Brief von Herrn Dr. Erich Pillwein, erhalten am 27. Mai 2001

Sehr geehrter Herr Lindenthal, Sie fragen, ob ich (wir, die BRUNA) gute Erlebnisse in Brünn hatten, und Sie glauben, einen kleinen Frühling zu wittern. Ganz so ist es nicht.

Es traf sich gut, daß wir zur gleichen Zeit in Brünn waren, als der Stadtrat, nachdem sich eine Kommission ein Jahr lang bemüht hatte, eine Antwort auf das Entschuldigungs-Ansuchen der „Jugend für interkulturelle Verständigung“ für den Todesmarsch zu finden, seinen Beschluß veröffentlichte.

Ich sende Ihnen den Wortlaut des Stadtratsbeschlusses im Anhang. Und ebenfalls hänge ich an die Stellungnahme dieser „Jugend für....“, die als Antwort auf diesen Stadtratsbeschluß veröffentlicht wurde. Man braucht nur zu lesen – und man weiß alles.

Ansonsten hatten wir ein recht gutes Presse-Echo, nachdem wir persönlich in den Redaktionen von Lidové noviny und Mladá fronta DNES für Interviews zur Verfügung standen.

Einer der wichtigen Punkte war auch die Unterstützung einer Neugründung, des „Deutschen Sprach- und Kulturvereines“, der als „Dritte Kraft“ versuchen will, die beiden zerstrittenen Parteien innerhalb des Häufleins von Heimatverbliebenen auszubalancieren. Sein Hauptprogramm – und hauptsächlich deshalb unterstützt ihn die BRUNA – ist die Einführung demokratischer Verfahrensweisen (geheime Wahlen zu den Führungsgremien), Unterrichtsmöglichkeiten in deutscher Sprache für die durch die Kommunisten des Deutschen entwöhnten älteren Bürger und einiges anderes mehr.

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Soviel für heute, die erwähnten Verlautbarungen folgen.
Weiterhin viel Freude bei der Arbeit und eine schöne Zeit wünscht   E P

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Der Brünner Stadtrat nahm in seiner Sitzung R3/117 am 17. Mai 2001 einen Beschluß folgenden Wortlautes an:

Die Stadt Brünn hält die Besetzung der böhmischen Länder und den ganzen, durch das nationalsozialistische Deutschland entfesselten zweiten Weltkrieg, in seinen Ursachen und Folgen für eine verbrecherische und dunkle Seite der Menschheitsgeschichte und verurteilt sie ganz entschieden. Die Erkundung dieser Ereignisse halten wir heute für eine grundlegende Belehrungsquelle darüber, wie eine Diktatur entsteht, sich ausbreitet und endet, wo und wann immer.

Die Stadt Brünn bedauert alle Brünner Mitbürger sehr, die in der angeführten Zeit zu Unrecht leiden und Brünn unter tragischen Umständen verlassen mußten. Wir bedauern, daß nicht weiterhin zehntausende tschechischer, jüdischer, deutscher, Roma und weiterer Mitbürger mit uns leben. All diese Menschen gestalteten die Stadt Brünn in ihrer kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen und nationalen Buntheit. Ihr Verlust ist ein Verlust für uns alle. Wir bedauern daher auch die deutschen Mitbürger, die Brünn im Jahre 1945 unter Zwang verlassen mußten.

Wir wünschen uns deshalb, daß diese Belehrung für uns alle gelten möge und daß sie kein Hindernis, sondern Anlaß zur Ausbildung guter, freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Menschen und Nationen sei.

Die Stadt Brünn wird diese Zeit und die Leiden ihrer Mitbürger nie vergessen.

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Presseverlautbarung der MIP (Jugend für interkulturelle Verständigung) zum Beschluß des Rates der Stadt Brünn zu den Ereignissen bei der Vertreibung der deutschen Einwohner Brünns nach dem zweiten Weltkrieg.

Beschluß des Brünner Stadtrates zum Todesmarsch hat Alibicharakter.
Die Räte der Stadt Brünn billigen weiterhin die ethnische Säuberung der Nachkriegszeit.

