Der vollständige Wortlaut nach der beglaubigten Übersetzung der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
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— Staatswappen — Pl. US 14/94

TSCHECHISCHE REPUBLIK

ENTSCHEIDUNG

des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik

Im Namen der Tschechischen Republik

00 Das Verfassungsgericht hat im Plenum in der Zusammensetzung: JUDr. Iva Brozova, Prof. JUDr. Vojtech Cepl, CSc., Prof. JUDr. Vladimjr Cermak, JUDr. Vojen Güttler, Doz.JUDr. Pavel Holländer, Dr.Cs., JUDr. Milos Holecek, JUDr. Ivana Janu, JUDr. Vladimir Jurka, JUDr. Zdenek Kessler, Prof.JUDr. Vladimir Klokocka, DrCs., JUDr. Vladimir Paul, CSc., JUDr. Antonin Prochazka, JUDr. Pavel Varvarovsky, JUDr. Eva Zarembova, in der Sache Antrag auf Aufhebung des Dekretes des Präsidenten der Republik Nr. 108/1945 Slg., über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung, gestellt von Rudolf Dreithaler, wohnhaft Hlávkova 874, Reichenberg 13, vertreten durch JUDr. Kolja Kubicek, Anwalt der Anwaltskanzlei mit Sitz in Prag 6, Bubeneské 22, unter Beteiligung der Abgeordnetenkammer des Parlaments der Tschechischen Republik als Verfahrensteilnehmer, und der Nebenkläger

1) Richard Bouška, wohnhaft Anensé namestí 1, Prag 1, vertreten durch Ladislav Mifek, Anwalt der Anwaltskanzlei Bubenské nabrezí 11, 170  Prag 7,

2) JUDr. Jan Slaba, wohnhaft Prag 8, Radomská 473, vertreten durch JUDr. Václav Buben, Anwalt der Anwaltskanzlei Prag 2, Korunní 18,

wie folgt entschieden:

Der Antrag wird abgelehnt.

Begründung:

01   Unter Hinweis auf § 74 Gesetz Nr. 182/1993 Slg. hat Rudolf Dreithaler gegen das Urteil des Kreisgerichts in Aussig, Nebenstelle Reichenberg, vom 26. 10. 1993, Gesch. Nr. 29 Co 647/93-30, Verfassungsbeschwerde erhoben und zugleich auch einen Antrag auf Einleitung eines Verfahrens gemäß § 64 Abs. 1 Buchst. d) des zitierten Gesetzes gestellt. In seinem Antrag führt er aus, daß die Erklärungen des Kreisgerichts in Aussig, das Dekret Nr. 108/1945 Slg. sei ein gültiger Bestandteil „unserer Rechtsordnung“ und dieses Dekret sei als „der Gesetzesakt, auf dessen Grundlage das Vermögen konfisziert wurde“, anzusehen, im Widerspruch sowohl zum derzeit als auch zu dem im Jahre 1945 geltenden Verfassungsrecht stehen. Nach der Verfassungsurkunde aus dem Jahr 1920 habe die gesetzgebende Gewalt nur der Nationalversammlung und ihren beiden Kammern zugestanden. Ein 24 Mitglieder zählender Exekutivausschuß, zusammengesetzt aus 16 Mitgliedern der Abgeordnetenkammer und 8 Mitgliedern des Senats, habe in der Zeit der Auflösung einer der Kammern und/oder nach Ablauf ihrer Legislaturperiode bis zum erneuten Zusammentreten der Kammern und ferner in der Zeit, in der ihre Sitzung vertagt oder beendet worden sei, unaufschiebbare Maßnahmen getroffen und die Regierungs- und Exekutivgewalt ausgeübt, selbst wenn es dazu sonst eines Gesetzes bedurft hätte. Dieser Ausschuß sei in allen Angelegenheiten zuständig gewesen, die zur gesetzgebenden Befügms der Nationalversammlung gehörten, aber nicht einmal dieser Ausschuß habe die Berechtigung besessen, Verfassungsgesetze zu ändern oder mit seinen Maßnahmen neue dauerhafte finanzielle Verpflichtungen einzugehen oder Staatseigentum zu veräußern.

02    Kein anderes Verfassungsorgan, außer der ebengenannten Nationalversammlung bzw. ihrem 24 Mitglieder starken Exekutivausschuß, habe gesetzgebende Gewalt innegehabt. Es komme also gar nicht darauf an, ob Dr. Edvard Beneš in der entscheidenden Zeit, in der er die Dekrete verfaßte, überdies Präsident gewesen sei (Präsident war er nach der Rechtsauffassung des Antragsstellers nicht und konnte es auch nicht sein, da er am 5. 10. 1938 zurückgetreten und ihm ein anderer, rechtmäßig gewählter Präsident der Tschechoslowakischen Republik nachgefolgt sei), denn weder als Privatperson noch als Präsident der Tschechoslowakischen Republik habe er gesetzgebende Gewalt besessen. Jedwede von ihm erlassenen Akte seien also allenfalls Verwaltungsakte der Regierungs- oder Exekutivgewalt gewesen, die in Widerspruch zum damals gültigen Verfassungsrecht gestanden hätten und somit von Anfang an nichtig gewesen seien. Sofern die sozialistische Rechtswissenschaft und unmittelbar vor ihr auch die durch die sogenannte nationale sozialistische Revolution, die sich angeblich 1945 vollzogen habe, beeinflußte Rechtswissenschaft damals seine Akte als Akte der revolutionären Gesetzgebung bezeichnet habe, so sei anzumerken, daß es gar keine revolutionäre Gesetzgebung, sondern lediglich revolutionäre Gewalt ohne Gesetz gebe. Diese Akte seien, so gesehen, also höchstens Akte der Gewalt und nicht Akte des Rechtes gewesen. In Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundprinzipien wurde hier einer Person zugestanden, gleichzeitig Gesetzgeber und Regierungs- und Exekutivgewalt zu sein. Das Dekret Nr. 108/1945 Slg., das im zitierten Urteil des Kreisgerichtes in Aussig, Nebenstelle Reichenberg, Anwendung fand, widerspreche den Artikeln 2, 3, 4, 11 und 24 der Charta der Menschenrechte und Grundfreiheiten, welche die Anwendung und Grenzen der Staatsgewalt, die Nationalitätenrechte, die Grenzen der Grundrechte und -freiheiten, wie auch das Recht auf Eigentum betreffen.

03   Aus allen diesen Gründen beantragt der Antragsteller, das Verfassungsgericht möge das Dekret Nr. 108/1945 Slg. zu einem von Anfang an nichtigen Akt erklären. Falls das Verfassungsgericht entgegen den Rechtsgrundsätzen der zivilisierten Gesellschaften Europas meint, es handele sich um einen Rechtsakt, ja sogar um ein Gesetz, beantragt er, diese Rechtsnorm aufzuheben.

04   Der Nebenkläger Richard Bouška hat in seinem Antrag auf Aufhebung der Bestimmung § 2 Abs. 5 Dekret Nr. 108/1945 Slg. ausgeführt, daß diese Norm in ihrer Art und Zielrichtung undemokratisch und in ihrem Grundsatz inhuman sei. Damit sich der Staat nicht mit eventuellem Miteigentum in Fällen, in denen die Bedingungen des Dekrets nur einen Teil der Immobilien beträfen, habe aufhalten müssen, sei ihm die Legislative mit dieser kulturlosen Konstruktion zu Hilfe gekommen. Dem betroffenen Miteigentümer sei die Möglichkeit genommen worden, sich dagegen zu wehren. Dieser Grundsatz des bezeichneten Dekretes stehe in direktem Widerspruch sowohl zu Artikel 17 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Verbindung mit Artikel 55 Buchstabe c der UNO-Charta, als auch zu Artikel 1 Abs. 1 des Zusatzprotokolls vom 20. März 1952 zum Abkommen über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, als auch zur Deklaration der Rechte der Kinder, besonders zu den Grundsätzen von Artikel Nr. 2 und 8, da der Antragsteller zum Zeitpunkt der Konfiskation minderjährig gewesen sei.

05   Der Nebenkläger JUDr. Jan Slaba führte in seinem Antrag auf Aufhebung der Bestimmungen §§ 1 und 2 Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 108/1945 Slg. aus, daß Dr. Beneš im Jahre 1945 nicht berechtigt gewesen sei, Präsidentendekrete zu erlassen, da er zu dieser Zeit nicht gemäß der Verfassung von 1920 von der Nationalversammlung zum Präsidenten gewählt gewesen sei.

06   Die Abgeordnetenkammer der Tschechischen Republik, vertreten durch ihren Vorsitzenden PhDr. Milan Uhde, erklärte, das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 108/1945 Slg. sei im Rahmen der Kompetenzen des Staatsoberhauptes zu einer Zeit erlassen worden, zu der die Nationalversammlung nicht konstituiert gewesen sei, und es stelle einen gültigen Bestandteil unserer Rechtsordnung dar. Die Berechtigung des Präsidenten der Republik, während der Geltung der provisorischen Staatsordnung in unvermeidlichen Fällen, auf Vorschlag der Regierung, Vorschriften in Form von Dekreten zu erlassen, die vom Ministerpräsidenten bzw. von den für ihre Durchführung zuständigen Regierungsmitgliedern mitunterschrieben wurden, wodurch Gesetze geändert, aufgehoben oder neu erlassen wurden, sei durch das Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik vom 15.10.1940, Tschechoslowakisches Amtsblatt Nr. 2, über die vorläufige Ausübung der gesetzgebenden Gewalt, das in der Sammlung der Gesetze und Verordnungen des tschechoslowakischen Staates unter der Nr. 20/1945 veröffentlicht wurde, gegeben gewesen. Alle Dekrete des Präsidenten der Republik seien schließlich durch die Provisorische Nationalversammlung der Tschechoslowakischen Republik gebilligt worden, und zwar durch Verfassungsgesetz Nr. 57 vom 28. März 1946, durch das alle Dekrete des Präsidenten der Republik verabschiedet und ihnen Gesetzeskraft verliehen worden sei. Die Dekrete des Präsidenten der Republik seien also auf verfassungsmäßige Art und Weise erlassen und gebilligt worden und seien ein gültiger Bestandteil unserer Rechtsordnung.

07   Der Senat des Verfassungsgerichts, der sich mit der Verfassungsbeschwerde von Rudolf Dreithaler befaßte, hat mit Beschluß vom 27. Mai 1994 Gesch.Nr. IV. US 56/94-15 gemäß § 78 Abs. 1 Gesetz Nr. 182/1993 Slg., über das Verfassungsgericht, das Verfahren unterbrochen und den Antrag auf Aufhebung des Dekretes Nr. 108/1945 Slg., über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung, gemäß Artikel 87 Abs. 1 Buchstabe a) der Verfassung, an das Plenum des Verfassungsgerichts zur Entscheidung weitergeleitet.

08   Das Plenum des Verfassungsgerichts befaßte sich in erster Linie mit der Frage der Erfüllung der Bedingungen der Bestimmung § 74 des Gesetzes Nr. 182/1993 Slg. über das Verfassungsgericht, mit der der Antragsteller seinen Antrag begründete. Diese Bestimmung stellt fest, daß gleichzeitig mit einer Verfassungsbeschwerde auch ein Antrag auf Aufhebung eines Gesetzes oder einer anderen Rechtsvorschrift oder einer ihrer einzelnen Bestimmungen gestellt werden kann, wenn durch ihre Anwendung die Tatsache entstanden ist, die Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist, sofern sie nach Behauptung des Beschwerdeführers im Widerspruch zu einem Verfassungsgesetz oder zu einem internationalen Abkommen gemäß Artikel 10 der Verfassung, evtl. zu einem Gesetz, wenn es sich um eine andere Rechtsvorschrift handelt, stehen. In diesem Punkt kam das Plenum des Verfassungsgerichts zu dem Schluß, daß die Bedingung, die sich auf die Berechtigung, einen Antrag auf Aufhebung eines Gesetzes oder einer anderen Rechtsvorschrift zu stellen, bezieht, in der zu verhandelnden Sache erfüllt wird.

