Hanna Zakhari                                              70794 Filderstadt, Bonländer Hauptstraße 66
                                                                                                                     1. Mai 2004

Versöhnung und Verständigung – eine europäische Einbahnstraße ?

Offener Brief an den Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart, Herrn Dr. Wolfgang Schuster

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
vor einigen Tagen und auch nur rein zufällig habe ich eine Aufnahme von Ihnen gesehenen. Diese zeigte Sie zusammen mit dem Primator der Stadt Brünn und war eingebettet in einen Text über das neu renovierte Seniorenheim Foltynova in Brünn, für dessen Renovierung und weitere Projekte ähnlichen Charakters die Stadt Stuttgart nicht unerhebliche Mittel aus ihrem Haushalt ausgegliedert habe. Ähnliche Beträge wurden für charitative Zwecke in Samara und Lodz bereitgestellt.

Ich halte diese Maßnahmen und ihre Förderung für sehr wichtig. Auch die Höhe der finanziellen Förderung sehe ich als außerordentlich großzügig an, und möchte Ihnen, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, als auch der gesamten für diese Entscheidungen verantwortlichen Stadtverwaltung ausdrücklich meine Anerkennung aussprechen. Bitte sehen Sie mir nach, daß ich dies erst jetzt tue: ich habe einen zeitlich sehr beanspruchenden Beruf und übersehe deshalb manchmal selbst wichtige Ereignisse des Zeitgeschehens zum Zeitpunkt ihres Geschehens.

Eines jedoch macht mich sehr nachdenklich. Es ist die Überschrift, unter der die Gründe für diese Maßnahmen erläutert werden.

„Verständigung und Versöhnung mit osteuropäischen Partnerstädten. Dies ist ein Beitrag dazu, der brutalen Zeit des Dritten Reiches ein Zeichen der Versöhnung entgegenzusetzen“ werden Sie zitiert.

Glauben Sie, daß Versöhnung und Verständigung im künftigen, gemeinsamen Europa nur eine Einbahnstraße sein soll ?

Vor etwa zwei Jahren habe ich nur rein zufällig einer brillanten Rede des Ministerpräsidenten unseres Landes, Herrn Erwin Teufel, zuhören dürfen. Es war anläßlich des Festaktes des Bundes der deutschen Vertriebenen zum 50-Jährigen Geburtstag des Landes Baden Württemberg.

Der Ministerpräsident würdigte in seiner Rede den Beitrag, den die Vertriebenen für Baden-Württemberg auf allen denkbaren Gebieten geleistet haben. In der Wirtschaft, in der Politik, in der Gesellschaft, der Administration und nicht zuletzt den Beitrag zur Verständigung zwischen den Völkern durch die „Charta der Vertriebenen“. Es war eine exzellente Rede, ich habe nie zuvor eine bessere Würdigung der Leistung der Vertriebenen und ihres Beitrags zur Nachkriegsgeschichte, zur Freiheit und Demokratie und zum Wohlstand in unserem Lande vernommen.

Sehr viele der Vertriebenen kamen aus Brünn, unserer heutigen Partnerstadt, damals nach Baden-Württemberg. Und sehr viele davon über einen sehr seltsamen Reiseweg. Die Geschichte gab ihm später die Bezeichnung „Der Brünner Todesmarsch“.

Der Brünner Todesmarsch war eine geplante und sorgfältig vorbereitete, heute unvorstellbare ethnische Säuberung. Zu ihren Organisatoren gehörte die enge Clique der späteren kommunistischen Machthaber, unter ihnen der spätere „Erste Arbeiterpräsident“ Klement Gottwald; zu den Ausführenden zahlreiche, jedoch noch heute unbekannte Personen aus Brünn. Die volle Verantwortung dafür trägt der damalige Präsident der Tschechoslowakei, Edvard Beneš.

Zu dieser Säuberungsaktion hat Präsident Beneš anläßlich seines Besuches in Brünn am 12. Mai 1945 direkt aufgefordert. In seiner damaligen Ansprache findet sich der Satz: „Wir werden unter uns Ordnung machen, insbesondere hier in der Stadt Brünn mit den Deutschen. Mein Programm ist, und ich verhehle es nicht, die deutsche Frage auszuliquidieren.“

Nur vier Tage später, am 16. Mai 1945, wird Edvard Beneš anläßlich seiner Ansprache am Altstädter Ring in Prag noch deutlicher: „Es wird erforderlich sein, die Anzahl der politischen Parteien gegenüber der Zeit vor dem Kriege zu reduzieren, das Verhältnis der Tschechen und Slovaken neu zu gestalten und die Deutschen in den böhmischen Ländern als auch die Ungarn in der Slowakei zu liquidieren, so wie sich die Liquidierung nur durchführen läßt ...

