KOMMENTARE

Die US-amerikanische Fachzeitschrift Foreign Policy über das Urteil des Tschechischen Verfassungsgerichtshofs vom 8. März 1995:
Am Ende traf das hohe tschechische Gericht die schlechtestmögliche Entscheidung. Es bestätigte nicht nur die Verfassungsmäßigkeit der Dekrete, sondern rechtfertigte seine Entscheidung damit, daß es das deutsche Volk für die im Namen des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen „kollektiv verantwortlich“ erklärte. „Sind für die Gaskammern, Konzentrationslager, Massenmorde, Erniedrigung, Tötung und Entmenschlichung von Millionen ausschließlich die Nazis verantwortlich?“ heißt es in der Entscheidung des Gerichts „oder sind in Wirklichkeit all jene schuldig, die von dieser Bewegung stillschweigend profitierten, ihre Befehle ausführten und keinen Widerstand leisteten?“ Unter Aufgabe des „Schwarz-weiß-Schemas“, das ausschließlich die Nazis für Nazi-Verbrechen verantwortlich machte, bestand das Gericht darauf, daß „Verantwortung“ für die Grausamkeiten der Nazis nicht nur auf Hitler und seinen Konsorten lastete, sondern auf dem deutschen Volk als ganzem.

Es war ein bemerkenswertes Urteil. Keine andere europäische Nation hat sich dieses Konzept der Kollektivschuld zueigen gemacht und es auf den Zweiten Weltkrieg angewendet. Sogar das Nürnberger Tribunal von 1946, das für ein Dutzend Nazi-Kriegsverbrecher die Todesstrafe und für ungezählte weitere lebenslängliche Freiheitsstrafen aussprach, hatte das Prinzip der Kollektivschuld ausdrücklich abgelehnt. Fünfzig Jahre später sagten sich die Richter des Tschechischen Verfassungsgerichtshofes von dem Nürnberger Präzedenz los und erklärten die deutsche Nation als ganze verantwortlich für die im Namen des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen.

Aus: Timothy W. Ryback: „Dateline Sudetenland: Hostages to History“, Foreign Policy No. 105, Winter 1996-97, 5. 173.
Übersetzung: Konrad Badenheuer. Wiedergabe mit Erlaubnis des Übersetzers.

 

 

Kleiner Beitrag aus den Bayerischen Verwaltungsblättern 1997, Heft 23, Seite 719 f.

Offene Vermögensfragen zwischen Tschechen und Deutschen
Überlegungen an Hand der Entscheidung des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik
vom 8. März 1995
(BayVBI. 1996, 14 mit Anmerkung von Rzepka)

Seit dem Ende der kommunistischen Zwangsherrschaft in Europa und insbesondere seit dem deutsch-tschechoslowakischen Nachharschaftsvertrag von 1992 wird in der politischen Auseinandersetzung die Frage der Bereinigung des Unrechts angesprochen, das zwei Diktaturen auch in der Tschechoslowakei begangen und hinterlassen haben. Unvergessen bleiben mit Recht die schweren Ühcrgriffe des NS-Regimes auch in Böhmen und Mähren, insbesondere die rechtsstaatswidrigen Repressalien nach der Ermordung Heydrichs (1942). Der neue tschechische Staat trifft bei seinem Bemühen um die „Rückkehr nach Europa“ aber auch auf die Erinnerung seiner überlebenden deutschen Bürger, der Sudetendeutschen, an nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlittene Rechtsverletzungen, eigene und solche ihrer Vorfahren. Bekanntlich wurden damals auf der Grundlage von Präsidialdekreten insbesondere die im Gebiet der Tschechoslowakei ansässigen Deutschen enteignet, die nicht rechtzeitig Geflüchteten in Internierungslager gebracht, zur unentgeltlichen Zwangsarbeit herangezogen, vielfach gedemütigt, verletzt und umgebracht‚ und schließlich die Uberlebenden „für dauernd“ des Landes verwiesen und nach Deutschland abtransportiert. Im Zuge der Bemühungen um eine Aufarbeitung dieser Vorgänge fehlte es bisher, abgesehen von einigen Auftragsgutachten, an einer Behandlung der Rechtslage im juristischen Schrifttum und der Rechtsprechung.