09  Die erste Grundsatzfrage in der zu verhandelnden Sache ist die Frage, ob das angefochtene Dekret des Präsidenten der Republik, nämlich das Dekret vom 25. 10. 1945 Nr. 108/1945 Slg., über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung, im Rahmen der legitim festgelegten Kompetenzen erlassen wurde, oder ob dies, wie der Antragsteller behauptet, im Widerspruch zu den Grundsätzen eines Rechtsstaates geschah, weil seine Verabschiedung durch das Organ der Exekutivgewalt in Widerspruch zu damals geltendem Verfassungsrecht erfolgte. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß das Fundament, auf dem die Rechtsordnung der Tschechoslowakischen Republik ruhte, durch das Gesetz Nr. 11 vom 28. 10. 1918, über die Errichtung eines selbständigen tschechoslowakischen Staates, gebildet wurde. Dieses Fundament des tschechoslowakischen Rechtes konnte keinesfalls durch die deutsche Okkupation in Frage gestellt werden, nicht nur, weil die Vorschriften der Artikel 42 bis 56 der „Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkrieges", einer Anlage des IV. Haager Abkommens vom 18. 10. 1907, genaue Grenzen ziehen, in denen ein Besatzer die Staatsgewalt auf dem Territorium eines besetzten Staates ausüben darf, sondern vor allem deshalb, weil das Deutsche Reich als totalitärer Staat, gelenkt nach dem Prinzip des Rosenberg-Satzes – Recht ist das, was der deutschen Ehre dient – eine Rechtsordnung errichtet hatte und eine Staatsgewalt ausübte, die sich im Grunde bereits abseits der materiellen Wertebasis dieser Grenzen befand.

10   Diese Tatsache bringen treffend zwei Reichsgesetze aus dem Jahre 1935 zum Ausdruck, nämlich das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre und das Reichsangehörigkeitsgesetz, in denen besondere Betonung auf die Reinheit des deutschen Blutes als Voraussetzung für die weitere Existenz des deutschen Volkes gelegt wird und in denen als Reichsbürger nur derjenige Staatsangehörige deutschen oder anverwandten Blutes definiert wird, der durch sein Verhalten (Hervorhebung im Original – der Übersetzer) beweist, daß er bereit und in der Lage ist, treu dem deutschen Volk und Reich zu dienen. Dagegen wird in der Verfassungsurkunde von 1920 ein verfassungsmäßiger Anspruch auf das demokratische Wesen des tschechoslowakischen Staates zwar als Begriff politisch-wissenschaftlichen Charakters (was juristisch schwer zu definieren ist) formuliert, was jedoch nicht bedeutet, daß er (dieser Begriff – der Übersetzer) metajuristisch ist und somit keine Rechtsverbindlichkeit besitzt. Im Gegenteil, als Grundcharakterzug der Verfassungsordnung bedeutet er in seiner Konsequenz, daß in der Verfassungsurkunde der Tschechoslowakischen Republik von 1920 der Verfassungsgrundsatz der demokratischen Legitimität der Staatsordnung über und vor (Hervorhebung im Original – der Übersetzer) die Forderung formalrechtlicher Legitimität gestellt wurde.

11   Es war also nicht so, daß die tschechoslowakische Rechtsordnung offen der innerstaatlichen Rechtsordnung den Vorrang eingeräumt hätte, daß ihre Verfassung unstreitig den Standpunkt der eigenen absoluten Souveränität und Unabhängigkeit von jedweden anderen Rechtsordnungen vertreten hätte, so daß der tschechoslowakische Verfassungsgesetzgeber, vorausgesetzt, er verletzte dabei nicht die vorgeschriebenen Formen der Normbildung, wirksam was auch immer bestimmen konnte – namentlich ohne Rücksicht auf die Vorschriften des Völkerrechts. Wie bereits festgestellt, wurde in der Verfassungsurkunde von 1920 der Grundsatz der demokratischen Legitimität der Staatsordnung verankert, ein Grundsatz, der bereits in der Präambel dieser Urkunde („denn wir wollen dem Völkerbund als gebildetes, friedvolles, demokratisches und fortschrittliches Mitglied beitreten“) die Bindung an das Wertesystem bekräftigte, das die Grundlage auch der Völkerrechtsordnung bildet. Dieses Wertefundament der Verfassungsurkunde von 1920 und ihre Offenheit gegenüber dem Völkerrecht wird auch ohne jeden Zweifel durch ihre Regelung der Grundrechte und -freiheiten, wie auch ihre Regelung des Schutzes für die nationalen, religiösen und rassischen Minderheiten dokumentiert. Die Wertvorstellungen, wie sie sich während des Zweiten Weltkrieges und kurz danach herausgebildet hatten, beinhalteten im Gegenteil die Überzeugung von der Unerläßlichkeit der Verfolgung des nazistischen Regimes und der Entschädigung oder zumindest Linderung des durch dieses Regime und die Kriegsereignisse verursachten Schadens. Auch in dieser Richtung widerspricht also das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 108/1945 Slg., über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung, „nicht den in diesem Jahrhundert geltenden Rechtsgrundsätzen der zivilisierten Gesellschaften in Europa“, sondern ist ein sich auch auf internationalen Konsens stützender Rechtsakt seiner Zeit.

12   Unter anderem ist in diesen Gesichtspunkten auch der Grund dafür zu suchen, warum der tschechoslowakische Staat und seine Rechtsordnung auch während der Okkupation international anerkannt waren und warum auch die politische Führung im Ausland eine die Kontinuität des tschechoslowakischen Rechts bekräftigende Position vertrat. Durch das erzwungene Verhalten des tschechoslowakischen Staates, angefangen mit der Androhung eines Angriffkrieges seitens Hitlers – was im Widerspruch zu dem in dieser Zeit gültigen und auch selbst Deutschland bindenden Briand-Kellog-Pakt stand, über die Annahme des Münchner Abkommens, über den erzwungenen Rücktritt von Präsidenten Beneš bis hin zur Reise des Präsidenten Hácha nach Berlin, verlor nämlich dieser Staat seine glaubwürdige demokratische Legitimation, denn sein Verhalten wich offensichtlich vom Standpunkt des Verfassungssouveräns, nämlich des Volkes, das seinen Willen, in einem demokratischen Staat leben zu wollen, unter anderem durch die Mobilmachung im Jahre 1938 klar zum Ausdruck gebracht hatte, ab. Eben in dieser Tatsache kann der Grund gesehen werden, warum jeder beliebige dieser unrühmlichen Akte, selbst wenn er in formaler Einhaltung der Verfassungsprozeduren zustande gekommen ist, nicht als legitim anerkannt werden kann. Nach der Zerschlagung der Tschechoslowakischen Republik und ihrer Verfassungsordnung haben die Verhältnisse während einer Reihe von Jahren die demokratische Bildung der Verfassungsgewalt des Volkes auf dem Territorium der Republik unmöglich gemacht. In dieser Hinsicht unterschieden wir uns nicht von einer ganzen Reihe anderer europäischer Länder, deren Exilvertretungen wie auch die durch sie erlassenen Rechtsakte aus den genannten Gründen in breitem Maße international anerkannt wurden, und zwar nach dem allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, daß unter Druck entstandene Akte als nichtig anzusehen sind.

13   Im übrigen ist in der erörterten Sache die Tatsache als entscheidend anzusehen, daß in der Zeit, als schon die in den Verfassungsdekreten des Präsidenten der Republik Nr. 1, Nr. 2 und im Dekret Nr. 4 des Tschechoslowakischen Amtsblattes von 1940, verankerte sogenannte provisorische Staatsordnung der Tschechoslowakischen Republik – repräsentiert durch Präsident, Regierung und Staatsrat – gebildet und auch international anerkannt war, die tschechoslowakische Regierung am 3. 12. 1942 den Beschluß „Über die weitere Gültigkeit des Präsidentenamtes des Präsidenten Dr. Edvard Beneš" mit folgendem Inhalt erlassen hatte: „Der Ministerpräsident Msgre. Dr. Jan Šrámek verkündete in der Sitzung des Ministerrates vom 3. Dezember 1942: Am 18. Dezember 1942 geht die siebenjährige Wahlperiode des bisherigen Präsidenten der Republik, Dr. Edvard Beneš, der auf der Sitzung der Nationalversammlung vom 18. Dezember 1935 ordentlich zum Präsidenten der Republik gewählt wurde, zu Ende. Präsident Dr. Edvard Beneš dankte am 5. Oktober 1938 ab, die tschechoslowakische Regierung hat in Übereinstimmung mit den treuen Bürgern des tschechoslowakischen Staates jedoch diese Abdankung niemals als gültig betrachtet, weil sie rechtswidrig erzwungen wurde. Deshalb blieb der Präsident der Republik Dr. Edvard Beneš seit dem 18. Dezember 1935 ununterbrochen das Staatsoberhaupt des tschechoslowakischen Staates und er wird von den Regierungen der Vereinten Nationen sowie auch von den Regierungen anderer Staaten als Staatsoberhaupt anerkannt. Ferner erklärte der Ministerpräsident, daß gemäß § 1 des Gesetzes Nr. 161/1920 der Ministerpräsident die Sitzung der Nationalversammlung zur Wahl des Präsidenten der Republik einzuberufen hat, und er somit kraft Gesetzes beauftragt ist, sich um die rechtzeitige Wahl des neuen Präsidenten zu kümmern. In Hinblick auf Absatz 3 § 58 der Verfassungsurkunde und § 2 des Gesetzes Nr. 161/1920 soll die Wahlsitzung der Nationalversammlung frühestens 4 Wochen und spätestens 14 Tage vor dem Ende der Wahlperiode des Präsidenten einberufen werden. Weil eine solche Sitzung aufgrund der gegebenen Umstände nicht einberufen werden kann, schlägt der Ministerpräsident vor, die Regierung möge wie folgt beschließen: Gemäß Absatz 5 § 58 der Verfassungsurkunde, der lautet: ‚Der bisherige Präsident bleibt im Amt, solange ein neuer Präsident nicht gewählt wurde‘, verbleibt der bisherige Präsident der Republik Dr. Edvard Beneš, der am 18. Dezember 1935 durch die Nationalversammlung ordentlich gewählt wurde, solange im Amt, bis die Wahl des neuen Präsidenten durchgeführt werden kann. Der Regierungsbeschluß erfolgte einstimmig, dem Ministerpräsidenten wurde auferlegt, diesen Beschluß dem Präsidenten der Republik, dem tschechoslowakischen Volk, dem Staatsrat und der internationalen Offentlichkeit bekanntzumachen“. (Tschechoslowakisches Amtsblatt Jahrgang III. 1942, Seite 17).

14   Zu dem angeführten Beschluß der tschechoslowakischen Regierung ist anzumerken, daß es zum Rücktritt des Präsidenten Dr. Edvard Beneš in „der Zeit der Unfreiheit“ kam, womit der Zeitraum vom 30. September 1938 bis zum 04. Mai 1945 verstanden wird (Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik vom 3. August 1944 Nr. 11/1944, Tschechoslowakisches Amtsblatt, Anlage zur Bekanntmachung des Innenministers Nr. 30/1945 Slg., Regierungsverordnung Nr. 31/1945 Slg.), in dem Zeitraum nach dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938, das in Artikel 1 des Vertrages über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, veröffentlicht durch Bekanntmachung Nr. 94/1974 Slg., für nichtig erklärt wurde (die Nichtigkeit des Münchner Abkommens vom 29. September 1938 wurde auch in dem Vertrag zwischen der Tschechischen und der Slowakischen Föderativen Republik und der Bundesrepublik Deutschland über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, veröffentlicht unter der Nr. 521/1992 Slg., bestätigt, gleichzeitig wird die Tatsache anerkannt, daß der tschechoslowakische Staat seit 1918 niemals aufgehört hat zu existieren). Die provisorische Staatsordnung der Tschechoslowakischen Republik, repräsentiert durch den Präsidenten, die Regierung und seit dem 21. Juli 1940 auch durch den Staatsrat, erfuhr neben der internationalen Anerkennung auch die Unterstützung seitens der inländischen und ausländischen Widerstandsbewegung und allgemein seitens des tschechoslowakischen Volkes. Was die internationale Anerkennung anbelangt, ist an erster Stelle der Brief des britischen Außenministers Halifax an den Präsidenten Beneš vom 21. Juli 1940 anzuführen, in dem mitgeteilt wird, daß „in Antwort auf die Bitte des Tschechoslowakischen Nationalausschusses die Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich mit Freude die provisorische tschechoslowakische Regierung, die von dem Tschechoslowakischen Nationalausschuß in diesem Land gebildet wurde, anerkennt und mit ihr Beziehungen aufnimmt" (Tschechoslowakisches Amtsblatt, Jahrgang 1, Nr. 10, Seite 4).

