KK 1112/1113 vom 30. Mai 2000/ 12
Aus dem Abseits herausgeholt
Flucht und Vertreibung wird Pflichtlehrstoff in Baden-Württemberg
Die ostdeutschen Vertriebenen sind für die Erweiterung der EU nach Ostmitteleuropa
Brückenbauer und daher wertvollstes Saatgut für das geeinte Europa. Mit diesen
Worten begrüßte der Landesbeauftragte für Vertriebene und Flüchtlinge, Staatssekretär
Willi Stächele MdL, am 9. Mai 2000 in der Villa Reitzenstein, dem Dienstsitz des
baden-württembergischen Ministerpräsidenten in Stuttgart, 26 Vertreter der ostdeutschen
Vertriebenenpresse, darunter der Kulturpolitischen Korrespondenz.
Im Mittelpunkt der Arbeitstagung stand die höchst erfreuliche Aussage Stächeles, daß
die Vertreibung der Ostdeutschen aus ihrer angestammten Heimat künftig Pflichtlehrstoff
an den baden-württembergischen Schulen werden wird. Angesichts der traurigen Aktualität
von Vertreibungen im Europa unserer Tage sei eine entsprechende Vereinbarung mit der
Kultusministerin Annette Schavan bereits getroffen worden: Die Jugend könne nur dann
Lehren aus der Geschichte für ihr eigenes Leben ziehen, wenn sie wisse, was die
Vertreibung ihrer Eltern und Großeltern aus dem deutschen Osten, aus Eger und Stettin,
aus Breslau, Danzig, Königsberg und Stolp wirklich bedeutet habe und noch heute, durch
den Heimatverlust, bedeute. Deshalb erhielten die Organisationen der Heimatvertriebenen in
Baden-Württemberg gerade jetzt, da sie durch eine verantwortungslose Kulturpolitik des
Bundes in die Bedeutungslosigkeit, ja bis in die Verzweiflung getrieben würden,
jedenfalls von Stuttgart aus eine neue, zukunftverheißende Aufgabe. Es verstehe sich von
selber, daß die bisherigen Landesmittel für die Vertriebenenförderung in Höhe von 9,4
Millionen DM aufrechterhalten blieben. Zur Vorbereitung des neuen Pflichtlehrstoffes an
den Schulen werde eine eigene Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Bund der
Vertriebenen und dem Haus der Heimat in Stuttgart erarbeitet werden,
wofür auch die vor etwa 30 Jahren von der Stiftung Haus des deutschen Ostens
in Düsseldorf nach Baden-Württemberg übernommene Informationsschau über die Deutschen
im Osten Leistung und Schicksal (das Begleitbuch ist 1967 bei Böhlau in Köln
erschienen), die damals der heutige Präsident der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat,
Professor Dr. Eberhard G. Schulz, wissenschaftlich gestaltet hat, herangezogen werden
kann.
Die baden-württembergische Initiative, die Vertreibung der Ostdeutschen neu im
Bewußtsein der Jugend zu verankern, ist eine der lobenswertesten Taten im
Vertriebenenbereich seit Jahrzehnten. Sie verfolgt sicherlich auch den Zweck, die
Vertriebenen verstärkt wieder am politischen Geschehen als aktive Partner teilhaben zu
lassen, sie also aus der Wahlenthaltung und aus dem politischen Abseits herauszuholen. Die
Landtagswahl 2001 wirft also bereits jetzt ihre Schatten voraus. Völlig zu Unrecht,
so Staatssekretär Stächele abschließend, sind die deutschen Vertriebenen
jahrzehntelang geradezu offiziell vergessen und verdrängt worden, obwohl wir ihnen doch
in allen Teilen Deutschlands den raschen Wiederaufstieg nach der Niederlage von 1945 aus
den Trümmerwüsten unserer Städte verdanken.
Albrecht Jebens (KK)
Quelle: KK1112/1113 Seite 11. 2000-05-30