Zur vermögensrechtlichen Seite der Problematik liegt jetzt erstmals eine Gerichtsentscheidung vor mit dem Erkenntnis des tschechischen Verfassungsgerichts in Brünn vom 8. März 1995. Es ist das Verdienst Rzepkas, eine Ubersetzung dieser Entscheidung angefertigt und veröffentlicht und damit die juristisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung im deutschen Schrifttum eingeleitet zu haben. Rzepka liefert auch schon einen Beitrag hierzu, durch Übernahme einer Schlußbemerkung der Entscheidungsgründe, und zwar dahin, daß der angebrachte Normenkontrollantrag gegen das Enteignungsdekret vom 25. Oktober 1945 im Ergebnis zu Recht wegen „Unzuständigkeit“ des Verfassungsgerichts zurückzuweisen war, weil die 1945 vom damaligen Präsidenten Beneš erlassenen mehreren Dekrete, die im einzelnen Verfolgungsmaßnahmen gegen Deutsche, Ungarn u.a. verfügten, „heute keinen konstitutiven Charakter mehr haben“.

Der vorliegende Beitrag ist nicht um eine juristische Patentlösung dieser oder anderer Art bemüht, sondern bescheidener um das Aufzeigen von allgemein-rechtsstaatlichen Gesichtspunkten, die in der genannten Entscheidung und/oder bei ihrer Beurteilung bisher zu kurz gekommen zu sein scheinen. Dabei darf angenommen werden, daß gerade auch die junge, im Aufbau befindliche tschechische Verfassungsrechtsprechung und -lehre an derartigen Hinweisen interessiert ist. Die genannte Entscheidung prüft nämlich – jedenfalls verbal – unter Bezugnahme auf die frühere tschechoslowakische Verfassung von 1920 die angegriffene Rechtsnorm zutreffend am Maßstab des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips, das in der neuen tschechischen Verfassung vom 16. Dezember 1992 ausdrücklich festgelegt ist (Präambel und Art. 1; vgl. dazu u.a. Hošková, Rechtsstaatlichkeit in der Tschechischen Republik, in: Hofmann/Marko/Merli/Wiederin, Rechtsstaatlichkeit in Europa, C.F. Müller, 1996, S.251ff.).

Da sind zunächst die allgemeinen Regeln für die Außerungen der dritten rechtsstaatlichen Gewalt, nicht von ungefähr herausgebildet, um Klarheit und Übersichthichkeit richterlicher Entscheidungen zu gewährleisten. Das hier besprochene Erkenntnis ist in diesem Sinne, nach den politischen Umständen durchaus verständlich, kein juristisches Meisterstück. Anstatt im sog. Urteilsstil jeweils (Zwischen-)Ergebnisse festzustellen und diese anschließend zu begründen, werden abschnittsweise sog. Grundsatzfragen nur aufgeworfen und ohne klare Antwort wieder verlassen, um dann unvermittclt „auf der Grundlage aller ... Erwägungen zu dem Schluß (zu kommen), daß das Dekret Nr. 108/1945 zur Zeit seines Erlasses nicht nur ein legaler. sondern auch ein legitimer Akt war“. Diese verblüffende (Rzepka) Entscheidungsfindung führt – abgesehen von dem methodischen Mangel – auf das erste inhaltliche Bedenken. Das Gericht spricht – mit den juristisch unklaren Begriffen der Legalität und Legitimität anstatt der Rechtmäßigkeit (Verfassungsmäßigkeit) – in der Vergangenheitsform, offensichtlich im Anschluß an die Annahme, die angegriffene Norm habe „in der unmittelbaren Nachkriegszeit ihren Zweck erreicht“ (Rzepka: sei obsolet geworden). Was damit für den konkreten Fall gemeint ist, bleibt unklar. Auch das (deutsche) allgemeine Verfassungsrecht kennt zwar das Gegenstandsloswerden von Rechtsnormen. z.B. bei wirtschaftslenkenden Maßnahmen, die mit Erreichung (oder Verfehlung) des wirtschaftlichen Erfolgs in der Tat ohne weitere Rechtswirkungen erledigt sind (BVerfGE 4. 7/18 zu einem Investitionshilfegesetz). Das gilt aber gewiß nicht für rechtsgestaltende Eingriffsakte wie hier die Enteignungen. Von einem Wegfall ihrer Rechtswirkungen durch Zeitablauf (wann?) kann hierbei nicht ernsthaft die Rede sein: es soll doch ersichtlich für alle Zukunft bei der verfügten Rechtsübertragung verbleiben. Im übrigen bleiben auch erledigte Rechtsakte – bei entsprechendem rechtlichen lnteresse – gerichtlich nachprüfbar, insbesondere im öffentlichen Recht (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO und auch BVerfG, a.a.O.). Die Feststellung des tschechischen Verfassungsgerichts, es dürfe „kein Gericht der Gegenwart über die Vergangenheit“ geben, ist schlicht rechtsprechungsfremd. Rechtsprechung ist notwendig und praktisch fast ausschließlich die Beurteilung – erforderlichenfalls Verurteilung – bereits geschehener, also vergangener Ereignisse. Spekulationen in die Zukunft sind regelmäßig nicht Aufgabe von Gerichten (vgl. eine etwaige Ausnahme in § 257 ZPO).