15   Im Brief von A. Eden vom 18. Juli 1941 an den Minister Jan Masaryk wird geschildert, daß der König beschlossen habe, bei Dr. Beneš als dem Präsidenten der CSR, einen Sonderbotschafter zu akkreditieren, und daß die britische Regierung die rechtliche Stellung des Präsidenten und der Regierung der CSR als identisch mit der Stellung der alliierten Staatsoberhäupter und Regierungen ansieht. In dem Brief von F. D. Roosevelt an Dr. Beneš vom 30. Juni 1941 wird als „Adressat" Dr. Edvard Beneš, Präsident der tschechoslowakischen provisorischen Regierung, angegeben. Am 26. Oktober 1942 teilten die Vereinigten Staaten von Amerika Minister Jan Masaryk offiziell mit, daß die völkerrechtliche Anerkennung durch die Vereinigten Staaten als vollständig und definitiv zu betrachten ist. Auch die Sowjetunion hat die tschechoslowakische provisorische Regierung im Juli 1941 voll anerkannt. Die durch die provisorische Regierung in London de iure vertretene Tschechoslowakische Republik haben somit, neben Großbritannien, noch 27 weitere Staaten anerkannt, entweder durch ausdrückliche Anerkennung oder durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Obwohl ihre Organe die Staatsgewalt auf dem besetzten Territorium nicht ausüben konnten, besaß die Tschechoslowakische Republik ihre eigene Auslandsarmee, erklärte den Achsenmächten den Krieg und wurde einer der Gründer der UNO.

16   Die Tendenz zur Bewahrung der Rechtskontinuität mit der tschechoslowakischen Rechtsordnung drückte Dr. Beneš besonders in seiner Rede vom 24. Juli 1940 aus, also drei Tage nach der Anerkennung der provisorischen tschechoslowakischen Regierung durch die britische Regierung, in der er wörtlich ausführte: „Da wir München und alles daraus Resultierende nicht anerkennen, haben wir den Grundsatz verteidigt – und verteidigen ihn auch weiter – daß die Tschechoslowakische Republik, die Republik Masaryks, auch nach München weiterhin lebte und existierte. Unser gesamtes Rechtssystem besteht völkerrechtlich und auch politisch weiter, nach unserem Verständnis habe ich, de iure, mein Amt und unsere Heimat nicht verlassen, wurde unsere Republik nicht zerschlagen, rechtlich und politisch erkennen wir nichts an, was bei uns nach dem 15. März 1939 der gewalttätige Nazismus begangen hat. Ich verkünde feierlich diese unseren politischen und rechtlichen Grundsätze und betone, daß sie für uns alle gelten, für die Angehörigen unseres Staates und unseres Volkes, für Tschechen, Slowaken, Deutsche und Karpatorussen, und auch alle anderen bei uns daheim. Ferner erkläre ich alles das, wozu wir seit München ungesetzlich und verfassungswidrig gezwungen wurden, für nicht existent und unrechtmäßig."

17   In voller Übereinstimmung mit dieser Erklärung von Beneš befindet sich das Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik vorn 21. Juli 1940 über die Konstituierung des Staatsrates als Beirat der Provisorischen Staatsordnung der Tschechoslowakischen Republik (Tschechoslowakisches Amtsblatt Nr. 1 vom 04. Dezember 1940), sowie das Verfassungsdekret vom 15. Oktober 1940, Tschechoslowakisches Amtsblatt Nr.2, über die provisorische Ausübung der gesetzgebenden Gewalt (veröffentlicht unter der Nr. 20/1945 Slg.), das in der Bestimmung von § 1 die technische Unmöglichkeit konstatiert, das normbildende Verfahren gemäß Kapitel zwei der Verfassungsurkunde einzuhalten (solange die Bestimmung des zweiten Kapitels der Verfassungsurkunde vom 29. Februar 1920 über die Legislative nicht anwendbar ist, wird der Präsident der Republik gemäß § 64 Nr. 1 und Nr. 3 der Verfassungsurkunde die ihm auferlegten Handlungen, zu denen die Zustimmung der Nationalversammlung notwendig wäre, mit Zustimmung der Regierung durchführen); gleichzeitig wird in der Bestimmung § 2 bekannt gegeben, daß nur für diese Zeit die die Gesetze ändernden, aufhebenden oder Gesetze neu verkündenden Vorschriften in unerläßlichen Fällen, während der Dauer der Gültigkeit der provisorischen Staatsordnung auf Vorschlag der Regierung durch den Präsidenten der Republik in Form von Dekreten erlassen werden, die vom Ministerpräsidenten bzw. den für die Durchführung zuständigen Regierungsmitgliedern mitunterzeichnet werden. Dieses Dokument deutet klar darauf hin, daß man beabsichtigte, sobald wie möglich auch bei der Gesetzgebung zu dem in der Verfassungsurkunde von 1920 angeführten Verfahren zurückzukehren, und es geht also von der Gültigkeit der Verfassungsurkunde von 1920 aus und davon, daß die Legislative nach der Befreiung der Republik gemäß Kapitel zwei dieser Verfassungsurkunde wiederhergestellt wird. Die Gültigkeit der Bestimmung § 2 des Verfassungsdekretes des Präsidenten der Republik vom 15. Oktober 1940, Tschechoslowakisches Amtsblatt Nr. 2, über die provisorische Ausübung der gesetzgebenden Gewalt, wurde durch das Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik vom 22. 2. 1945 Nr. 3/1945, Tschechoslowakisches Amtsblatt, über die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt in der Übergangszeit, verlängert, und zwar solange, bis sich die provisorische gesetzgebende Versammlung der Tschechoslowakischen Republik konstituiert hat.

18   Was den gesetzgebenden, die Dekrete des Präsidenten der Republik betreffenden Prozeß selbst angeht, muß festgestellt werden, daß die Dekrete von der Regierung vorbereitet und in der Regel auch vom Staatsrat erörtert wurden. Nach der Bestimmung von Artikel 3 des Verfassungsdekretes vom 27. Oktober 1942 Nr. 12/1942, Tschechoslowakisches Amtsblatt, mußte der Präsident der Republik bei der Ausübung der gesetzgebenden Gewalt „die beratende Stellungnahme des Staatsrates einholen, falls dies nicht bereits die Regierung im Rahmen der Vorbereitung des obliegenden Vorschlages getan hat". Nach der Auflösung des Staatsrates zum 04. April 1945 (Bekanntmachung des Ministerpräsidenten vom 04. April 1945, Nr. 2/1945 Slg.) wurden die Dekrete – je nach Sachverhalt und nach dem territorialen Geltungsbereich – auch im Slowakischen Nationalrat verhandelt. In Übereinstimmung mit diesen Regeln wurden die Dekrete immer mit dem Hinweis eingeleitet, daß sie „auf Vorschlag der Regierung", „nach Anhörung des Staatsrates" oder „nach Vereinbarung mit dem Slowakischen Nationalrat" erlassen wurden. Sie wurden, genauso wie die Gesetze, vom Ministerpräsidenten und den mit ihrer Durchführung betrauten Regierungsmitgliedern, im Falle eines Verfassungsdekretes von allen Regierungsmitgliedern mitunterzeichnet (§ 2 des Verfassungsdekretes Nr. 2/1940, Tschechoslowakisches Amtsblatt, über die provisorische Ausübung der gesetzgebenden Gewalt). Gegeben war ihr spezifischer Charakter lediglich durch die Ausnahmesituation, die die deutsche Okkupation geschaffen hatte, während der die Ausübung jeglicher Staatsgewalt, einschließlich der gesetzgebenden Gewalt, nicht möglich war. In der gegebenen historischen Situation und dem historischen Zusammenhang stellten die Dekrete die einzige Möglichkeit dar, Entscheidungen mit Gesetzeskraft und -gewalt zu treffen. In vergleichbarer Weise haben sich auch andere okkupierte Länder mit dem gesetzgebenden Prozeß während der Zeit der deutschen Okkupation auseinandergesetzt. Hier ist es nicht ohne Bedeutung, auf das Gesetz Nr. 11 vom 28. Oktober 1918, über die Errichtung eines selbständigen tschechoslowakischen Staates, hinzuweisen, das durch den Nationalausschuß erlassen wurde und trotzdem zur Grundlage der Rechtsordnung der Tschechoslowakischen Republik wurde.

19   Die Tendenz, zum gesetzgebenden Prozeß nach Kapitel zwei der Verfassungsurkunde zurückzukehren, kommt auch in der Bestimmung § 1, Dekret des Präsidenten der Republik vom 26. Oktober 1940 Nr. 4, Tschechoslowakisches Amtsblatt, über die Regelung der öffentlichen Bekanntmachung der neu beschlossenen Rechtsbestimmungen der tschechoslowakischen Regierung, deutlich zum Ausdruck, in der festgelegt wird, daß bis zur Erneuerung eines geregelten Verfassungslebens der Tschechoslowakischen Republik für die Veröffentlichung neuer Rechtsbestimmungen der tschechoslowakischen Regierung, neben der Sammlung der Gesetze und Verordnungen, auch das Tschechoslowakische Amtsblatt bestimmt wird. Der Grundsatz der formalen Rechtskontinuität mit der Rechtsordnung vor dem Münchner Abkommen findet sich auch in der Erklärung des Präsidenten gemäß § 64 Abs. 1 Nr. 3 der Verfassungsurkunde, über den Kriegszustand zwischen der Tschechoslowakischen Republik und den Staaten, die sich im Krieg mit Großbritannien, der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken und den Vereinigten Staaten von Amerika befinden (Tschechoslowakisches Amtsblatt, Jahrgang III, Nr. 1, 5. 7), ebenso wie in den Akten der Amnestie und Abolition, die der Präsident der Republik am 24. Dezember 1941 auf der Grundlage des ihm durch die Bestimmung von § 64 Abs. 1 Nr. 11 der Verfassungsurkunde gegebenen Rechts im Bereich der Militärgerichtsbarkeit und des militärischen Disziplinarverfahrens, bzw. im Bereich des Militärstrafrechts, erlassen hatte (siehe ebenfalls Tschechoslowakisches Amtsblatt, Jahrgang III, Nr. 1, 5. 7 und 8). Ein offenkundiges Kontinuitätselement läßt sich auch in dem bereits erwähnten Regierungsbeschluß vom 03. Dezember 1942 verzeichnen, der sich mit der Problematik beschäftigte, daß am 18. Dezember 1942 die siebenjährige Wahlperiode des Präsidenten der Republik abgelaufen war. Dieser Beschluß, der Dr. Beneš als Staatsoberhaupt bis zu dem Zeitpunkt bestätigt, zu dem der Verfassung und dem Gesetz Nr. 161/1920 Slg. entsprechend die Wahl des neuen Präsidenten durchgeführt werden kann, beinhaltet nämlich einen Hinweis auf § 58 Abs. 5 der Verfassungsurkunde, der einen solchen Fall regelt. Aus der Sicht der formalen Rechtskontinuität, d. h. der Anknüpfüng an die Rechtsordnung vor München besitzt auch das Verfassungsdekret vom 03. August 1944 Nr. 11 des Tschechoslowakischen Amtsblatts (veröffentlicht unter Nr. 30/1945 Slg.), über die Erneuerung der Rechtsordnung, das sowohl die „inländischen Vorschriften" als auch die „Vorschriften der ausländischen Staatsordnung" behandelte, grundsätzliche Bedeutung. Dieses Dekret unterscheidet zwischen drei Arten von Rechtsvorschriften, nämlich den tschechoslowakischen Verfassungsvorschriften und anderen Rechtsvorschriften bis zum 29. September 1938 (Recht vor dem Münchner Abkommen), ferner den im Bereich der tschechoslowakischen Rechtsordnung (d.h. auf dem Territorium der CSR) während der Zeit der Unfreiheit (also vom 30. September 1938 bis 04. Mai 1945) durch die Organe der zweiten Republik, des Deutschen Reiches, des Protektorats und der Slowakischen Republik erlassenen Vorschriften (Recht aus der Zeit der Unfreiheit) und schließlich den in Form von Dekreten des Präsidenten der Republik gemäß der Londoner Verfassung erlassenen Vorschriften (Recht der ausländischen Staatsordnung). Während es in Artikel 1 Abs. 1 des zitierten Dekrets über die bis 29. September 1938 erlassenen Vorschriften heißt, daß sie aus freiem Willen des tschechoslowakischen Volkes entstanden sind und deshalb die tschechoslowakische Rechtsordnung bilden, wird in Artikel 2 des Dekrets zu den während der Unfreiheit erlassenen Vorschriften festgestellt, daß sie kein Bestandteil der tschechoslowakischen Rechtsordnung sind, daß sie aber weiterhin, „nur während der Übergangszeit", ebenfalls angewendet werden, jedoch mit den durch Artikel 2 Abs. 1 bestimmten Ausnahmen. Das befindende Gericht oder die Verwaltungsbehörde hat darüber zu entscheiden, ob es sich um eine solche Ausnahme handelt (Artikel 3).

