Die Errichtung des Protektorats vor 60
Jahren
Am 15. März 1939 wurde das Reichsprotektorat Böhmen und
Mähren errichtet. Dieser Vorgang gilt als einer der Auslöser des Zweiten
Weltkrieges. Er dient den Tschechen aber auch als Rechtfertigung für die Vertreibung der
Sudetendeutschen. Dabei hat die Protektoratsfrage, wie der Völkerrechtler Ermacora
feststellte, nichts mit dem Sudetenproblem zu tun. Die meisten Sudetendeutschen haben im
Gegenteil die Besetzung der Resttschechei mißbilligt. Da sie dafür dennoch
schwer büßen mußten, möchten sie wissen, wie es zu diesem Schritt kam. Dabei muß an
folgendes erinnert werden:
- Die Tschechoslowakei war eine der schreiendsten Fehlkonstruktionen der
Versailler Friedenskonferenz. Die 1938 in München versammelten Staatsmänner versäumten
es, eine europäische Gesamtlösung herbeizuführen. Ersatzweise unterzeichneten
Chamberlain und Hitler am 30. September 1938 einen Freundschafts- und
Konsultationsvertrag, gegen den der britische Premier jedoch schon im Januar 1939
verstieß, als er bei seinem Italienbesuch von eventuellen militärischen Maßnahmen gegen
Deutschland sprach. Hitler, der davon erfuhr (XI, S. 66/69), sah die
sicherheitspolitischen Folgen, zumal Prag gerade seine Bitte um Verkleinerung ihrer
überdimensionierten Streitmacht abgelehnt hatte (VII, S.385). Diese
umfaßte 36 Divisionen und 1.582 Flugzeuge und war nach
wie vor von deutschfeindlicher Benesch-Mentalität
durchdrungen. Seit dem Vertrag mit der Sowjetunion (1935) war die CSR
außerdem militärisch und ideologisch ganz ins bolschewistische Fahrwasser geraten (XVI, passim). Nach der Verlegung etlicher sowjetischer Geschwader
dorthin war sie nicht nur Flugzeugmutterschiff des Westens
(Frankreichs Luftfahrtminister Pierre Cot), sondern auch ein solches des Ostens.
- Hitler wird verdächtigt, das Münchner
Abkommen als Mißerfolg betrachtet zu haben, da es ihn an der
Zerschlagung der ganzen CSR gehindert habe. Diese Auffassung beruht auf
fehlerhafter oder voreingenommener Auswertung der Quellen (IX, S.136 f.
und 158 f.). Hitler wollte volks- und nicht machtpolitische Grenzen. Diese und die
Auflösung der Resttschechei hätte er schon im Oktober 1938 haben können,
als die Ungarn mit Annexions- und die Slowaken mit Separationswünschen an ihn herantraten
(IX, 1984, S. 153 f.). Chamberlain selbst
betonte, daß Hitlers Ziele streng begrenzt seien (ebda. S. 110).
Hitler handelte erst, als die Ereignisse das Münchner Abkommen schon zerstört hatten (XV, S. 261).
- England hatte schon im November 1938 Frankreichs Plan,
der CSR eine Bestandsgarantie zu geben, hintertrieben (VII,
S.445). Deutschland warnte London und Paris am 28. Februar 1939 in
einer formellen Note vor dem drohenden Zerfall der CSR. Beide schwiegen dazu (VII, S. 387). Chamberlain, der die deutschen Pläne seit dem 13.
März 1939 genau kannte, wollte sich nicht in Angelegenheiten, die
andere Länder unmittelbarer angehen einmischen (XVII, S.36).
Das erfuhr Ribbentrop am 14. März 1939 spät abends durch den britischen Botschafter in
Berlin, Henderson (IX, S. 286). Britische Kontakte mit den USA lassen
allerdings ganz andere Schlüsse zu (I, S.399 ff.).