Bei dem Dekret handelt es sich um eine sogenannte Legalenteignung, d.h. die Rechtsübertragung soll durch die Rechtsnorm selbst mit ihrem Inkrafttreten erfolgen (nicht erst durch auf ihrer Grundlage zu erlassende Einzelakte). Derartige „Maßnahmegesetze“ sind rechtsstaatlich nicht unzulässig (vgl. Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG), aber doch mißbilligt, weil durch sie „der dem Grundrecht wesensmäßig zugehörige Rechtsschutz entscheidend gemindert“ wird (BVerfG. DÖV 1969, 102). Das Eigentum war als Grundrecht auch schon in der tschechoslowakischen Verfassung von 1920 anerkannt.

Als nächstes ist auf das Rechtsstaatsgebot der Bestimmtheit von hoheitlichen Eineriffen einzugehen. Das Dekret richtet sich gegen Personen deutscher (und ungarischer) „Nationalität“. Dieser Begriff ist unklar. Nicht bestimmt ist er offensichtlich, wie das Gericht zutreffend ausführt, durch die (deutsche) Staatsangehörigkeit. Es bleiben dann noch zwei Auslegungsmöglichkeiten. Die näherliegende ist ein Abstellen auf die Abstammung. Für diese Anknüpfung könnte die Bemerkung des Gerichts über eine „genetische Verurteilung“ sprechen. Eine ethnische Bestimmung der Nationalität ist aber in einem Vielvölkerstaat wie der damaligen Tschechoslowakei besonders problematisch und unscharf angesichts der zahlreichen Mischehen in allen Generationen. Die andere Verständnismöglichkeit ist diejenige des Bekenntnisbegriffs, wie ihn z.B. § 6 des Bundesvertriebenengesetzes verwendet. Diese Definition, die dem tschechischen Recht ohnehin fremd zu sein scheint, bedürfte aber – nach dem Muster des § 6 a.a.O. – einer näheren normativen Umschreibung, um uferlose, rein subjektive Bekenntnismöglichkeiten auszuschließen. Eine weitere Unklarheit ergibt sich hier noch dahin, ob mit „deutschem“ Vermögen auch solches von außerhalb der tschechoslowakischen Republik ansässigen Deutschen gemeint sein soll, also vor allem im sog. Altreich, aber auch in Österreich, Italien, der Schweiz u.a. Hiergegen spricht, daß das Verfassungsgericht hier unter den von der Enteignung betroffenen Deutschen – im Gegensatz zu Tschechen – nur diejenigen anspricht. die „durch Illoyalität gegenüber der tschechoslowakischen Republik den Nazistaat unterstützt hatten“. Eindeutig ist aber diese Auslegung nicht, zumal an anderer Stelle – übrigens wenn man so will „politisch korrekt“ – von einer Verantwortung des ganzen deutschen Volkes für die Naziherrschaft die Rede ist.

Mit dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz unvereinbar ist wohl auch die Bezeichnung der erfaßten Vermögensobjekte. Das Enteignungsdekret betrifft nach seinem Wortlaut auch das gesamte (!) „bewegliche“ Vermögen. In diesem wörtlichen Sinne war die Anordnung aber wohl nicht gemeint und wurde jedenfalls von niemandem so verstanden. Es gab insbesondere insoweit – entgegen der Annahme von Rzepka – gar keine „Vollzugsstellen“, die die Norm dahin anwenden sollten und konnten, daß jeder Deutsche (wann? wo?) seinen beweglichen Besitz – außer einigen unentbehrlichen Stücken wie Kleidern u.ä. – zur Beschlagnahme anzumelden gehabt hätte. Die behördliche Praxis war anders: das deutsche bewegliche Vermögen war stillschweigend zur Plünderung freigegeben, im übrigen verblieb es zunächst den Eigentümern. Bei der späteren Aussiedlung wurde auch jedem die Mitnahme eines Teiles „seiner“ Habe zugestanden‚ anstatt ihn etwa insoweit wegen Unterschlagung enteigneter Sachen zu belangen. Die etwaige Unwirksamkeit der Enteignung der beweglichen Sachen kann heute noch von praktischer Bedeutung sein. Das bewegliche Vermögen der Sudetendeutschen fiel bekanntlich auf verschiedenste Weise in fremde Hände und befindet sich z.T. bis heute dort, etwa in Form wertvoller Kunstgegenstände.