20   Aus der Sicht der erörterten Sache ist aber wichtig, was dieses Dekret in Artikel 2 über die Vorschriften der „ausländischen Staatsordnung" bestimmt: Wenn diese Vorschriften Gesetzeskraft besitzen, sind sie ein Bestandteil der tschechoslowakischen Rechtsordnung, sie müssen aber ratihabiert werden, d.h. die (rückwirkende – der Übersetzer) Zustimmung durch die zuständigen Verfassungsrepräsentanten erhalten. Dieser Ratihabierung unterstanden selbst die die Londoner Verfassung bildenden Verfassungsdekrete (Nr. 1 und Nr. 2 des Tschechoslowakisches Amtsblattes). Bei den anderen nach dieser Verfassung erlassenen Dekreten (d.h. gemäß § 2 des Verfassungsdekretes Nr. 2/1940 des Tschechoslowakisches Amtsblattes) heißt es dann, sie würden sechs Monate nachdem die Nationalversammlung zusammengetreten ist, ihre Gültigkeit verlieren, wenn sie nicht erneut als Gesetze beschlossen und verkündet werden (Artikel 5 Abs. 2 des Dekretes), wobei auch die als Verfassungsdekrete des Präsidenten der Republik bezeichneten Dekrete mit einem einfachen Gesetz aufgehoben oder geändert werden können. Durch diese Vorschrift sollte jedoch die Bestimmung von Artikels 1 des Gesetzes, mit dem die Verfassungsurkunde Nr. 121/1920 eingeleitet wird, nicht berührt werden, soweit davon Verfassungsdekrete betroffen sind, die bis zum 29. September 1938 verabschiedet wurden (Art. 5 Abs.3 des Dekretes). Davon, daß hier der Präsident und die Regierung stets den Grundsatz der Rechtskontinuität mit dem Recht vor München verfolgten, zeugt auch das Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik vom 23. Juni 1945, veröffentlicht unter der Nr. 22/1945 Slg., über die Bekanntmachung der außerhalb des Territoriums der Tschechoslowakischen Republik erlassenen Rechtsvorschriften. In der Bestimmung von § 1 dieses Dekretes wurde die Regierung bevollmächtigt zu bestimmen, welche Verfassungsdekrete des Präsidenten der Republik (ausgenommen das Verfassungsdekret vom 15. Oktober 1940 Nr. 2, Tschechoslowakisches Amtsblatt, über die provisorische gesetzgebende Gewalt und das Verfassungsdekret vom 22. Februar 1945, Tschechoslowakisches Amtsblatt Nr.3 über die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt während der Übergangszeit), ferner welche Dekrete des Präsidenten der Republik, Regierungsverordnungen sowie weitere Rechtsvorschriften, die im Tschechoslowakischen Amtsblatt verkündet wurden, in Kraft bleiben, sie war bevollmächtigt worden, den Beginn ihrer Rechtskraft und den räumlichen Geltungsbereich zu verändern und sie in der Sammlung der Gesetze und Verordnungen verkünden zu lassen. Wesentlich ist aber die Tatsache, daß das Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik vom 03. August 1944 Nr.11 Tschechoslowakisches Amtsblatt, auch jene Verfassungsdekrete eine Ratihabierung unterwarf, die die sogenannte Londoner Verfassung bildeten, was in der Konsequenz bedeutete, daß auch nach dem Erlaß dieses Dekretes das Gesetz Nr. 11 vom 28. Oktober 1918 sowie die Verfassung von 1920 die Grundlagen der tschechoslowakischen Rechtsordnung darstellten. Das geht auch aus dem Motivenbericht der Regierung zum Entwurf des genannten Dekretes hervor, in dem ausgeführt wird, daß mit der nachträglichen Ratifizierung der Auslandsgesetzgebung durch den inländischen Gesetzgeber der Rechtsgrundsatz verwirklicht wird, auf dem der Befreiungskampf des tschechoslowakischen Staates beruht, nämlich der Grundsatz der Rechtskontinuität.

21   Auch das Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik vom 04. Dezember 1944 Nr. 18, Tschechoslowakisches . Amtsbl., über die Nationalausschüsse und die Provisorische Nationalversammlung, veröffentlicht unter der Nr. 43/1945 Slg., beruft sich in der Präambel auf die gültige Verfassungsurkunde der Tschechoslowakischen Republik und stellt in Art. 2 folgendes fest: „Aus den Nationalausschüssen entsteht auf der Grundlage von Wahlen die Provisorische Nationalversammlung in ihrer Eigenschaft als provisorisches gesetzgebendes Organ, dem die Regierung verantwortlich sein wird. Ihre Zusammensetzung, die Art und Weise ihrer Entstehung sowie ihr Wirkungsbereich werden durch ein besonderes Verfassungsdekret bestimmt. Dies geschah auch durch das Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik vom 25. August 1945, über die Provisorische Nationalversammlung, veröffentlicht unter der Nr. 47/1945 Slg., mit dem, im Hinblick auf die Verfassungsurkunde von 1920, ein unbekanntes gesetzgebendes Organ geschaffen und mit der Kompetenz einer Nationalversammlung gemäß der angeführten Urkunde und anderer Gesetze versehen wurde, einschließlich der Berechtigung, die Verfassung zu ändern, allerdings mit der Bedingung dies nur zu tun, „wenn es unbedingt notwendig wäre" (Artikel 2, Nr. 2 des Dekretes). Wesentlich aber bleibt die Tatsache, daß auch dieses Dekret die Kontinuitätsbasis in ihrem inhaltlichen oder materiellen Sinne respektiert. Das Verfassungsdekret Nr. 47/1945 Slg. reflektiert nämlich auf der einen Seite, daß es im Hinblick auf die Nachkriegssituation und die sich verändernden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nicht mehr möglich war, die Ratihabierung der Gesetzgebung der ausländischen Staatsordnung vollkommen auf der Basis der Verfassungsurkunde von 1920 durchzuführen, andererseits stellt dies aus der Sicht dieser Urkunde, die, wie bereits ausgeführt, das Prinzip der demokratischen Legitimität besonders betont, kein fremdes Element dar. Darauf deutet auch Artikel 2 Nr. 1 dieses Dekretes hin, der die Provisorische Nationalversammlung ermächtigt, den Präsidenten der Republik bis zur Neuwahl eines Präsidenten der Republik in seinem Amt zu bestätigen, was auch durch das einmütige Votum der Provisorischen Nationalversanmilung vom 28. Oktober 1945 geschah. Es war gerade Präsident Beneš, der in seiner Antrittsrede am 15. Dezember 1945 nochmals darauf hinwies, mit welchem Nachdruck unsere ausländische politische Führung die Kontinuität des tschechoslowakischen Rechts immer betonte. Dies bekräftigt auch das Gesetz Nr. 12/1946 Slg., das die Vorschriften über die Erneuerung der Rechtsordnung bestätigt, ergänzt und ändert und mit dem die Provisorische Nationalversammlung das Dekret des Präsidenten der Republik vom 03. August 1944 Nr. 11, Tschechoslowakisches Amtsblatt, über die Erneuerung der Rechtsordnung, erneut als Gesetz mit allen in diesem Gesetz angeführten Anderungen und Ergänzungen verabschiedet. Den Schlußpunkt hinter die Dekrete des Präsidenten der Republik setzt das Verfassungsgesetz Nr. 57/1946 Slg., mit dem die Dekrete des Präsidenten der Republik verabschiedet und zu Gesetzen erklärt werden. Gemäß Artikel 1 Abs. 1 des zitierten Verfassungsgesetzes wurden die Verfassungsdekrete und die Dekrete des Präsidenten der Republik, die aufgrund von § 2 des Verfassungsdekrets des Präsidenten der Republik vom 15. Oktober 1940, Tschechoslowakisches Amtsblatt Nr. 2, (Nr. 20/1945 Slg.), über die provisorische Ausübung der Legislative, einschließlich des gerade angeführten Verfassungsdekretes, durch die Provisorische Nationalversammlung verabschiedet und zum Gesetz erhoben, soweit dies noch nicht geschehen war. Wie es ferner in Artikel 1 Abs. 2 des zitierten Verfassungsgesetzes heißt, sind alle Dekrete des Präsidenten der Republik von Anfang an als Gesetz zu betrachten und die Verfassungsdekrete als Verfassungsgesetz. Auch wenn es sich hier bereits nicht mehr um eine Ratihabierung gemäß der Bestimmung von Artikels 5 Abs. 1 des Verfassungsdekretes des Präsidenten der Republik vom 03. August 1944, Tschechoslowakisches Amtsblatt Nr. 11, handeln konnte, weil darin unter dem Verfassungsrepräsentanten die Nationalversammlung nach der Verfassungsurkunde von 1920 gemeint war, so hatte man dem Anspruch auf Rechtskontinuität dennoch Rechnung getragen, indem die Dekrete des Präsidenten der Republik verabschiedet und zu Gesetzen erklärt wurden, wodurch der Bedingung von Artikel 5 Abs. 2 des Verfassungsdekretes des Präsidenten der Republik vom 03. August 1944 Tschechoslowakisches Amtsblatt Nr. 11 entsprochen wurde, die die zeitlich begrenzte Gültigkeit der Dekrete des Präsidenten der Republik bestimmte. Darüber hinaus bezieht sich die Bestimmung von Artikel 1. Abs. 1 des Verfassungsgesetzes Nr. 57/1946 Slg., auch auf das Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik vom 15. Oktober 1940, Nr. 2 des Tschechoslowakischen Amtsblattes, und in Abs. 2 dieses Artikels wird die Gültigkeit aller Dekrete des Präsidenten der Republik von Anfang an bekräftigt. Dazu sei angemerkt, daß gemäß Art. 112 Abs. 1, Abs. 3 der Verfassung der CR alle zitierten, auf dem Territorium der Tschechischen Republik geltenden Verfassungsgesetze, am Tage des Inkrafttretens dieser Verfassung lediglich die Kraft eines Gesetzes besitzen.

22   Für die Kontinuität der in den Dekreten des Präsidenten der Republik enthaltenen Rechtsvorschriften mit der Rechtsordnung, die vor dem Münchner Abkommen bestanden hat, zeugt besonders das, was eine der Grundbedingungen dieser Kontinuität darstellt, nämlich der übereinstimmende Wille des tschechischen Volkes, an die Werte und das Recht der Republik Masaryks anzuknüpfen. Während das nazistische Deutschland bemüht war, die Grundsätze der tschechoslowakischen rechtlichen und politischen Ordnung zu verletzen und zu zerstören, bestätigte unsere inländische und ausländische Widerstandsbewegung, die das Vermächtnis unserer Legionen aus dem ersten Weltkrieg antrat, und ebenso auch die negative Einstellung des gesamten Volkes gegenüber den Besatzern, mit Ausnahme einer Gruppe von Verrätern und Kollaborateuren, daß unser Volk in einem demokratischen Rechtsstaat leben wollte, dessen bedeutende Entwicklungsetappe die Republik vor München war. Diese Haltung schloß das Bewußtsein ein, daß die demokratischen Werte ihren Charakter und ihre Qualität nur auf der Grundlage der Kontinuität behalten, auf der Grundlage einer gewissen gemeinsamen Sprache und der allgemeinen Zustimmung zu diesen Werten und Grundsätzen. Wenn es zutraf, daß das tschechische Volk die Grundsätze des Rechtsstaates aufgrund eines allgemeinen Konsens akzeptiert hatte, dann traf es auch zu, daß diese nur auf der Basis eines gültigen gesellschaftlichen Konsens aufgegeben und eingetauscht werden durften und nicht durch Gewalt und Terror.