- Hacha stand 1939 vor einem Scherbenhaufen. Die Slowakei hatte sich von
der CSR losgesagt und wurde sofort von mehreren Staaten als neues Völkerrechtssubjekt
anerkannt. Deutsche Verbände sicherten am 14. März 1939 Mährisch
Ostrau vor polnischem Zugriff. Polen und Ungarn strebten eine gemeinsame Grenze an, um
Deutschland den Weg nach Südosteuropa und Rußland den nach Mitteleuropa zu verlegen (XII, S. 641). Daher besetzte Ungarn am selben Tag mit heimlicher
Unterstützung Polens Ruthenien (III, S.169) und wollte die Slowakei
zu seinem Protektorat machen. Als sich Hitler am 12. März 1938
entschloß, die Resttschechei zu besetzen, wollte er auch dem zuvorkommen (XVI, S.261). In Prag planten Vlajka-Faschisten und solche um Radola
Gajda einen Staatsstreich, was Deutschland aber ablehnte (XIII, S.465).
Hacha fürchtete die Auflehnung Bene-treuer Generäle, deren gute Beziehungen zur SU
bekannt waren.
- Hacha bat auf Anraten Hendersons und mit Billigung seines Kabinetts
Hitler um ein Gespräch, dem dieser zustimmte. In Berlin vertraute Hacha Ribbentrop im
Hotel Adlon schon vorweg an, daß er das Schicksal der CSR in die Hände
des Führers legen wolle (IV, S.68). Dieses meldete
Ribbentrop Hitler, der Anweisung gab, ein entsprechendes Schriftstück vorzubereiten. Als
Hacha zwei Stunden später in die Reichskanzlei kam, erklärte er in seiner
Einleitungsrede, daß er sich schon im Oktober 1938 gefragt habe, ob
es für die CSR überhaupt ein Glück sei, ein selbständiger Staat zu sein
(IMT, XXXI, S.140). Damit kam er Hitlers Absichten weit entgegen und mußte nicht erst
unter brutalen Druck gesetzt werden, wie der französische Botschafter Coulondre als Nicht-Augenzeuge
behauptete. Korrekte Behandlung bestätigen Hacha selbst gegenüber
Molotow (VIII, S. 571; XIII, S. 180) und die Staatssekretäre
Ernst von Weizsäcker und Otto Meißner als Augenzeugen (X, S. 476) sowie die Tochter Hachas, Milada Radlova (IMT-Verhör).
Meißner hält sogar ein Einlenken Hitlers für möglich, wenn Hacha die Unterschrift
verweigert und an die einstigen Garantieabsichten Frankreichs und Englands erinnert hätte (X, S. 480). Ebenso hätten Hacha und Chvalkovsky jederzeit das Gespräch
abbrechen und von ihrer Berliner Botschaft aus die internationale Staatenwelt alarmieren
können. Doch nichts dergleichen geschah. Die Beendigung des Protektorats bot Deutschland
im Herbst 1939 dreimal an, zuletzt im Dezember über die US-Botschaft in
Oslo (siehe z.B. IV, S.133).
- Chamberlain, der die Zusammenhänge genau kannte, äußerte sich am 15.
März 1939 maßvoll zu Hitlers Vorgehen, was die meisten Tories billigten. Seine
Untätigkeit entschuldigte er damit, daß der Staat, dessen Grenzen wir zu
garantieren beabsichtigten, von innen her zerbrach. Den Umschwung leitete am 17.
März 1939 die Tilea-Lüge ein, die Hitler Welteroberungspläne
unterstellen sollte und von Halifax und Vansittart schon
vorher mit dem rumänischen Gesandten verabredet worden war (XI, S. 131).
Chamberlain gab den Sinneswandel Englands am selben Tag in Birmingham in einer von Halifax
vorbereiteten Rede bekannt. Im Hintergrund stand Roosevelt, der den Briten am 16.
März 1939 in einer Note ultimativ den Entzug jeder Hilfe androhte, falls kein
Politikwechsel erfolge (VI, S. 75). Die UdSSR hingegen vollzog eine de-facto-Anerkennung
des Protektorats, als sie den tschechischen Botschafter Zdenek Fierlinger
veranlaßte, Moskau am 15. Dezember 1939 zu verlassen und sein
Botschaftsgebäude dem Deutschen Reich zu übergeben (XVI, S. 342).
Die Prager Sowjetbotschaft war schon im Mai 1939 zur Handelsmission
herabgestuft und der Sowjetbotschaft in Berlin unterstellt worden.