Quelle : Edvard Beneš Odsun Nemcu z Ceskoslovenska, Sammlung der Ansprachen, Historisches Institut der Karlsuniversität Prag

Edvard Beneš hat auch in weiteren Städten in gleicher Weise zur Verfolgung der deutschen Zivilbevölkerung aufgerufen und damit – neben den entsprechenden Gesetzen, die unter dem Oberbegriff „Beneš-Dekrete“ bekannt wurden – die Leitlinien für die Vertreibung vorgegeben.

Die Brünner Säuberung wurde mit außerordentlicher Brutalität durchgeführt. Bereits einige Stunden nach ihrem Beginn haben sich Journalisten der internationalen Presse um die Aktion interessiert, sie begleiteten später den Zug und haben die Weltöffentlichkeit auf das Geschehen aufmerksam gemacht.

Hören Sie, was die englische Journalistin Rhona Churchill berichtete. Rhona Churchill, eine Journalistin, die bis weit in die 60er Jahre auf Plätzen und Orten zu finden ist, an denen Menschenrechte mit Füßen getreten wurden. Der Bericht wurde am 6. August 1945 in der Londoner „Daily Mail“ veröffentlicht:

„Hier zum Beispiel, die Ereignisse des vergangenen Monats in BRNO, als junge Revolutionäre der tschechischen Nationalgarde beschlossen, die Stadt zu „säubern“:
Kurz vor neun Uhr abends marschierten sie durch die Straßen und riefen alle deutschen Bürger auf, um neun vor ihren Häusern zu stehen, ein Gepäckstück in jeder Hand, bereit, die Stadt für immer zu verlassen. Den Frauen blieben zehn Minuten, die Kinder zu wecken, sie anzuziehen, ein paar Habseligkeiten zusammenzupacken und sich auf die Straße zu stellen. Hier mußten sie Schmuck, Uhren, Pelze und Geld den Nationalgardisten abgeben, dann wurden sie mit vorgehaltenem Gewehr in Richtung österreichische Grenze getrieben ...“

Es gibt hunderte von Einzelberichten über den Brünner Todesmarsch. Die Menschen wurden im Hof des Altbrünner Klosters gesammelt und mußten dort die Nacht über stehen, ohne jegliche Versorgung. Bei der Menschenmasse, die aus Brünn am nächsten Morgen in Richtung Süden herausgetrieben wurden, handelte es sich, infolge der Kriegsereignisse, überwiegend um alte Menschen, Frauen und Kinder. Die ersten Ausgetriebenen starben bereits auf der Höhe des Brünner Zentralfriedhofes; kaum zwei Kilometer von der Sammelstelle entfernt.

Während des dreitägigen Fußmarsches wurden die Orte Raigern und Pohrlitz passiert: Dörfer, die durch diese Aktion unrühmlich bekannt wurden.

Die Menschen wurden zum ununterbrochenen Gehen ohne Pause angetrieben; sollte sich jemand nur kurz ausruhen wollen, wurde er mit Kolbenschlägen zum Weitergehen gezwungen.

Der folgende Tag, der 31. Mai, war ein heißer Sommertag, viele der alten Menschen konnten nicht mehr und sackten am Rande der Straße zusammen. Sie wurden ausnahmslos durch die den Zug ständig begleitenden jungen Aufseher zusammengeschlagen, bis sie tot liegen geblieben sind. (Quelle: Authentische Berichte in der Publikation „Nemci ven! Dokumentation des Brünner Todesmarsches“ als auch in der Sammlung „Weißbuch – Dokumente der Austreibung“)

Meine Mutter, damals eine junge Frau von 33 Jahren, erzählte: „Die Gardisten hatten Lastwagen zur Verfügung, die ständig um den Zug kreisten und bei jedem dieser Zusammenbrüche wurden die Taschen, Koffer oder was auch immer der Unglückliche bei sich hatte, blitzschnell auf den Lastwagen geworfen und das Raubgut abtransportiert.“

Die einzelnen Aussagen sprechen über unbeschreibliche Zustände während des Marsches. Unzählige erschlagene Tote in den Straßengräben, unzureichende hygienische Zustände, die zum Tode führten, die in Pohrlitz innerhalb von Stunden zum Verbreiten von Ruhr führten, nächtliche durch die Begleitorgane gesteuerten Überfälle durch russische Soldaten, die mit vorgehaltener Waffe wahllos Frauen und junge Mädchen vergewaltigten, hochschwangere Frauen, die ihre Babys im Straßengraben zur Welt brachten. (Quelle: Schreiben Kardinal Innitzer 11. Juni 1945).