23  Alle diese Überlegungen und Tatsachen haben deshalb das Verfassungsgericht zu der Schlußfolgerung geführt, daß die in Großbritannien konstituierte provisorische Staatsordnung der Tschechoslowakischen Republik als international anerkanntes legitimes Verfassungsorgan des tschechoslowakischen Staates anzusehen ist, das vom Feind daran gehindert wurde, auf dem von der Wehrmacht des Reiches besetzten Territoriums die souveräne tschechoslowakische Staatsgewalt auszuüben, die sowohl aus der vom Gesetz Nr. 121/1920 Slg. eingeleiteten Verfassungsurkunde der CSR als auch aus der gesamten tschechoslowakischen Rechtsordnung hervorgeht.

24   Infolgedessen sind alle normativen Akte der provisorischen Staatsordnung der CSR, also auch das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 108/1945 Slg., über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung, – auch infolge ihrer Ratihabierung durch die Provisorische Nationalversammlung (Verfassungsgesetz Nr. 57/1946 Slg. vom 28.März 1946) – Ausdruck der legalen tschechoslowakischen (tschechischen) Legislative; durch sie wurde das Streben der Völker der Tschechoslowakei nach Erneuerung der Verfassungs- und Rechtsordnung der Republik erfüllt. Es wäre völlig absurd, sich unbedingt, also auch bezüglich des gesetzgebenden Prozesses, auf die Verfassungsurkunde der CSR von 1920 zu berufen, und das für eine Zeit, in der der tschechoslowakische Staat zuerst gewaltsam beschnitten und später vollständig besetzt wurde, und wo er stufenweise seine politische Repräsentation verlor. Eine solche Betrachtungsweise würde nämlich in ihrer Konsequenz einem unterjochten Volk sein natürliches Widerstandsrecht einschließlich des bewaffneten Kampfes gegen einen aggressiven Besatzer absprechen. Was die Taten und Absichten dieses aggressiven Besatzers angeht, genügt der Verweis auf die Besetzung des restlichen tschechoslowakischen Staates durch die Wehrmacht des Reiches in Form des Protektorats Böhmen und Mähren, die Schließung der tschechischen Hochschulen und die vorbereitete „Endlösung" (deutsches Wort im Original! der Übersetzer) der Zukunft des tschechischen Volkes. Auch die Vernichtung von Lidice und weitere Gewalttaten machen hinreichend deutlich, daß trotz „sämtlicher in diesem Jahrhundert geltenden Rechtsgrundsätze der zivilisierten Gesellschaften in Europa" nicht nur die Existenz des tschechoslowakischen Staates, sondern auch die seiner Völker ernsthaft in Frage gestellt waren.

25   Bei der Beantwortung der weiteren Behauptung des Antragstellers, daß nämlich das Dekret Nr. 108/1945 Slg., sowie andere von Dr. Edvard Beneš erlassene Dekrete den Rechtsgrundsätzen zivilisierter Gesellschaften Europas widersprächen und deshalb gar nicht als Rechts-, sondern als Gewaltakte zu betrachten seien, mit anderen Worten, daß sie überhaupt den Rechtscharakter vermissen ließen, ist es notwendig, und zwar auch in allgemeinem Sinne, das entscheidende Moment für jede Bewertung der Vergangenheit zu betonen: Was aus der Vergangenheit kommt, muß zwar im Prinzip vor der Sicht der Gegenwart wertemäßig bestehen, diese Bewertung des Vergangenen kann jedoch kein Gericht der Gegewart über die Vergangenheit bedeuten. Mit anderen Worten, eine Ordnung der Vergangenheit kann nicht vor das Gericht einer Ordnung der Gegenwart gestellt werden, die bereits durch weitere Erfahrungen belehrt worden ist, aus diesen Erfahrungen Nutzen zieht und viele Erscheinungen mit zeitlichem Abstand betrachtet und bewertet. Aus diesem Blickwinkel betrachtet und im Kontext aller Zusammenhänge und Ereignisse während der Nazi-Okkupation und der unmittelbaren Folgezeit ist auch das Dekret vom 25. Oktober 1945 Nr. 108/1945 Slg. über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung zu beurteilen, das nichts anderes ist, als eine Maßnahme, mit der in dieser historischen Situation und auf der Basis der damals gültigen Rechtsordnung auf die vorangegangene Vernichtung der staatlichen Souveränität, Unabhängigkeit, Unversehrtheit reagiert worden ist, auf die Vernichtung der demokratisch-republikanischen Staatsform der Tschechoslowakischen Republik, der demokratischen Prinzipien und des Rechtsstaates, wie sie in der Verfassungsurkunde der Tschechoslowakischen Republik von 1920 festgelegt waren, und zwar durch das Naziregime, das durch seine Ideologie der Weltherrschaft der Herrenrasse und dem dieser Ideologie folgenden Tenor Millionen Menschenleben vernichtet hat und somit eines der gewalttätigsten totalitären Systeme der Menschheitsgeschichte darstellt. Es ist deshalb als völlig konsequent und legitim zu betrachten, daß jedes demokratische politische System, wie bereits T. G. Masaryk betonte, nicht nur das Bedürfnis, sondern auch die Pflicht hat, seine Grundlagen zu verteidigen, wie es in der Tschechoslowakei vor München tatsächlich geschehen ist, z. B. durch den Erlaß des Gesetzes Nr. 50/1923 Slg. zum Schutz der Republik und einer Reihe weiterer Maßnahmen, unter ihnen auch die militärische Mobilmachung im Jahre 1938. Im Hinblick auf die Formulierung von § 1 Abs. 1 des Dekretes Nr. 108/1945 Slg. steht außer Zweifel, daß das Ziel dieses Dekretes die Festigung der erwähnten elementaren demokratischen und rechtlichen Prinzipien war, weil es eben gegen deren Feinde gerichtet war. Diese Entschlossenheit, die Tschechische Republik zu verteidigen und zu entwickeln, findet sich ausdrücklich auch in der Präambel der Verfassung der Tschechischen Republik, womit auch in diesem Bereich ein wichtiges Element der Kontinuität bewahrt und weitergeführt wird.

26   Eine weitere grundsätzliche Frage ist zu beantworten, ob nämlich zwischen der Zielsetzung, nämlich dem Ausbau eines demokratischen Rechtsstaates und dem angewandten Mittel, in unserem Falle der Konfiskation des feindlichen Vermögens, eine notwendige, sachgerechte, wechselseitige Beziehung besteht, mit anderen Worten, ob das angewandte Mittel der Zielsetzung entspricht, oder ob zwischen ihnen eine solche Diskrepanz besteht, daß das angewandte Mittel im Verhältnis zum Ziel unangemessen erscheint. Die Frage der Verhältnismäßigkeit der gewählten Mittel ist eine Frage der Grenze, über die kein Mittel in der Relation Zweck-Mittel hinausgehen darf, wenn das Ziel selbst nicht in Frage gestellt werden soll. Zur Aufrechterhaltung der Funktionsbeziehung zwischen Zweck und Mittel ist es daher unerläßlich, daß auch das angewandte Mittel von gleicher Art und Herkunft wie das Ziel ist, mit anderen Worten, es muß auch in seinen taktierenden Bestandteilen auf das Ziel ausgerichtet sein, die Entwicklung dieses Zieles, in unserem Falle die Demokratie, ermöglichen. Von daher kann auch das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 108/1945 Slg. als normativer Rechtsakt nur dann bestehen, wenn es in seiner Substanz den Intentionen des demokratischen Rechtsstaates nicht widerspricht.

27   Was die oben genannte Frage angeht, ist zu betonen, was schon der Titel des Dekretes Nr. 108/1945 Slg. (...über die Konifiskation des feindlichen Vermögens) andeutet, daß der maßgebliche Gesichtspunkt bei der Definition der Subjekte des konfiszierten Vermögens ihre Feindschaft gegenüber der Tschechoslowakischen Republik oder dem tschechischen oder slowakischen Volke ist, eine Tatsache, die im Falle der unter § 1 Abs. 1 des Dekretes angeführten Subjekte, – d.h. Deutsches Reich, Königreich Ungarn, Personen des öffentlichen Rechts nach deutschem oder ungarischem Recht, deutsche-nazistische Partei, ungarische politische Parteien und andere Gebilde, Organisationen, Betriebe, Institutionen, Gemeinschaften, Fonds und zweckgebundenes Vermögen dieser Regime oder der mit ihnen zusammenhängenden, aber auch anderen deutschen oder ungarischen juristische Personen, – unwiderlegbaren Charakter hat, wohingegen sie bei den in § 1 Abs. 1 Nr. 2 des Dekretes angeführten Subjekten, d.h. bei natürlichen Personen deutscher oder magyarischer Nationalität einen widerlegbaren Charakter hat und zwar dahingehend, daß das Vermögen dieser Personen dann nicht konfisziert wird, wenn sie nachweisen, daß sie der Tschechoslowakischen Republik treu geblieben sind, sich niemals an dem tschechischen und slowakischen Volke vergangen haben und sich entweder aktiv am Befreiungskampf beteiligt oder unter dem nazistischen oder faschistischen Tenor gelitten haben. Dabei wird im Hinblick auf die Bestimmung § 1 Abs. 1 Nr. 3 des Dekretes, ohne Rücksicht auf ihre Nationalität, auch das Vermögen jener natürlichen oder juristischen Personen konfisziert, die Tätigkeiten gegen die staatliche Souveränität, Unabhängigkeit, Integrität, die demokratisch-republikanische Staatsform, die Sicherheit und Verteidigungsbereitschaft der Tschechoslowakischen Republik entfaltet haben, die zu solchen Tätigkeiten angestiftet haben oder versucht haben, andere Personen dazu zu verleiten, die vorsätzlich, auf welche Art auch immer die deutschen oder magyarischen Besatzer unterstützten oder die in der Zeit der erhöhten Bedrohung der Republik (§ 18 des Dekrets des Präsidenten der Republik vom 19. Juni 1945, Nr. 16 Slg., über die Bestrafung der nazistischen Verbrecher, Verräter und ihrer Helfershelfer sowie über die außerordentliche Volksgerichte) der Germanisierung oder Magyarisierung auf dem Gebiet der Tschechoslowakischen Republik Vorschub geleistet oder sich der Tschechoslowakischen Republik oder dem tschechischen oder slowakischen Volke gegenüber feindselig verhalten haben, wie auch jener natürlichen oder juristischen Personen, die bei Personen, die ihr Vermögen verwaltetene, eine solche Tätigkeit geduldet haben 1 Abs. 1 Nr. 3, Dekret Nr. 108/1945 Slg., in der Fassung des Gesetzes Nr. 84/1949 Slg.). Das Feindverhältnis ist also im Dekret Nr. 108/1945 Slg. nicht auf der Grundlage der Nationalität konzipiert, denn als Feind gilt hier in erster Linie das nazistische oder faschistische System, und zwar, wie bereits angeführt, unwiderlegbar, und das Objekt, das es zu verteidigen gilt, ist hier vor allem die demokratisch-republikanische Staatsform. Auch wenn also in diesem Dekret in erster Linie die Rede vom Deutschen Reich und von den Personen deutscher Nationalität ist, so besitzt dieses Dekret tatsächlich eine allgemeinere Dimension und kann als ein Dokument gelten, das den ewigen Kampf zwischen Demokratie und Totalitarismus wiedergibt. Als Trennungslinie gilt hier, auf welcher Seite jemand stand: Deshalb wird auch nicht derjenige als Feind angesehen, der, obwohl deutscher Nationalität, aktiv für die Verteidigung der Demokratie eingetreten oder selbst durch das totalitäre Regime betroffen war, und anderseits wird derjenige als Feind eingestuft, der ohne Rücksicht auf die Volkszugehörigkeit aktiv gegen die Demokratie aufgetreten ist.

