Militärische Besetzung des Sudetenlandes (November 1918 bis Januar 1919)

Nach der Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik (CSR) am 28. Oktober 1918 forderten die Sudetendeutschen unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker den Verbleib ihrer Heimatgebiete bei dem zur Republik Deutsch-Österreich verkleinerten österreichischen Staat, der seinerseits seinen Willen zum Zusammenschluß mit dem Deutschen Reich bekundete. Im Vertrauen auf das von den Siegermächten, insbesondere von US-Präsident Wilson, proklamierte Selbstbestimmungsrecht leisteten die Sudetendeutschen nur geringen Widerstand gegen die Besetzung ihres Landes durch tschechisches Militär (31. Oktober 1918 bis 28. Januar 1919).
An mehreren Orten gab es aber Kämpfe, so bei Zlabings (17./18. November 1918), Gastorf (26. November 1918, 2 Tote), in Brüx (27./28. November, mindestens 6 Tote), Wiesa-Oberleutensdorf (1. Dezember, 2 Tote), Kaplitz (3. Dezember, 2 Tote) und an mehreren Orten Südmährens (30. November bis 11.Dezember).

Außerdem gab es an einigen Orten blutige Übergriffe gegen sudetendeutsche Zivilisten: So wurden auf dem Marktplatz von Mährisch Trübau am 29. November 1918 fünf Zivilisten erschossen und 20 verwundet. Mehrere Orte wurden mit Beschießung durch Artillerie bedroht, darunter Brüx (29. November 1918), Mährisch Schönberg (15. Dezember 1918) und Eger (ca. 15. Dezember 1918).
Eine Waffe zur Brechung des Widerstandswillens der Deutschen war der Hunger. Lebensmittel- und Kohlelieferungen in die Grenzgebiete und auch nach Wien wurden sofort ab dem 28. Oktober 1918 rigoros gestoppt. Außerdem wurden während der Besetzung viele Zeitungen zensiert und mehrere hundert Deutsche als Geiseln genommen. Angesichts dieses brutalen Vorgehens konnte die Besetzung auch mit Eisenbahnerstreiks (in Nordböhmen ab 26. November 1918 für mehrere Wochen, in Westböhmen am 5. Dezember 1918) und Massendemonstration in vielen Städten (8. Dezember 1918) nicht verhindert werden.
Am 3. und 4. Dezember 1918 gab Außenminister Bauer in Wien unter dem Druck der katastrophalen Versorgungslage der Stadt der CSR  zu verstehen, daß kein Widerstand mehr geleistet werden würde. Bis Weihnachten waren rund 80% der deutschen Gebiete besetzt, bis zum Jahresende etwa 95%.
Dieses Vorgehen verstieß nicht nur gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, sondern vielfach auch gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907.

Ferner gab es von November 1918 bis Januar 1919 und erneut von Mai  bis Juli 1919 größere Operationen des tschechischen Militärs gegen Ungarn, um die Zugehörigkeit der Slowakei zur neugegründeten Tschechoslowakei zu sichern. Die slowakische Bevölkerung verhielt sich gegenüber dem neuen Staat sehr zurückhaltend. Vieles spricht dafür, daß das slowakische Volk in einer freien Abstimmung 1918/19 einen tschechoslowakischen Staat nicht gewollt hätte – führte doch die Entwicklung in den Jahren 1939 und 1992 jeweils zu einem selbständigen slowakischen Staat.

Die wahrscheinlich entscheidende Rolle des militärischen Zwangs bei der Schaffung der Tschechoslowakei ist ein heute vergessenes Kapitel der Geschichte. Auch wissenschaftlich sind diese Vorgänge bisher schlecht dokumentiert, beispielsweise existiert noch keine zusammenfassende Darstellung der militärischen Besetzung des Sudetenlandes um die Jahreswende 1918/19, wohingegen es über das Münchner Abkommen von 1938 sehr viele Darstellungen gibt.

Es fehlt noch eine Darstellung der militärischen Lage: Die Tschechen hatten es ja dank Masaryks verlogener Politik verstanden, sich in den Kreis der Siegermächte hineinzumanövrieren. Also wurden die tschechischen Truppen, die sich sowieso schon vorab aus den Fronten herausgelöst hatten und heimgezogen waren, nicht entwaffnet, wie es den Deutschösterreichern und den Ungarn durch die Waffenstillstandsbedingungen auferlegt wurde.
Dadurch hatten die neuen Machthaber in Prag im Vergleich zu den deutschen Landesteilen ein einsatzfähiges Heer. Zur Verteidigung der Heimat gab es in den deutschen Bezirken nur eine militärisch schwache Landwehr, denn die stehenden Truppenteile waren entweder noch nicht von den Fronten zurück oder aber in Kriegsgefangenschaft.

Dadurch, daß die Tschechen die Grenzen regelrecht abriegelten, drang von den bewaffneten Überfällen auf die deutschen Städte nur wenig Lärm ins Deutsche Reich und ins Bewußtsein der Bevölkerung. Während von den polnischen Überfällen in Posen und in Oberschlesien lange Zeit geredet wurde, weil ja auch große Freikorps dort kämpften, die sich aus dem ganzen Reich rekrutierten und dadurch auch ins ganze Reich berichteten, geschah die militärische Besetzung der deutschen Städte in Böhmen und Mähren 1918/19 weitestgehend hinter dem Vorhang des Schweigens.  ML 2000-09-24

Bitte beachten:
In den gleichen Tagen (ab Anfang November 1918) meuterten die Matrosen in Kiel, erfolgte die militärische Kapitulation, wurde im Deutschen Reich die Republik ausgerufen, gab es jede Menge Aufregung und Tumulte. Durch die Schwäche des Reiches hatten die Tschechen leichtes Spiel mit der Eroberung des Sudetenlandes: Das Deutsche Vaterland war mit sich selbst beschäftigt und nach außen hin gelähmt, sein Heer war gar nicht in der Lage einzugreifen!

Siehe auch den anderen Beitrag zum gleichen Thema!