Über die bisher aufgezeigten formalen Gesichtspunkte hinaus bestehen weitere inhaltliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der erwähnten Enteignungen. Das gilt einmal für den Ausschluß jeglicher Entschädigung. Um eine strafrechtliche Vermögenskonfiskation soll es sich nach der Feststellung des Verfassungsgerichts nicht gehandelt haben. In jedem anderen Zusammenhang ist aber eine entschädigungslose Enteignung allgemein verfassungsrechtlich unzulässig (Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG). Kernpunkt der Entscheidung ist der Versuch des Verfassungsgerichts, die allgemeine Enteignung nachträglich zu rechtfertigen als eine Maßnahme „zum Zwecke der Verteidigung der Grundlagen der Tschechoslowakischen Republik“, „zur Reaktion (!) auf die Haltung der tschechoslowakischen Bürger deutscher Nationalität in den kritischen dreißiger Jahren“. Eine solche nun doch mit pönalen Überlegungen verbundene Motivation für Enteignungen ist mit rechtsstaatlichen Mindestanforderungen schwerlich vereinbar. Ist danach schon der mit der Norm verfolgte Zweck verfassungswidrig, dann stellt sich die – in der Entscheidung kurz behandelte – Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Mittels nicht mehr.

Erhebliche Bedenken u.a. unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Willkürverbots (Gleichheitssatzfolge) ergeben sich gegen die Bestimmung des erfaßten Personenkreises als „Verantwortliche“ für die Aufteilung des Landes. Es seien dies die „deutschen Bürger der Vorkriegstschechoslowakei“ (von den ebenfalls enteigneten Ungarn ist hier nicht die Rede). Sie seien „wichtige Akteure“ gewesen, wogegen der tschechoslowakische Staat „nur ein Objekt“ der Vorgänge gewesen sei. Hier legt das Gericht einen bereits – einseitig und subjektiv – bewerteten Sachverhalt zugrunde „ohne jede Rücksicht auf die Komplexität der Geschichte“ (Rzepka). Die Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts ist in der Verfassungsrechtsprechung allgemein problematisch. Verfassungsrichtern werden Beweiserhebungen regelmäßig nicht zugemutet, sie begnügen sich vielfach mit sogenannten allgemeinkundigen Tatsachen und dem Vortrag der Prozeßbeteiligten. Im vorliegenden Fall bot sich aber eine einfache und zumutbare Beweiserhebung über die historischen Vorgänge an durch Befragen der eigens dafür im Vertrag von 1992 eingesetzten deutsch-tschechischen Historikerkommission. Der rechtserhebliche Sachverhalt stellte sich dabei anders dar. Dem von den Westmächten, die den tschechoslowakischen Staat 1919 geschaffen hatten, nach Prüfung der Entwicklung bis 1938 gemachten Vorschlag zur (Wieder-) Abtrennung der deutschen Gebiete vom 19. September 1938 hat nicht etwa eine Rechtsvertretung der Sudentendeutschen zugestimmt, sondern die amtierende tschechoslowakische Regierung unter Präsident Beneš mit förmlicher Note vom 21. September 1938 und dies mit Rechtswirkungen natürlich auch für und gegen die Sudetendeutschen. Gegen sie insofern, als ein nicht unwesentlicher Teil von ihnen bis zuletzt offen für Autonomie innerhalb der Tschechoslowakei anstatt eines Anschlusses an das deutsche Reich eintrat, so vor allem die sudetendeutschen Sozialdemokraten u.a. noch mit einem öffentlichen Aufruf vom 20. September 1938; manche von ihnen hatten das alsbald in deutschen Konzentrationslagern zu büßen. Daß der rechtserhebliche historische Sachverhalt noch weitere klärungsbedürftige Facetten hat, ist keine Frage und kann hier nicht weiterverfolgt werden.

Gleichgültig, zu welcher rechtlichen Beurteilung bei Berücksichtigung der vorstehenden Überlegungen in den zu erwartenden künftigen Streitfällen Rechtsprechung und -lehre, auch auf europäischer Ebene, noch kommen werden: Rechtspolitisch besteht sicherlich hinreichender Anlaß für eine einvernehmliche Bereinigungsregelung der beiden beteiligten Staaten, die mit der deutsch-tschechischen Erklärung vom 21. Januar 1997 noch nicht erreicht ist (vgl. auch Blumenwitz, BayVBl. 1997, 161ff.).
Dr. Fritz Czermak, München/Olmütz