Brünn, 17. Mai 2001

Es ist gerade ein Jahr her, daß die Vereinigung der Jugend für interkulturelle Verständigung (MIP) das Brünner Rathaus aufgefordert hat, die Vertreibung der Brünner Deutschen im Mai 1945 klar zu verurteilen. Diese grausame ethnische Säuberung, die als Brünner Todesmarsch bekannt geworden ist, befahl und organisierte mit seiner Kundmachung der in der Nachkriegszeit amtierende Brünner Nationalausschuß, d.h. der direkte Vorgänger des heutigen Stadtrats.

Heute, nach Verabschiedung des Ratsbeschlusses, müssen wir der Öffentlichkeit mitteilen, daß die Ratsmitglieder nicht den Mut gefunden haben, die Taten ihrer Vorgänger zu verurteilen. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg nützten sie nicht die einmalige Chance, ein historisches Trauma zu überwinden und damit die Mündigkeit unserer Gesellschaft zu beweisen. Stattdessen kehrten sie erneut das ganze Problem unter den Teppich.

Die Ratsmitglieder kamen nach Erhalt unserer Aufforderung als erstes zu der Ansicht, daß sie ohne ausreichende fachwissenschaftliche Unterlagen nicht in der Lage seien, ein moralisches Urteil abzugeben. Sie richteten deshalb eine Arbeitsgruppe ein, welche die mit dem Todesmarsch verbundenen Geschehnisse erforschen und ihnen die Informationen verschaffen sollte, auf deren Grundlage sie entscheiden konnten. Die Kommission wurde allerdings nach einem merkwürdigen Schlüssel zusammengestellt: Sie setzte sich weder rein aus Fachleuten zusammen, noch repräsentierte sie die verschiedenen Interessengruppen oder Parteien. Ihre Ergebnisse können deshalb weder fachlich relevant noch politisch repräsentativ sein. Die Kommission kam im Laufe eines Jahres nur einige Male unregelmäßig zusammen. Das Ergebnis ihrer Arbeit ist ein historisches Referat, verfaßt von einem einzigen Historiker (Dr. Libor Vykoupil), das keiner Gegenmeinung unterworfen wurde.

Kein Wunder, daß dieser Bericht ausreichend einseitig und stellenweise eindeutig falsch ist. Neben unbestrittenen Fakten, über die man gar nicht zu diskutieren braucht, führt er zum Beispiel folgendes aus: „Die über die Grenze ausgesiedelten Deutschen wurden durch den Abschub keineswegs grundsätzlich an Gesundheit oder Leben geschädigt.“ Die Gräber, die den damaligen Weg der Vertriebenen auf österreichischer Seite säumen, zeugen von dem genauen Gegenteil und widerlegen die Behauptung des Historikers. Die Gefahr liegt darin, daß dieser Bericht herausgegeben wird als offiziell beglaubigtes und endgültiges Verdikt zur Auslegung dieses Kapitels der Geschichte. Wir befürchten, daß die Kommission und die für sie ausgegebenen Mittel überhaupt einen positiven Sinn hatten.

Nun hat der Rat einen Beschluß zur ganzen Problematik gebilligt. Doch dem Wortlaut des sehr allgemein gehaltenen Beschlusses kann man nicht zustimmen. Denn die Räte haben auf unsere Aufforderung überhaupt nicht geantwortet. Das Bedrückende liegt darin, daß der Beschluß die Vertreibung der Deutschen nur mit einem einzigen Satz erwähnt und von der Verantwortlichkeit der Brünner Behörden vollkommen schweigt.

Das Dokument verurteilt den vom nationalsozialistischen Deutschland entfesselten Krieg und den Zeitraum seiner Ursachen und Wirkungen. Aber für den Krieg und die nazistischen Verbrechen kann Brünn nichts. Über die grausame Vertreibung der Deutschen, welche die Brünner Behörden tatsächlich organisierten, was man heute endlich bekennen und verurteilen sollte, schweigt der Beschluß. Dadurch, daß die Räte nur allgemein den Krieg verurteilten, haben sie der Welt mitgeteilt, daß Brünn bis heute nicht fähig ist, auch nur einen Bruchteil der eigenen Verantwortung für eine seiner „Folgen“ zuzugeben.