28   In diesem Zusammenhang ist weiterhin die Frage zu beurteilen, ob der Widerspruch zu den „Rechtsgrundsätzen der zivilisierten Gesellschaften in Europa" nicht darin zu sehen ist, daß das Dekret Nr. 108/1945 Slg. über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung, offenkundig die Verantwortlichkeit von Personen deutscher (und auch magyarischer) Nationalität einfach vermutet wird, während bei Personen anderer Nationalitäten die Beweislast auf seiten des Organs liegt, das zu entscheiden hat, ob die Bedingungen für die Konfiskation ihres Vermögens erfüllt sind oder nicht. Bereits einleitend ist hier zu betonen, daß es sich auch bei Personen deutscher Nationalität nicht um eine „Schuldvermutung", sondern um eine „Verantwortlichkeitsvermutung" handelt. Die Kategorie der „Verantwortlichkeit" zielt nämlich deutlich hinter die Grenzen der „Schuld" und besitzt daher auch eine viel breitere Wert-, Sozial-, Geschichts- und auch Rechtsdimension. Für die Bestimmung der Kategorie der Verantwortlichkeit ist das Bewußtsein maßgeblich, daß der Einzelne für seine Lebensmaximen, für seine sozialen und Werteentscheidungen selbst verantwortlich ist, und daß ihm niemand diese Verantwortlichkeit abnehmen kann, nicht einmal die Gesellschaft oder die Geschichte. Zum Schicksal jedes Menschen gehört, daß er in Machtverhältnisse eingebunden ist und aus dieser seiner Stellung erwächst die Verantwortlichkeit, für diejenige Macht einzutreten, die die Menschenrechte verwirklicht. Der Grund für das Entstehen einer sozialen, politischen, moralischen und in einigen Fällen auch rechtlichen Verantwortlichkeit ist eben auch die Vernachlässigung des Mitwirkens bei der Gestaltung der Machtverhältnisse, die Untätigkeit im Machtkampf, im Sinne eines Dienstes am Recht. In der Demokratie ist deshalb auch das politische System auf einer institutionell konkretisierten Vorstellung von der gemeinsamen Verantwortlichkeit aller Menschen für das Schicksal der ganzen menschlichen Gesellschaft aufgebaut, und deshalb durchdringt hier auch der Aspekt der Verantwortlichkeit mehr oder weniger alle Sphären, das persönliche Leben des Einzelnen, das Recht ebenso wie die Politik. Ein immanenter Zug der Pflichten- und Verantwortlichkeitsordnung in der Demokratie ist nicht nur ihr allgemeiner Charakter, sondern auch ihre innere Absicherung, die aus der Binnenbeziehung eines Subjektes zum sozialen Handeln und seinen Folgen entsteht. Der einzelne kann sich nur für solche Normen wirklich verantwortlich fühlen, zu deren Schaffung er mit seinem spontanen Denken und Handeln beiträgt. Dagegen wurde in dem totalitären System, wie es das nazistische Deutschland darstellte, die Verantwortlichkeit institutionell an die herrschende Elite übertragen, obwohl sich diese tatsächlich jeglicher Verantwortlichkeit entbunden fühlte.

29   An dieser Stelle muß die Frage gestellt werden: In welchem Maße und in welchem Sinne sind für Gaskammern, Konzentrationslager, Massenmord, Erniedrigung, Erschlagen und Entmenschlichung von Millionen nur die Repräsentanten der nazistischen Bewegung verantwortlich, oder inwiefern sind an diesen Erscheinungen alle diejenigen mitverantwortlich, die von dieser Bewegung stillschweigend profitierten, ihre Befehle ausgeführt und keinen Widerstand geleistet haben? Ein Schwarz-weiß-Schema ausschließlicher Verantwortlichkeit der Repräsentanten des Nazismus und fehlender Verantwortlichkeit aller anderen gibt es kaum. So wie an der Entstehung und Entwicklung des Nazismus auch andere europäische Staaten und ihre Regierungen beteiligt waren, unfähig und unwillig, sich von Anfang an der nazistischen Expansion entgegenzustellen, so trägt die Verantwortung dafür in erster Linie das deutsche Volk selbst, obwohl sich in seinen Reihen nicht wenige fanden, die aktiv und mutig dagegen aufstanden. Zwischen der Verantwortlichkeit des „Restes der Welt" und derjenigen des deutschen Volkes, zwischen dem Schweigen und der Passivität der einen und dem Schweigen und der Aktivität der anderen, scheint es aber dennoch einen grundsätzlichen Unterschied zu geben, der eine bedeutende Rolle in der Frage der Beweislast spielt. Es war nämlich der überwiegende Teil des deutschen Volkes, der auf vielfache Art und Weise unmittelbar und wissentlich an der Bildung der Machtstrukturen des nazistisches System, an der Expansion Nazi-Deutschlands gegenüber der Tschechoslowakei und allgemein an den nazistischen Absichten und Taten, die dazu führten, daß das Schicksal der ganzen Welt auf dem Spiel stand, teil hatte. Auch das Leben in politischer Finsternis berechtigt nämlich nicht zu absoluter sozialer Resignation und Apathie: Falls eine Gesellschaft von einem Tyrannen beherrscht wird, geschieht es meistens deshalb, weil sie nicht den Mut und die Fähigkeit besitzt, sich selbst zu verwalten. Eine menschliche Welt kann nur bewahrt werden, wenn jeder darin seinen Teil der Verantwortlichkeit übernimmt, den ihm niemand abnehmen kann. In den für die Tschechoslowakische Republik so schicksalhaften dreißiger Jahren hätte jedem ihrer Bürger mehr oder weniger klar sein sollen, ja müssen, daß es hier unter dem Schleier von Propaganda und Lüge seitens Nazi-Deutschlands zu einem der historisch bedeutsamen Zusammenstöße zwischen Demokratie und Totalitarismus kommen wird, zu einem Zusammenstoß, bei dem jeder die Verantwortung dafür tragen wird, welche Position er einnehmen und welche soziale und politische Rolle er übernehmen wird, entweder die Rolle eines Verteidigers der Demokratie oder die eines Akteurs ihrer Zerstörung. Wie bereits Emerson zutreffend bemerkte, „.... auch wenn der Mensch von der Sonnenglut der Wahrheit völlig geblendet wäre, ja durch sie sogar erblinden würde, er könnte ihrem Licht dennoch nicht so weit ausweichen, um lieber gar nichts zu sehen".

30  Das gilt auch für die deutschen Bürger in der Tschechoslowakei der Vorkriegszeit und zwar besonders für sie, denn der Brand, der durch den Nazismus entflammt war, war das Werk des überwiegenden Teiles ihres Volkes und seiner Führer. Um so mehr hätten sie ihre Treue der Tschechoslowakischen Republik gegenüber, deren Staatsbürger sie waren, bekunden sollen, ihre Treue zum vielleicht letzten demokratischen System in Mitteleuropa, und sie hätten diese Treue zu ihrem politischen Grundprinzip erheben sollen.

31  Wie war es tatsächlich? Bereits an dieser Stelle muß betont werden, daß dem Verfassungsgericht hier nicht die Aufgabe obliegt, die tschechisch-deutschen Beziehungen zu erforschen und zu bewerten, wie sie in Jahrhunderten entstanden sind, sich entwickelten und veränderten. Das Verfassungsgericht wurde vielmehr vor die Frage gestellt, welche Haltung die Bürger der Tschechoslowakei deutscher Nationalität in den krisenreichen dreißiger Jahren eingenommen haben und ob das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 108/1945 Slg. über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung eine angemessene, verfassungsmäßige und ethisch (wörtlich: wertemäßig – der Übersetzer) begründete Reaktion auf diese Haltung darstellt, angemessen dahingehend, daß es auch mit Blick auf die damals durch zivilisierte Völker anerkannten Rechtsgrundsätze besteht. An dieser Stelle muß betont werden, daß der tschechisch-deutsche Konflikt, in dieser Zeit inhaltlich schon ein Konflikt zwischen Demokratie und Totalitarismus, für die Tschechoslowakische Republik erst durch das Münchner Abkommen in der Katastrophe endete, nachdem hierdurch etwa eine halbe Million Tschechen aus den Grenzgebieten zwangsweise in die Restteile der Republik gehen mußten. War nun die Tschechoslowakische Republik zum bloßen Objekt dieses Abkommens geworden, so kann dieses in Bezug auf die Bürger der Tschechoslowakei deutscher Nationalität nicht konstatiert werden. Bei der Abtrennung der Grenzgebiete von der Tschechoslowakei und ihrer Eingliederung in das Deutsche Reich traten sie als bedeutende Akteure auf, bedeutend deshalb, weil sie Hitler mit ihrer politischen Haltung das vom Westen akzeptierte Argument für die Beschneidung der Tschechoslowakei geliefert haben. Die Tschechoslowakische Republik war auch in dieser kritischen Periode ein Staat, dessen demokratische Fundamente außer Zweifel standen. Selbst wenn sie vielen unserer Bürger deutscher Nationalität auch in dieser Periode noch immer als ein fremdes Element erschien, gewährte sie durch die Struktur ihres politischen Systems einen ausreichenden und wirksamen Verfassungsraum dafür, daß sie ihre Führer ablehnen und ihre von deren Standpunkten deutlich abweichende Meinung äußern konnten, nämlich, daß sie nicht ins Deutsche Reich wollten und den Anschluß an dieses nicht wünschten eben wegen seines damals schon offenkundigen, durch Gewalt und Brutalität gekennzeichneten totalitären Charakters. Die Entwicklung verlief aber nach 1938 in einer anderen Richtung. Während in den ehemaligen Grenzgebieten die dortige deutsche Bevölkerung eine völlige Loyalität gegenüber Nazi-Deutschland demonstrierte, begannen im Protektorat Böhmen und Mähren Verfolgung und Terror, wozu in nicht gerade kleinem Maße K.H. Frank beitrug, der dafür sogar mit dem Amt des Staatsministers für das gesamte besetzte Gebiet belohnt wurde. Mit seinem Namen sind auch die Tragödien von Lidice und Lezaky, sowie die dem Attentat auf Heydrich folgenden Repressalien verbunden.

32  Die Etablierung eines totalitären Systems bedeutet immer einen massiven Angriff auf die Menschheit und sogar auf die Geschichte. In der untersuchten Sache war dieser Angreifer Deutschland und der überwiegende Teil seines Volkes: Ohne die breite Unterstützung durch den überwiegenden Teil des deutschen Volkes, die ihm zuteil wurde, wäre Hitler mit seiner nazistischen Partei lediglich eine Randerscheinung der Geschichte geblieben. In diesem seinem besonders gefährlichen Wesen, darin, daß er zu einer „das Schicksal des gesamten Lebens auf Erden" (Präambel der Charta der Menschenrechte und Grundfreiheiten) bedrohenden sozialen Erscheinung wird, liegt der Grund, warum die Bemühungen um die Beseitigung aller Quellen des Totalitarismus auch außerordentliche legislative Maßnahmen erfordert. Mit anderen Worten, in solchen Situationen geht es folgerichtig immer auch um die Beseitigung der Ursachen der Entstehung des Totalitarismus, um die Beseitigung der Brandherde, die zum Rückfall mit allen seinen schrecklichen Vorzeichen führen könnten. Diese ungewöhnlichen legislativen Maßnahmen müssen selbstverständlich zwischen „Schuld" und „Verantwortlichkeit" unterscheiden: So geschah es in der tschechoslowakischen Gesetzgebung mit der Unterscheidung zwischen den Retributionsdekreten, die den Nachweis individueller Schuld verlangen und den Konfiskationsdekreten, die bei den natürlichen Personen auf der widerlegbaren Vermutung der individuellen Verantwortlichkeit beruhen. Daß das Dekret Nr. 108/1945 Slg. über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung von der Vermutung der Verantwortlichkeit von Personen deutscher Nationalität ausgeht, hat daher im Hinblick auf die angeführten Tatsachen keinen diskriminierenden Charakter und bedeutet keine nationale Rache, sondern ist lediglich eine angemessene Reaktion auf die Aggression des nazistischen Deutschlands, eine Reaktion, deren politisches und wirtschaftliches Ziel es war, die Folgen der Okkupation zu lindern, neuen möglichen Anfängen des Totalitarismus zuvorzukommen und das gesellschaftliche und moralische Bewußtsein mit der Bekräftigung dessen zu stärken, daß auf die Verletzung jeglicher Verantwortlichkeit immer eine Sanktion folgen muß. Wenn das Dekret Nr. 108/1945 Slg. über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung überhaupt den Begriff der deutschen Nationalität verwendet, so ist diese Tatsache auch auf die Nachkriegsverhältnisse zurückzuführen, als das besiegte Deutschland unter der Verwaltung der Siegermächte stand und später in Zonen aufgeteilt wurde, und als die Verwendung des Begriffes der deutschen Staatsangehörigkeit in einer Situation, in der der deutsche Staat nicht existent war, problematisch gewesen wäre. Die Verschiebung zum Begriff der „deutschen Nationalität" bedeutete also im Dekret keine „genetische Aburteilung", sondern lediglich eine Reaktion auf die Nachkriegsverhältnisse, besonders auf die Problematik der deutschen Staatsangehörigkeit. Aus ebendiesem Grunde kann das Dekret nicht als eine Anordnung zum Völkermord betrachtet werden, war es doch gegen diejenigen gerichtet, die durch ihr Verhalten, in welcher Form auch immer, den nazistischen Staat unterstützt haben. Mit dieser Verschiebung von der nationalen zur staatsbürgerlichen Ebene verschwindet, was die Vermutung der Verantwortlichkeit bei Personen deutscher Nationalität betrifft, auch die scheinbare Ungleichheit zwischen „Tschechen" und „Deutschen". Als wesentlich bleibt die Tatsache übrig, daß den Deutschen ihre Pflicht, entsprechend den Absichten des totalitären Staates zu handeln, schon aus ihrer Staatsbürgerschaft erwuchs, die eine solche loyale Haltung gegenüber dem Deutschen Reich unbedingt verlangte, wogegen Tschechen und Angehörige anderer Nationalitäten, die durch die Verfassung zur Treue gegenüber der Demokratie verpflichtet waren, aus eigenem Willen gegen die tschechoslowakische Staatlichkeit und Demokratie handeln mußten. Diese widerlegbare Vermutung der Verantwortlichkeit ist übrigens im Recht kein fremdes Element, man findet sie auch in anderen Bereichen, die mit dem politischen Bereich zwar nur schwer zu vergleichen sind, die jedoch einen bestimmten gemeinsamen Zug dahingehend beinhalten, daß in ihnen eine bestimmte Quelle einer besonders qualifizierten Gefahr entsteht (die widerlegbare Vermutung der Verantwortlichkeit tritt im internationalen aber auch im innerstaatlichen Recht auf, z.B. im Bereich der besonderen Art der Verantwortlichkeit für Schäden). Wenn also die Vermutung der Verantwortlichkeit auch in solchen Bereichen existiert, umso mehr ist sie dort am Platz, wo in sozialer und historischer Hinsicht das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel steht. Auch wenn es sich um schwer vergleichbare Bereiche handelt, steht außer Zweifel, daß das Recht in solchen außerordentlichen Fällen eine Tendenz zur Vermutung der Verantwortlichkeit einschließt.