- Das Protektorat wurde nicht annektiert. Seine Grenze blieb gegenüber dem
Reich sorgsam abgeschottet, um die Gefühle der Tschechen nicht durch deutschen
Massenbesuch zu verletzen. Der Reiseverkehr mit anderen Staaten wurde nicht
eingeschränkt. Dank der tschechischen Kollaborationsbereitschaft
genügten 5.000 deutsche Polizisten, um das Land zu kontrollieren. Die
Eingriffe in Verwaltung und Kultur waren begrenzt. Sogar eine Armee von 7.000 Mann
blieb bestehen. Das tschechische Exil in London befürchtete schließlich, daß
ein von Deutschland geplantes Plebiszit über verbesserte
Autonomiebestimmungen bei ihren Landsleuten im Protektorat Erfolg haben könnte (V, S. 285). Chvalkovsky bestätigte in Nürnberg, daß Hitler die
Protektoratszusagen eingehalten habe, soweit es die Verhältnisse zuließen.
- Hacha wurde am 13. Mai 1945 verhaftet und am 27.
Juni 1945 im Prager Gefängnis Pankraz von drei Uniformierten
mit Gummiknüppeln erschlagen (Aussage des Mithäftlings Dr. Fritz Köllner). Er wurde in
Sträflingskleidung in den Sarg gelegt. Seiner Beisetzung im Familiengrab wohnten nur
seine Tochter Milada und deren geschiedener Ehemann Radl bei. Der Grabstein blieb bis
heute ohne Namensinschrift (Reuven Assor, Sudetenland 1996/I, S. 94 ff). Der
Außenminister Hachas, Chvalkovsky, wurde erschossen.
- Oft wird folgendes vergessen: Die Tschechen gehörten 1919 zu den
Mitunterzeichnern des Versailler Vertrages, der
Millionen Deutsche unter Fremdherrschaft zwang. Die Welt billigte, daß Polen das zu 96 %
deutsche Danzig begehrte und Ungarn die national fremde Karpatho-Ukraine besetzte.
Großbritannien hatte alleine zwischen 1915 und 1923 dreißig internationale
Verträge gebrochen, herrschte über 550 Millionen Nichtbriten und hatte erst
1936 Ägypten zu einem ungleichen Vertrag über die Stationierung von Truppen
gezwungen. Dennoch trat es als politischer Sittenrichter auf. Halifax
bekennt in seinen Memoiren (S.182/199), schon 1936 zum Krieg entschlossen
gewesen zu sein und nur auf einen Anlaß gewartet zu haben.
Auszug aus der Literaturliste:
(I) Bavendamm, Dirk, Roosevelts Weg zum Krieg, 1983; (II)
ders., Roosevelts Krieg, München-Berlin 1998; (III) Churchill, Der
2.Weltkrieg, 1948-85; (IV) Benoist-Mechin, J., Wollte A. Hitler den
Krieg 1939?, 1971; (V) Feierabend, L., London-Prag vice-versa, I, 1971, (VI) Franz-Willing, G. Roosevelt, 1991; (VII) Hoggan,
David, Frankreichs Widerstand gegen den Zweiten Weltkrieg; (VIII)
ders., Der erzwungene Krieg, 1983; (IX) Klüver, Max, Kriegstreiber,
1997; (X) Meißner, Otto, Staatssekretär unter Ebert, Hindenburg und
Hitler, 1950; (XI) Nicoll, Peter, Englands Krieg gegen Deutschland,
London 1953; (XII) Quigley, Carroll, Tragedy and Hope, NY., 1966, (XIII) Seidler, Franz, Die Kollaboration 1939-45, München 1995; (XIV) Strang, Lord William, Home and Abroad, London 1956;
(XV) Taylor, A.J.P. Die Ursprünge des 2.Weltkrieges, Gütersloh 1962; (XVI)
Willars, Christian, Die böhmische Zitadelle, Wien 1965; (XVII)
Woltersdorf, Hans Werner, Hinter den Kulissen der Macht, 1997
Dieser Text wurde der Leitseite des Ostdeutschen Arbeitskreises Hochtaunus
entnommen.
Geringfügige typografische Änderungen durch ML 2000-11-04