddeutschen Anfang der 90er Jahre schon einmal die Wiederherstellung der Staatlichkeit in Aussicht gestellt.
Als er dann nichts mehr von seiner Zusage wissen wollte, setzte eine gewaltige Ausreisewelle nach Deutschland, aber auch in andere Staaten wie zum Beispiel Israel und USA ein. Heute leben noch bis 800. 000 Rußlanddeutsche in den Weiten Rußlands.

Unsere rot-grüne Bundesregierung nimmt die inzwischen weit größere, in Deutschland lebende Gruppe der Rußlanddeutschen dagegen so gut wie gar nicht zur Kenntnis. Nicht ein Wort des Bundeskanzlers zum 60. Jahrestag.
Regierungsvertreter bei der Zentralen Gedenkfeier am vergangenen Sonntag am Brandenburger Tor in Berlin: Fehlanzeige. Allein die CDU-Politikerin Erika Steinbach als Präsidentin des Bundes der Vertriebenen wandte sich nachdrücklich gegen die Unmöglichkeit, den Rußlanddeutschen die mangelnden Sprachkenntnisse aufgrund fortwährender Benachteiligung auch noch zum Nachteil gereichen zu lassen.
Offenbar ist es in dieser sonst so politisch korrekten Mediengesellschaft leichter, den als rassistisch zu verurteilenden »Russen«-Vorwurf auf der Basis gepflegten Unwissens unaufgeklärt stehen zu lassen.

Statt eines Fazits - hier ein zweiter Auszug aus dem Brief von Else Schwengler an das WESTFALEN-BLATT:
»Unsere Antwort lautet: Deutschlands verlorene Kinder, die den Weg zum Vaterhaus, das heißt zum Land der Väter, durch Schrecken und Leid doch noch gefunden haben, sind Heimkehrer, Heimkehrer sind wir.«

Siehe auch weiteren Artikel aus der NZZ 2003-03-29