33  Mit der Kategorie der Verantwortlichkeit verbindet man allgemein die Sanktion, die die Grundvoraussetzung dafür ist, daß diese Kategorie ihre soziale Funktion erfüllen kann. Verantwortlichkeit ohne Sanktion würde sich auf die Existenz des gesellschaftlichen Bewußtseins so negativ niederschlagen, daß dies wahrscheinlich, zumindest in bestimmten Bereichen, seine Zerstörung bewirken würde. Das Dekret Nr. 108/1945 Slg., über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung, stellt zweifellos eine solche Sanktion dar: Auch wenn es auf den ersten Blick nur „Vermögenscharakter" besitzt, umfaßt es zweifellos auch eine wichtige verhüllt soziale und ethische Bedeutung. Im Hinblick auf den Charakter der in diesem Falle analysierten Verantwortlichkeit kann man das Dekret nicht als Strafnorm oder Strafsanktion ansehen, obwohl die Konfiskation des Vermögens ohne Entschädigung erfolgte. Eine solche Strafnorm war dagegen zweifellos das Dekret Nr. 16/1945 Slg. über die Bestrafung nazistischer Verbrecher, Verräter und ihrer Helfershelfer, sowie über die außerordentlichen Volksgerichte in der Fassung der späteren Vorschriften (siehe Bekanntmachung des Justizministers Nr. 9/1947 Slg. über die vollständige Fassung des Dekretes des Präsidenten der Republik über die Bestrafung nazistischer Verbrecher, Verräter und ihrer Helfershelfer sowie über die außerordentlichen Volksgerichte und des Dekretes des Präsidenten der Republik über das Volksgericht, Anlage 1, II zu dieser Bekanntmachung), das dem Gericht im Zusammenhang mit der Verurteilung wegen eines in diesem Dekret angeführten Verbrechens vorschrieb, die vollständige oder teilweise Einziehung des Vermögens des Verurteilten zu Gunsten des Staates zu verkünden (§ 14 Buchstabe c). Dieses Dekret verfolgte also die Bestrafung der in ihm angeführten Personen, wobei mit der Verurteilung wegen der in diesem Dekret angeführten Verbrechen weitere, für den Verurteilten negative Folgen verbunden waren (z.B. auch der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (wörtlich: der Bürgerehre – der Übersetzer), wohingegen das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 108/1945 Slg., über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung, lediglich eine Konfiskation dieses Vermögens verfolgte, eine Konfiskation, die offensichtlich im Zusammenhang mit den der Tschechoslowakischen Republik durch die nazistische Aggression und Okkupation zugefügten Schäden stand (siehe Potsdamer Abkommen vom 02. August 1945, Abkommen über deutsche Reparationen, über die Gründung eines alliierten Reparationsamtes und die Rückgabe des Währungsgoldes, veröffentlicht unter der Nr. 150/1947 Slg.).

34  Eine weitere Grundsatzfrage ist also: Können solche Sanktionen überhaupt prinzipiell in Widerspruch zu Rechten und Freiheiten derer stehen, die sie offensichtlich verletzen und deshalb dafür auch selber Verantwortung tragen? Mit anderen Worten: Darf zum Beispiel derjenige Freiheitsrechte einklagen, der sie mit seinem Verhalten selbst zerstört hat? Es waren die Grausamkeit des nazistischen Regimes und die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und alle Erfahrungen dieser Epoche, die sich als Antwort auf diese Frage bereits in Artikel 30 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergeschlagen hatten und, an diesen Artikel anknüpfend und mit ihm identisch, in Artikel 5 Abs. 1 der Internationalen Konvention über die bürgerlichen und politischen Rechte und der Internationalen Konvention über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, sowie in Artikel 17 des Abkommens über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Fassung des Protokolls Nr. 3, 5 und 8, in dem es heißt: „Nichts in diesem Abkommen darf so ausgelegt werden, daß es dem Staat, einer Gruppe oder einem Einzelnen das Recht einräumen würde, eine Tätigkeit auszuüben oder Taten zu vollbringen, die auf die Zerstörung einer der hier gewährten Rechte oder Freiheiten oder ihre erhebliche Einschränkung über die Bestimmungen dieses Abkommens hinaus gerichtet ist.". Auf eben dieser Ebene läßt sich die Zielrichtung von Schlußfolgerungen allgemeinerer Art auch für die zu untersuchende Sache finden: Wenn sich die ehemaligen tschechoslowakischen Bürger deutscher Nationalität an der Zerstörung der Rechte und Freiheiten anderer Bürger der Tschechoslowakischen Republik beteiligt haben, dann ist es nur konsequent, daß auch ihre Rechte und Freiheiten in dieser Richtung während des noch andauernden Konfliktes nicht voll geschützt werden konnten, natürlich unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mittel, denn eine solche soziale, aber eben auch destruktive „Naivität" (Anmerkung des Übersetzers: Gemeint ist offenbar ein Verzicht auf Bestrafung) würde zu einer Katastrophe führen. Zu den „in diesem Jahrhundert geltenden Rechtsgrundsätzen der zivilisierten Gesellschaften in Europa", auf die sich der Antragsteller beruft, gehört eben auch das Recht, Angriffe auf Demokratie, Menschenrechte und Freiheiten mit den unerläßlichen Sanktionen zu belegen.

35  Hierzu ist anzumerken, daß die Vermögenssanktion, wie sie die Konfiskation des sich auf dem Gebiet der Tschechoslowakischen Republik befindlichen feindlichen Vermögens darstellt, ihren historischen Zusammenhang vor allem in dem Potsdamer Abkommen vom 02. August 1945 hat, wo der Abschub der deutschen Bevölkerung oder Teile derselbe aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach Deutschland beschlossen wurde (Kapitel XIII). Gleichzeitig wurde mit diesem Abkommen auch über deutsche Reparationen im Sinne des Beschlusses der Konferenz von Jalta entschieden, wonach Deutschland gezwungen werden sollte, in größtmöglichem Umfang die Schäden und das Leid, die es den Vereinten Nationen zugefügt hatte, und für die sich das deutsche Volk seiner Verantwortung nicht entziehen könne, wiedergutzumachen (Kapitel IV). An diese Punkte des Potsdamer Abkommens knüpft auch das Abkommen über Reparationen durch Deutschland, über die Gründung eines alliierten Reparationsamtes und über die Rückgabe des Währungsgoldes an, das am 21.12.1945 in Paris zwischen 18 Staaten unter Teilnahme der Tschechoslowakei getroffen wurde, veröffentlicht unter Nr. 150/1947 Slg. In Teil I Artikel 6 A) dieses Pariser Abkommens wird festgelegt, daß „jede unterzeichnende Regierung in von ihr selbst zu bestimmender Form deutsches Feindvermögen entweder in ihrer Verfügungsgewalt behält oder mit ihm so disponieren wird, daß es weder in deutsches Eigentum übergehen noch unter deutsche Kontrolle zurückkehren kann, diese Vermögenswerte verrechnet sie mit ihrem Reparationsanteil ... ". Gemäß Teil I Artikel 6 D) dieses Abkommens „wird bei der Durchführung der Bestimmung A) dasjenige Vermögen nicht vom Reparationsanteil abgezogen, das Eigentum eines Mitgliedstaates der Vereinten Nationen oder derjenigen seiner Staatsangehörigen war, die zum Zeitpunkt der Annexion oder Besetzung durch Deutschland oder zum Zeitpunkt seines Kriegseintrittes keine deutschen Staatsangehörigen waren..." In der verhandelten Angelegenheit hat also die Konfiskation des feindlichen Vermögens nicht nur eine innerstaatliche Rechtsgrundlage in Dekret Nr. 108/1945 Slg., über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung, das die Widerlegbarkeit der Vermutung der Verantwortlichkeit zuläßt, und zudem ex lege wirkt, jedoch nur solchen Personen gegenüber, über die rechtskräftig festgestellt wurde, daß sie unter die Bedingungen für die Konfiskation nach diesem Dekret fallen (§ 1 Abs. 4 des Dekretes), sondern sie basiert darüber hinaus auch auf einem internationalen Konsens, der in den zitierten Dokumenten der Potsdamer Konferenz und des Pariser Abkommens zum Ausdruck kommt. Es kam also zu keiner willkürlichen Beschlagnahme von Vermögen, deren Unzulässigkeit in Artikel 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegt wird. Auch der angeführte Gesichtspunkt der Willkür spielt bei den Überlegungen über die Berechtigung einer Konfiskation von Feindvermögen eine wichtige Rolle: Er weist nämlich auf die Legitimität des Vermögenseinzuges in jenen Fällen hin, in denen, nachdem weitere Bedigungen erfüllt worden sind, ein solcher Akt nicht als willkürlich betrachtet werden kann. Daß es sich seitens der Tschechoslowakei im Kontext der Kriegsereignisse und der Haltung der Siegermächte um keine derartige Willkür handelte, etwa um ein bloßes „Verhüllen" durch den Deckmantel des allgemeinen Interesses, das jedoch in Wirklichkeit die Grundrechte des Einzelnen verletzte, daran läßt sich kaum zweifeln.

36  Auch die Demokratie kommt nicht ohne Gewaltanwendung aus, denn diese gibt ihr eine wichtige Chance, nämlich die Chance, dem „Bösen", der Infiltration, dem Aufkommen totalitärer Elemente entgegenzutreten und sie allmählich zu beseitigen. Auch die Demokratie stellt eine Form der politischen Herrschaft dar – sonst könnte sie als politisches System überhaupt nicht funktionieren – , diese Form unterscheidet sich jedoch so stark von der totalitären Form, daß man die beiden kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen kann. Die Demokratie strebt die Herrschaft aller an, – auch wenn dieses Ziel niemals zu erreichen ist – , sie versucht, allen sozialen Einheiten den Zugang zu Machtpositionen zu ermöglichen. Die Eröffnung dieses Zugangs darf jedoch nicht zu einem Zustand der Anarchie führen. Die Staatsgewalt steht auch in der Demokratie vor der Notwendigkeit, will sie die mit dem Element der Macht verbundenen positiven Elemente erhalten, auf die Ambivalenz der sozialen Prozesse zu reagieren und Handlungen und Akte destruktiver Kräfte, die den vom Gesetz vorgegebenen Rahmen überschreiten, mit rechtlichen Mitteln zu ahnden. Stellt der Totalitarismus einen Angriff auf die Menschheit und die Geschichte dar, so ist gerade die Demokratie verpflichtet, einen solchen Angriff auf angemessene Art abzuwehren. Die positive Gestalt einer solchen Antwort hängt in erster Linie von der Wertordung ab, über die in der Gesellschaft ein gewisser Konsens herrscht.