Da der Zug weder in irgendeiner Weise organisatorisch vorbereitet war, noch durch ein Minimum an humanitärer Absicherung gestützt wurde, ist es in der Nähe des Dorfes Pohrlitz zu erschütternden Szenen gekommen. Unzureichende medizinische Hilfe, ja unzureichende Möglichkeit, die Toten zu beerdigen, unzureichende Unterkunftsmöglichkeiten, Desorientierung der Menschen. Es gibt zumindest einen Augenzeugenbericht, der über einen Krankentransport berichtet, der in die Thaya-Auen, ein damals ungesundes Überschwemmungsgebiet des Flusses, geführt und dort sich selbst überlassen wurde, so daß die Menschen vor Hunger und Unterversorgung massenhaft starben.

(Quelle: Bericht Nr. 19 Weißbuch der Sudetendeutschen). Als die Stelle durch Journalisten entdeckt wurde, war es zu spät. Eine fotografische Dokumentation darüber führte zu Entsetzen der Weltöffentlichkeit und zur Empörung der tschechoslowakischen Verwaltung über die „üble Nachrede“.

Soviel ein kleiner Abriß zum Thema „Brünner Todesmarsch“.

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Aber hören wir noch einmal Rhona Churchill, Daily Mail, mit dem Bericht aus der Tschechoslowakei:

Überall im Land werden Konzentrationslager für Deutsche eingerichtet. Man schickt die Leute unterschiedslos hinein, während sie auf ihr Visum für Deutschland warten. Sogar deutsche Juden und Nazigegner, die erst kürzlich aus den Konzentrationslägern befreit wurden, sind nicht sicher....

Wie sieht es damit in Brünn aus?

Das Kaunitz-Kolleg.

Das Gebäude, ein Studentenkolleg, diente während der Zeit des Dritten Reiches als Haft-, Folter- und Hinrichtungsstätte der Gestapo. Hier wurden Professoren der Masaryk-Universität verhört und hingerichtet, hier wurden 283 Studenten festgehalten, verhört und von hier nach Sachsenhausen abtransportiert und unzählige weitere Bürger gefoltert und ermordet. Die Geschichte des Kaunitz Kolleg können Sie ausführlich in allen einschlägigen Medien nachlesen. Dem Kaunitz-Kolleg war ein Konzentrationslager mit dem liebevollen Namen „Unter den Kastanien“ angegliedert.

Nach dem 8. Mai 1945 konnte in der Stadt Brünn eine ganze Reihe neu errichteter Konzentrationsläger gezählt werden. Julienfeld, Klajdovka, Malmeritz, Bohonitz, Waldlager Hodonin, Rossitzer Bahnhof, Obrowitz, Eibenschitz ...

Die Folterstätte der Gestapo, das Kaunitz-Kolleg, stellte nach dem 8. Mai 1945 seine Tötungsmaschinerie nicht ein. Die erprobte Folter- und Hinrichtungsstätte wurde von der Nachkriegs-Stadtverwaltung in gleicher Weise, nur diesmal für die „Sonderbehandlungen“ der deutschen Zivilbevölkerung Brünns weiterverwendet.

In den 50-er Jahren wurde in Karlsruhe ein Zivilprozeß gegen einen ehemaligen Brünner Bürger namens Jan Kouril geführt. Jan Kouril war im Zeitraum nach dem 8. Mai 1945 Aufseher im Kaunitz-Kolleg und auch in einem der neu geschaffenen Brünner Konzentrationslager „Klajdovka“. Anläßlich eines Aufenthalts in Deutschland in den 50er Jahren wurde er erkannt und angezeigt; während des Karlsruher Prozesses wurden Aussagen unzähliger Zeugen gehört. Über 200 Zeugen meldeten sich, die Kouril erkannten und über seine Greueltaten berichteten. Unter den Zeugen war der damalige Totengräber von Brünn, der täglich die Verstorbenen aus dem Kaunitz-Kolleg und dem Lager „Klaidovka“ wegtransportieren und bestatten mußte. Unter Eid gab der Zeuge die Anzahl der Ermordeten, überwiegend Zivilisten, mit 1.800 an.