Gleichzeitig fühlt sich die Führung der Stadt auch nicht als Nachfolgerin der Nachkriegsobrigkeit. Das betrachten wir als schiere Alibibehauptung. Die rechtliche Kontinuität zwischen dem damaligen Nationalausschuß und dem heutigen Magistrat ist nicht zu bezweifeln: Die Vorschriften, die der damalige Nationalausschuß erließ, insbesondere die Kundmachungen, welche die Vertreibung anordneten, sind selbstverständlich weiterhin Bestandteil des geltenden Rechts.

Wo der Ratsbeschluß wenigstens einen allgemein menschlichen Ton anschlägt, ist die Begründung des Textes, den die Arbeitsgruppe vorlegte, durchaus anderer Prägung.

Die Kundmachung des Nationalausschusses habe angeblich nicht die Abschiebung, sondern nur „die Hinausführung aus der Stadt als organisatorische Maßnahme nach Art einer Evakuierung“ angeordnet, und das „aus allgemein akzeptierbaren Gründen“, wie Gefahr einer Epidemie, schlechte Wohnungssituation und Schutz der Deutschen vor den aufgebrachten Tschechen. Diese Verteidigung einer Vertreibung von Menschen jagt Angst ein und ist für uns geradezu skandalös. Wir hofften, daß das Rathaus nach mehr als einem halben Jahrhundert den Mut finden würde, das Geschehen beim richtigen Namen zu nennen: eine ethnische Säuberung. Stattdessen übernimmt die von den Mitgliedern der Arbeitsgruppe erarbeitete Dokumentation die alibistische Interpretation, die die Organisatoren der Vertreibung verbreiteten, daß die Stadt die Deutschen nur evakuieren wollte und das in deren eigenem Interesse. Nirgendwo läßt sich auch nur ein Zeichen dessen finden, daß die Stadträte das Vertreiben von Frauen, Kindern und alten Leuten prinzipiell und als Verbrechen verurteilen. Diese Tatsache ist um so alarmierender, als es zur Vertreibung der Brünner Deutschen im Rahmen der sogenannten wilden Vertreibungen kam, welche auch die tschechisch-deutsche Deklaration als sogenannte Nachkriegsexzesse verurteilt hat. Die Brünner Stadträte erlaubten sich nicht einmal, bis zu der offiziell vertretenen Grenze des Konsenses unserer Politiker zu gehen.

Die Brünner Politiker haben unseren Aufruf nicht verstanden. Sie verstanden ihn nicht als Chance, aus dem Teufelskreis der Geschichte herauszutreten, und sie verstanden nicht ihren wertvollen Kern: Nämlich, daß jede ethnische Säuberung ein Verbrechen ist – und daß „den Menschen das Recht zu rauben, dort zu wohnen, wo sie und ihre Ahnen Jahrhunderte gelebt haben, die allergrausamste Gewalttat gegen die Menschlichkeit ist.“ (Albert Schweitzer bei der Entgegennahme des Friedens-Nobelpreises im Jahre 1954).

Trotzdem glauben wir, daß unsere Aufforderung einen Sinn hatte. Es gelang uns, den Dunstschleier, der sich schier hoffnungslos, und nicht nur in Brünn, über die tabuisierten Nachkriegsverbrechen gelegt hatte, ein bißchen zu durchlöchern. Uns bleibt nichts als zu hoffen, daß die zukünftigen Repräsentanten Brünns mehr Mut finden, um sich der Vergangenheit unserer Stadt von Angesicht zu Angesicht zu stellen.  

Ondrej Liška, Martin Konecný
MIP - Mládez pro interkulturní porozumení

Weitere Berichte hierzu: Pressemeldung der SLÖ, Radio Prag.