37  Bei einem Zusammenstoß des demokratischen und des totalitären politischen Systems, wie dem Konflikt der Tschechoslowakei mit dem nazistischen Deutschland, konnte daher die Staatsgewalt der demokratischen Tschechoslowakei nicht mehr ohne eine nachfolgende Rechtsmaßnahme, wie sie das genannte Dekret darstellt, auskommen. In den zwanzig Jahre ihres Bestehens hielt diese Demokratie den Machtprozeß offen für Konflikt und sozialen Ausgleich und sicherte durch ihre Institutionen den verschiedensten Standpunkten die politische Basis. Diese Offenheit herrschte grundsätzlich auch im Verhältnis zu den Bürgern deutscher Nationalität. Nach der Phase der gewaltsamen Besetzung durch das nazistische Deutschland und infolge der Verluste und Wunden, die die Tschechoslowakei erlitten hatte, blieb der tschechoslowakischen Staatsgewalt kein anderer Weg, als sich mit den Folgen der nazistischen Besetzung und der Kriegsereignisse zumindest in einem gewissen Maße auseinanderzusetzen. Die Art und Weise, wie sie es tat, stand im Einklang mit der Wertanschauung, wie sie bereits in der Präambel der Verfassungsurkunde von 1920 geäußert wurde („den Segen der Freiheit für kommende Generationen zu sichern"), und sie wurde auch durch die in den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz eindeutig erklärten internationalen Zustimmung, besonders seitens der westlichen Demokratien, unterstützt.

38  Aus einem anderen Blickwinkel gesehen, die Wertordnung, die sich in der historischen Entwicklung immer mehr und vorrangig durch das Verständnis und die Sicherung der Menschenrechte und Freiheiten geäußert hat, erfüllt in der Gesellschaft bedeutende soziale Funktionen, namentlich eine regulative Funktion, eine Klassifikationsfunktion, eine Programmfunktion, eine Kontrollfunktion, also so bedeutende Funktionen, daß sie als Grundbedingungen des sozialen Handelns anzusehen sind: Sie sichert nämlich die Kontinuität der historischen und sozialen Entwicklung und ist damit auch die tragende Säule der Gesellschaft. Die Bedeutung der genannten sozialen Funktionen der Werte erklärt auch, warum einer der Schnittpunkte des Konflikts zwischen Demokratie und Totalitarismus gerade der Wertebereich ist und warum sich massive totalitäre Tendenzen gerade in dieser Richtung konzentrieren. Strebt der Totalitarismus die Beherrschung einer ganzen Gesellschaft an, so ist dieses Ziel nicht ohne gleichzeitige Einführung eines entgegengesetzten Wertesystems, dem sowohl die Geschichte als auch die menschliche Gesellschaft unterworfen werden, zu erreichen. So gesehen erweist sich der Kampf um die Werte als ein Kampf nicht nur um Demokratie, sondern auch um Substanz und Kontinuität des Menschen. Auch der deutsche Nazismus griff in diesem Kampf tief in sein Arsenal, und in seiner Theorie und Praxis läßt sich die schon von Plato so genial beschriebene Zerstörungskraft „der Sehnsucht nach dem Blute" feststellen, die ihre Befriedigung nicht nur in den Unmenschlichkeiten der Konzentrationslager, sondern auch in den Grausamkeiten des Vernichtungskrieges fand. Begriffe wie Führertum, Volkstum, Volksgemeinschaft (Anmerkung des Übersetzers: deutsche Begriffe im Original) stellen hier nur einige der Merkmale einer Ideologie dar, die auf ganz handgreifliche Art und Weise das Recht der nordischen Rasse auf Weltherrschaft deklarieren. Hinter den Ritualen, die die nazistische ‚Werteordnung‘ begleiteten, verbarg sich die Tendenz, alles wirklich Wertvolle zu zerstören und zu entwurzeln, alles, was dem Individuum seine Selbsterkenntnis und soziale Orientierung ermöglicht und ihn dagegen schützt, zu einem bloßen Objekt zu werden. In dieser Beseitigung der menschlichen Autonomie läßt sich auch der Sinn und Zweck der nazistischen Propaganda erkennen, die selbst die Umwelt der Opfer des Nazismus, die der Weltöffentlichkeit als Umerziehungs- und Arbeitseinrichtungen präsentierten Konzentrationslager, zu einer Scheinwelt machte.

39  Im System der sozialen Werte nimmt gerade die Freiheit einen bedeutenden Platz ein, die sich uns als provozierendes Element und gleichzeitig als Bedingung der sozialen Entwicklung zeigt: Zu wenig oder ganz fehlende Freiheit bedeutet stets Verlangsamung bzw. Stillstand der sozialen Entwicklung. In ihrem tiefsten Inneren wirkt die Freiheit an der Schaffung des Pflicht- und Verantwortlichkeitsbewußtseins mit: Sie inspiriert den Menschen, damit er die höchsten Ziele erreichen kann, gleichzeitig läßt sie ihn aber erkennen, daß sie, ihrem Wesen entsprechend, vor allem sich selbst Grenzen setzt. Unter diesem Blickwinkel sieht das Verfassungsgericht auch die Frage der Grenzen der Menschenrechte und Grundfreiheiten und die Untersuchung ihrer Natur und ihres Sinnes, wie sie, historisch bedingt, auch in der Zeit des Erlasses des angefochtenen Dekretes aufgekommen war. Obwohl nämlich die Festsetzung der Grenzen für Menschenrechte und Grundfreiheiten in jeder demokratischen Gesellschaft die Angelegenheit eines „offenen" sozialen Geschehens ist, in dem auch einer Minderheit das Recht auf ihre eigene politische Meinung zugestanden wird, so läßt sich dieses Recht der Minderheit nicht mit jeder beliebigen Meinung, die jeglichen positiven sozialen Hintergrund vermissen läßt, vereinbaren. Eine Demokratie würde sich selbst zerstören, wenn sie sich durch die Meinungen und Taten einer Minderheit zur Ergreifüng von Maßnahmen verpflichtet fühlte, die ihrer grundsätzlichen Wertorientierung widersprechen würden. Das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 108/1945 Slg. über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung ist auch aus dieser Sicht kein Willkürakt, sondern eine auf die Sicherung der Funktion und des Sinnes der Menschenrechte und Grundfreiheiten, ihres konstruktiven sozialen Beitrags, sowie eine auf die Vertiefung des Sinnes für Verantwortung gerichtete Sanktion. Die Rechte der ehemaligen Bürger der Tschechoslowakei mußten nach der Beendigung der nazistischen Besetzung nicht deshalb eingeschränkt werden, weil sie eine abweichende Einstellung vertraten, sondern deshalb, weil diese ihre Einstellung in ihrem Gesamtkontext dem Grundsatz der Demokratie und ihrer Werteordnung feindlich gegenüberstanden und in der Folge die Unterstützung eines Angriffkrieges bedeuteten. Diese Einschränkungen gelten im gegebenen Fall für alle anderen Fälle, die die aufgestellte Bedingung erfüllen, nämlich die Feindschaft zur Tschechoslowakischen Republik und ihrer demokratischen Staatsordnung und zwar ohne Rücksicht auf die nationale Zugehörigkeit. Wenn einzelne soziale Gruppen sich in der Anwendung der Menschenrechte und Grundfreiheiten keine Grenzen setzen und somit in die Rechte und Freiheiten anderer verletzen, bleibt nichts anderes übrig, als solches Verhalten rechtlich und sozial zu sanktionieren. Auch das Dekret Nr. 108/1945 Slg., über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung, verfolgte also das Ziel der politischen und ökonomischen Stabilisierung des durch Krieg und Besetzung verelendeten demokratischen Landes, ebenso das Ziel, eine weitere mögliche Wiederkehr einer ähnlichen historischen Situation zu verhindern, ferner das Ziel des Schutzes der Rechte und Freiheiten seiner Bürger, die diese Last ertragen mußten und deren gesellschaftliches und moralisches Bewußtsein – notwendig zur Ausübung dieser Rechte – nach Ausbleiben einer solchen Sanktion unabsehbare Risse erhalten hätte, auch wenn bei der Verfolgung dieses Zieles in den Nachkriegsverhältnissen schon einige Interessen und Praktiken politischer Kräfte verborgen waren, die die Einführung der sog. „Volksdemokratie", als Weg zum späteren totalitären System, anstrebten.

40  Zu dem Gesagten kommt noch die in der erörterten Sache ebenfalls wichtige Tatsache, daß die Exilgesetzgebung sowie die unmittelbare Nachkriegsgesetzgebung des befreiten tschechoslowakischen Staates einen heute bereits im Grunde geschlossenen Kreis von Problemen und Fragen darstellt, eng verbunden mit den Kriegsereignissen und der wirtschaftlichen Erneuerung des Landes. Die Gesetzgebungsakte aus dieser Zeit erfüllten somit ihren Zweck in der erwähnten unmittelbaren Nachkriegszeit. Aus heutiger Sicht sind sie durchweg ohne aktuelle Bedeutung und haben zudem auch keinen konstitutiven Charakter mehr (Artikel 5 Abs. 2 Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik vom 13. August 1944, Tschechoslowakisches Amtsblatt, in der Fassung des Gesetzes Nr. 12/1945 Slg., wodurch die Vorschriften über die Erneuerung der Rechtsordnung beschlossen, ergänzt und geändert werden). Die mit diesen Akten begründeten Rechtsbeziehungen sind somit nicht nur Folge der Kriegsereignisse, sie sind gleichzeitig auch Ergebnis der legal zum Ausdruck gebrachten tschechoslowakischen (tschechischen) gesetzgebenden Gewalt, die die Beseitigung der durch außergewöhnliche Umstände während der Zeit der Unfreiheit entstandenen Schäden zum Ziel hatte und denen dazu der aus den Vorschriften der tschechoslowakischen (tschechischen) Rechtsordnung abzuleitende Schutz zusteht.

41  Aufgrund dieser Feststellungen und Überlegungen kam das Verfassungsgericht zu dem Schluß, daß das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 108/1945 Slg. über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung zum Zeitpunkt seines Erlasses nicht nur ein 1egaler, sondern auch ein legitimer Akt war. In Hinblick darauf, daß dieser normative Akt seinen Zweck bereits erfüllt hat und seit mehr als vierzig Jahren keine Rechtsbeziehungen mehr begründet, somit also in Zukunft keinen konstitutiven Charakter mehr hat, kann man heute, in der erwähnten Situation, nicht seinen Widerspruch zum Verfassungsgesetz oder zu internationalen Abkommen gemäß Artikel 10 der Verfassung (Art. 87 Abs. 1 Buchst. a) der Verfassung der CR) untersuchen, weil ein solches Vorgehen jegliche rechtliche Funktion vermissen ließe. Täte man dies, so würde der Grundsatz der Rechtssicherheit in Zweifel gezogen, der eine der Grundvoraussetzungen der heutigen demokratischen Rechtssysteme ist.

42  Aus allen angegebenen Gründen hat deshalb das Verfassungsgericht den Antrag von Rudolf Dreithaler auf Aufhebung des Dekretes des Präsidenten der Republik Nr. 108/1945 Slg. über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung gemäß Bestimmung § 70 Abs. 2 Gesetz Nr. 182/1993 Slg., über das Verfassungsgericht, abgelehnt.

Die Nebenkläger Richard Bouška und JUDr. Jan Slaba werden auf diese Entscheidung verwiesen.

Gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts kann keine Berufung eingelegt werden.

Brünn, den 08. März 1995

unleserliche Unterschrift
JUDr. Zdenek Kessler
Vorsitzender des Verfassungsgerichts der CR

         (Rundstempel)
Verfassungsgericht der CR
                – 7 –

Diese Übersetzung wurde von der Sudetendeutschen Landsmannschaft angefertigt und von Frau Gudrun Heißig, vereidigte Gerichtsdolmetscherin für Tschechisch, überprüft und redigiert.
Alle Rechte an der Übersetzung liegen bei der SL. Ich danke für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.

KOMMENTAR aus der US-amerikanische Fachzeitschrift Foreign Policy über das Urteil des Tschechischen Verfassungsgerichtshofs vom 8. März 1995

KOMMENTAR "Offene Vermögensfragen zwischen Tschechen und Deutschen"
aus den Bayrischen Verwaltungsblättern 1997, Heft 23, Seite 719 f.