Über diese Ereignisse finden Sie allerdings in der offiziellen Brünner Geschichtsschreibung – n i c h t s.
Keine Aussage, keine umfassende Aufarbeitung, keine Berichterstattung, keine Dokumentation.
Die Brünner Öffentlichkeit wurde mit diesem Aspekt der Geschichte der Stadt bisher – wenn überhaupt – nur unzureichend informiert.

Ende der 90er-Jahre haben einige Brünner Studenten mehr durch Zufall die Geschichte des Brünner Todesmarsches entdeckt. Sie haben versucht, aufgrund ihrer Erkenntnisse die Stadtverwaltung, geleitet durch Herrn Primator Peter Duchon, von der Notwendigkeit der Auseinandersetzung der Brünner Öffentlichkeit mit ihrer eigenen historischen Vergangenheit zu überzeugen.

Die Folge dieser Aktion war mehr als dürftig.

Lesen Sie, was die tschechische Intellektuellen-Zeitung Literární Noviny in 2001 darüber schreibt:

„Die Rathausherren (unter der Führung von Petr Duchon) kamen zunächst zu der Ansicht, daß sie nicht in der Lage sind, ein moralisches Urteil zu fällen, da sie kaum fachliche Unterlagen haben. Sie benannten deshalb eine Arbeitsgruppe, die die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem „Brünner Todesmarsch“ untersuchen sollte und Informationen vorlegen sollte, aufgrund derer eine Entscheidung möglich wäre.

Die Arbeitsgruppe wurde nach einem seltsamen Schlüssel zusammengestellt. Es waren weder Fachleute berufen worden, noch Interessensgruppen oder Parteien vertreten. Die Ergebnisse konnten deshalb weder fachlich relevant noch politisch repräsentativ werden. Die Arbeitsgruppe kam während eines Jahres nur einige wenige Male in unregelmäßigen Abständen zusammen.

Das Ergebnis ihrer Arbeit ist ein einziger historische Bericht, verarbeitet durch einen einzigen Historiker (Dr. Libor Vykoupil). Der Bericht wurde keinerlei fachlicher Opponentur unterbreitet. Kein Wunder, daß dieser Bericht sehr einseitig und teilweise eindeutig falsch ist. Unter allgemeinen historischen Fakten, die unstrittig sind, kommt der Bericht zu dem Schluß: „Die Deutschen, die ins Ausland ausgesiedelt wurden, wurden durch den Transfer in keiner Weise in ihrer Gesundheit oder gar am Leben geschädigt“.

Die Massengräber, die entlang der Straße über Pohrlitz nach Österreich heute noch existieren, sprechen eine andere Sprache.

Über die Tatsache der Konzentrationsläger in Brünn der Nachkriegsjahre erfahren Sie in der offiziellen Brünner Historie, auf den internet Seiten der Stadt – nichts.

Mehr über die Aktivitäten der Brünner Studentengruppe und ihrer heutigen Organisation lesen Sie unter www.osmip.cz

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Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
spätestens an dieser Stelle pflegen Politiker aller Couleur überall in Deutschland darauf hinzuweisen, daß man doch die Themen der Vertreibung im Rahmen einer zeitlichen Abfolge und im historischen Kontext sehen müsse.

Dieser Standpunkt ist eine über Jahrzehnte gepflegte Geisteshaltung. Eine, die die wirklichen Geschehnisse in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten relativierend wiedergibt. Ein Pauschalurteil Unbeteiligter und an den wirklichen Geschehnissen Uninteressierter.

Eine Geisteshaltung, die unser Gewissen ruhig schlafen läßt. Sie impliziert den Gedanken, daß die Vertriebenen, und ich meine in der Tat – ausnahmsweise und diesmal ausschließlich – die deutschen Vertriebenen, ja irgendwie selbst schuld an ihrem Schicksal waren, sie also nicht unbedingt zu bedauern seien und ihr Schicksal möglichst nicht in der Öffentlichkeit diskutiert werden soll. Und wenn, dann möglichst abseits und in aller gebotenen Stille. In geschlossenen Historikerkreisen.

Ich denke, es wird Zeit, daß wir aufhören, unser Gewissen zu beschwichtigen. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist ein Verbrechen, ganz gleich ob es in einem Zwangsarbeiterlager während des Dritten Reiches in der Nähe von Stuttgart oder in einem der Nachkriegs-Konzentrationslager in Brünn geschah.

Auf der Schwelle zum gemeinsamen Europa kann es einfach nicht sein, daß die grundsätzlichen Menschenrechte nur für die einen, nicht aber für die anderen von Bedeutung sind, daß die einen Verbrechen entdeckt und aufgearbeitet, die anderen aber eher verschleiert, tabuisiert, verdeckt werden, daß der einen Opfer von Willkür und Gewalt gedacht wird und getrauert; daß die anderen, ebenso Opfer von Willkür und Gewalt, namenlos irgendwo verscharrt bleiben und bis heute als verschollen gelten. Daß für die einen Henker die Unverjährlichkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit – zu Recht – gilt, die anderen Henker jedoch durch ein eigens dafür nachträglich erstelltes und rückwirkend geltendes Rechtmäßigstellungsgesetz (vom 8. Mai 1946), welches auch noch zum künftigen europäischen Rechtssystem gehören soll, unwiderruflich straffrei bleiben.

Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit des vergangenen Jahrhunderts gehören alle aufgedeckt, untersucht, dokumentiert und veröffentlicht. Die Verursacher gehören bestraft oder zumindest benannt. Die Opfer gehören menschenwürdig bestattet, und eine nicht allzu aufwendige Gedenktafel für die bisher namenlosen Opfer wäre auch ein Beitrag zum gemeinsamen Erinnern im künftigen Europa. Sowohl in Stuttgart als auch in Brünn.

Sie, sehr geehrter Herr Bürgermeister, und auch die entsprechenden Verantwortlichen in der Stadtverwaltung Stuttgart können dazu einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten.

Durch Ihre bereits bestehenden Beziehungen zu den Amtsträgern der Stadt Brünn, insbesondere zum Primator Petr Duchon könnten Sie bewirken, daß die Wahrheit über die Vergangenheit auch in Brünn eingehend und professionell untersucht wird. Daß die unzähligen Toten unter dem Klee (der Schriftsteller Ota Filip über die Toten des Brünner Todesmarsches) entlang der Straße von Brünn über Pohrlitz nach Österreich identifiziert, ihre sterblichen Überreste menschenwürdig bestattet und ihre Namen registriert werden. Ihre Familien benachrichtigt werden. Die mordenden und raubenden Begleiter des einstigen Horror-Zuges ermittelt werden. Daß der Opfer der Brünner Nachkriegs-Konzentrationslager mit einer Gedenktafel und mit einem gelegentlichen Trauerakt gedacht wird. Und daß auf der Homepage der Stadt www.brno.cz nicht nur mit ein paar nichtssagenden Worten des „Transfers“ der deutschen Bevölkerung gedacht wird, sondern dort die historische Wahrheit in ihren wesentlichen Auswirkungen aufgeführt wird.

Die Versöhnung und Verständigung zwischen den Völkern ist in einem gemeinsamen Europa keine Einbahnstraße. Sie beginnt mit einem ehrlichen Blick in die eigene Vergangenheit. Und – sie betrifft alle.

Uns alle.

Ich hoffe, sie können sich, auch eingedenk der Millionen von Bürgern unsere Landes, die diese unseligen Zeiten überlebt haben und ihren Beitrag zum Wiederaufbau von Deutschland, von Baden-Württemberg, geleistet haben, in diese Gedankengänge hineinversetzen. Versuchen, darauf einzuwirken, daß das öffentliche Bewußtsein unserer Partnerstadt zwar zu recht aber nicht nur die Geschehnisse des Dritten Reiches widerspiegelt, sondern auch die Geschehnisse vor der eigenen Tür zu reflektieren lernt, um daraus – gemeinsam – für die Zukunft zu lernen.

Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand hierfür.

Mit freundlichen Grüßen

Hanna Zakhari

Anlagen:
(• Fotokopie des Schreibens von Kardinal Innitzer vom 11. Juni 1945 aus dem Buche »Nemci ven!« Seiten 218 f, hier nicht wiedergegeben.)
• Zweitschrift dieses Schreibens in tschechischer Sprache zur beliebigen Verwendung
• Bericht über das Strafverfahren gegen den Kaufmann Jan Kouril in Karlsruhe

Kopien an:
• Stuttgarter Zeitung
• Bundesverband BRUNA, Heimatverband der Brünner in der BRD e.V.
www.osmip.cz
www.mitteleuropa.de
• Herr Bohumil Doležal

 

 

Hier der gleiche Text auch in tschechischer Sprache

 

 

Lager Klaidovka:
Bericht über den Prozeß gegen Jan Kouril vor dem Schwurgericht in Karlsruhe
Aus »Die Brücke«, Ausgabe vom 10. Juni 1951 (Brünn)

Das Karlsruher Schwurgericht verurteilte in der vorigen Woche den tschechischen Staatsangehörigen Jan Kouril wegen seiner in den Jahren 1945 und 1946 an deutschen Staatsangehörigen und Sudetendeutschen begangenen Verbrechen zu 15 Jahren Zuchthaus. Der 39-jährige Angeklagte wurde für schuldig erklärt, den Sudetendeutschen Kaleus durch einen Spatenhieb totgeschlagen zu haben, an dem gemeinschaftlichen Angriff mit tödlichen Verletzungen auf den Buchhalter Beinhauer beteiligt gewesen zu sein und in weiteren 28 Fällen den Internierten der Brünner Lager Kleidovka, Kaunitz-Kolleg und Julienfeld einfache oder gefährliche Körperverletzungen zugefügt zu haben.
Der Vorsitzende des Schwurgerichts betonte in der Urteilsbegründung, daß das Gericht den Angeklagten in allen jenen Fällen freigesprochen habe, für die keine Augenzeugen vorhanden waren. Milderungsgründe wären jedoch für seine Verbrechen nicht zu finden gewesen, selbst wenn berücksichtigt würde, daß er sie in einer Zeit des Umsturzes verübt habe.

Dieser Karlsruher Prozeß, der im In- und Ausland mit großem Interesse verfolgt wurde, rollte das erstemal die grauenvollen Vorgänge auf, die sich in der Tschechoslowakei und einigen anderen Ländern nach der deutschen Kapitulation abspielten. Unbemerkt von der Weltöffentlichkeit – die damals durch das Bekanntwerden der in den deutschen KZ begangenen Massenmorde erschreckt und empört war – vollzog sich ein neues Drama, das dem anderen an Bestialität kaum nachstand. Als die ersten Nachrichten und Augenzeugenberichte über die Grenzen kamen, schienen sie ebenso unglaubhaft und übertrieben wie einst die Berichte aus den deutschen KZ. Und wie sich heute noch ein Teil der deutschen Bevölkerung weigert, den Umfang der im „Dritten Reich“ begangenen Quälereien und Massenmorde zu glauben, weigert sich auch ein großer Teil der Weltöffentlichkeit, den vollen Umfang der Katastrophe im Jahre 1945 als eine Tatsache zur Kenntnis zu nehmen.

So liegt denn auch die Bedeutung dieses Prozesses nicht so sehr darin, daß einer der Schuldigen zur Rechenschaft gezogen wurde, sondern daß diese Vorgänge – wenn es sich auch nur um einen kleinen Ausschnitt handelte – das erstemal von einem Gericht untersucht und bestätigt wurden.

Der Prozeß war wahrscheinlich nur deshalb möglich, weil der Angeklagte nicht aus politischen Gründen, sondern aus persönlichen Motiven nach Westdeutschland kam. Während seiner „Tätigkeit“ in den Lagern verliebte er sich in ein gefangenes deutsches Mädchen, das er später heiraten wollte. Da er für sie jedoch den Aufenthalt in der Tschechoslowakei nicht erreichen konnte, reiste er ihr nach Westdeutschland nach.

Im Jahre 1949 wurde einem in München tätigen Dentisten von einem Insassen eines IRO-Lagers Bruchgold zum Verkauf angeboten. Als der Dentist später mit dem Verkäufer zusammentraf, erkannte er in diesem den früheren stellvertretenden Kommananten des Lagers Kleidovka, Jan Kouril, wieder, der einen Beutel ausgebrochener Goldzähne und Brücken an den Mann bringen wollte. Später wurde Kouril, der sich unangemeldet in dem badischen Dorf Spöck aufhielt, von Heimatvertriebenen gesehen und bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Im Verlaufe der Ermittlungen meldeten sich über 200 Menschen, die damals in den angegebenen Lagern gefangengehalten wurden. Kouril konnte aus der ihm vorgelegten Namensliste nicht einen einzigen Entlastungszeugen benennen. Die Vernehmung der Zeugen war ein Aufzählen von Quälereien, wie sie zu allen Zeiten begangen worden sind, wenn Sadismus und Menschenjagd zur patriotischen und religiösen Pflicht gemacht wurden.

Kouril war der Schrecken des Lagers. Auf seinen Befehl wurde geschlagen, getreten und gefoltert. Durch Prügel wurden die Gefangenen gezwungen, mit Urin und Blut gefüllte Eimer auszutrinken. Zur Belustigung der Wachmannschaften mußten Nackttänze aufgeführt werden. An einem tschechischen Nationalfeiertag wurden Gefangene zur allgemeinen Belustigung an einem Galgen auf- und niedergezogen. Andere wurden mit einem glühenden Eisen gebrandmarkt. Ein Zeuge wurde im Vernehmungslokal mit dem Gesicht in eine Abortschüssel gedrückt, wobei er das Deutschlandlied singen mußte.
Der einstige Totengräber des Lagers Kaunitz-Kolleg gab an, während seiner Tätigkeit die Leichen von etwa 1800 aufgehängten und erschlagenen Deutschen, darunter 250 den Tschechen übergebenen Soldaten, abtransportiert zu haben.

Der Angeklagte leugnete alle ihm zur Last gelegten Verbrechen und gab lediglich eine, dann drei und schließlich hundert Ohrfeigen zu. Seine stereotype Antwort war: „Der Zeuge berichtet Märchen. Er wird schwachsinnig sein, ich kenne ihn gar nicht.“ „Der Zeuge gräbt sich selbst eine Grube mit seinen Lügen.“ „Die Aussagen der Zeugen sind eine große Schande“, usw.

Es ist interessant, aber nicht überraschend, daß der Verteidiger Kourils zur Entschuldigung dieselben Argumente vorgebracht hat, der sich auch die wegen Verbrechen angeklagten Gestapoleute usw. bedienen. Danach sei Kouril als ein Opfer zu betrachten, der dem Befehl seiner Regierung spontan Folge geleistet habe. Der Staatsanwalt hielt zwar auch die Haltung der damaligen tschechischen Regierung für die Ursache der deutschen Passion, bei dem Angeklagten seien jedoch, so führte er weiter aus, keine politischen Taten, sondern Verbrechen abzuurteilen, für die in den Gesetzbüchern aller Staaten harte Strafen vorgesehen sind.

Das Gericht schloß sich im wesentlichen der Auffassung des Staatsanwaltes an. Der Prozeß, so sagte der Vorsitzende, Dr. Ernst, habe die Leidenszeit eines Volksstammes enthüllt, der über Nacht ausgerottet werden sollte. Die Schuld dürfe jedoch nicht dem gesamten tschechischen Volke zugeschoben werden, denn es sei der Mob und der Pöbel gewesen, der sich auf die Deutschen stürzte. Man müsse jedoch auch, so sagte er weiter, daran denken, daß einzelne Deutsche durch das, was sie einst den Tschechen antaten, schuldig seien an den Vorgängen in der Tschechoslowakei nach der Kapitulation.

Der Angeklagte, dem unter der deutschen Herrschaft kein Haar gekrümmt worden sei, wie er selbst zugab, sei kein tschechischer Patriot gewesen, sondern er habe sich als Sklavenhalter angeboten, um nachträglich seine nationale Gesinnung nachzuweisen. Als sadistisch und grausam veranlagter Mensch hat er an dem blutigen Handwerk, das in den tschechischen Internierungslagern ausgeübt wurde, seine Freude gehabt. Konzentrationslager sind schon an sich zu verabscheuen, wenn sie aber zu einer Stätte gemacht werden, in der sich die Grausamkeit austoben darf, dann kann man sie nur als eine Schande der Menschheit bezeichnen.

Anmerkung des Herausgebers:
Die Gerichtsakte des Jan Kouril ist erhalten und kann erst 10 Jahre nach dem Tod des Massenmörders veröffentlicht werden.
Jan Kouril habe sich nach seiner Entlassung aus der Karlsruher Haft nach Hamburg begeben.
Kann jemand feststellen, ob derselbe noch lebt, oder aber wann und wo sein Tod amtlich verzeichnet wurde?
ML 2004-05-01

Das Buch „Nemci ven!“ erschien bereits im Jahre 2000 in dritter Auflage. Die erste tschechische Ausgabe sei vergriffen, heißt es.