Breslau, eine deutsche Stadt
Breslau, einst achtgrößte deutsche Kommune und Schauplatz einer doppelten Vertreibung, findet wieder zu seiner Vergangenheit

Fünf Jahrzehnte versuchten Historiker, den Menschen in Breslau weiszumachen, ihre Stadt sei von jeher polnisch gewesen. Aber nicht nur die Grabsteine auf den Friedhöfen sprechen eine andere Sprache. Die neue Freiheit erlaubt, daß auch die Frage nach dem Früher wieder gestellt werden kann – nach der deutschen Vergangenheit.

Breslau – "Einen Moment", sagt Maciej Lagiewski und erklärt, während er in den Papieren auf seinem Schreibtisch gräbt, daß sein Vorname "Matthias" bedeutet. Der Schreibtisch ist dicht belegt mit Papieren, was auf den arbeitsreichen Direktorenalltag im Historischen Museum von Breslau schließen läßt, was aber auch wiederum schade ist, weil dadurch kaum etwas zu erkennen ist von dem geschwungenen Muster des Wurzelholzes, das zwischen hell und dunkel changiert. Das kantige Möbel war bis Kriegsende der Arbeitstisch des Breslauer Bürgermeisters. Nun ist es frisch renoviert. Nur vorne kann der Besucher im Holz ein auf die Spitze gestelltes Dreieck erkennen. "Hier war der Adler", sagt der Direktor. Erst der schlesische, dann für ein paar Jahre der, der das Hakenkreuz krallte.

Daß der 41jährige Pole Lagiewski an einem Stück deutscher Handwerkskunst seinen Arbeitstag verbringt, ist nicht nur deshalb erstaunlich, weil seines Vaters "erste Familie" von Nazis ausgerottet wurde und der fast 90jährige sich noch heute weigert, die deutsche Sprache zu sprechen, die er als Kind besser kannte als das Polnische. Es ist auch deshalb bemerkenswert, weil der Sohn mühelos einen modernen Schreibtisch hätte ordern können, sich aber bewußt das alte Holz aus dem Fundus holte. Der Schreibtisch ist Programm: "Wir müssen in dieser Stadt wieder zu unserer Geschichte finden."

Aber was ist schon "unser" in dieser Stadt, in der Preußen-König Friedrich III. nach den Befreiungskriegen im März 1813 das erste Eiserne Kreuz verlieh und Ferdinand Lassalle 1863 den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und damit den Beginn der deutschen Sozialdemokratie gründete und die schließlich Deutschlands achtgrößte Kommune wurde; die aber vor einem halben Jahrhundert ihre Bevölkerung so vollkommen austauschte wie weltweit keine andere Stadt ähnlicher Größe in der Neuzeit. 1939 zählte Breslau 629 565 Einwohner, kaum zwei Prozent waren Polen. Was dann kam, war eine Doppelvertreibung: Nach dem Fall der Festung Breslau mußten die Deutschen westwärts, und aus dem Osten kamen Polen, zumeist ebenfalls vertrieben aus Lemberg, das Stalins Sowjetreich zugeschlagen wurde.

Heute leben in Breslau, das den polnischen Namen Wroclaw erhielt, 641 800 Menschen, doch kaum mehr als 3000 von ihnen sind Deutsche. Zur kommunistischen Zeit waren Flucht und Vertreibung kein Thema, spurtreue Historiker bogen die Geschichte zu der Behauptung, man sei zurückgekehrt auf altes polnisches Territorium. Erst die neue Freiheit erlaubt die Fragen nach dem Früher.

"Die Pflastersteine sprechen deutsch und polnisch", sagt der Taxifahrer, und sein 200er aus Stuttgart rollt über die Powstancow Slaskich, die früher Kaiser-Wilhelm-Straße hieß und für wenige Jahre die Bezeichnung "Straße der SA" erdulden mußte. Er unterquert die Bahnlinie, über die der Intercity in 255 Minuten den Berliner Hauptbahnhof erreicht und damit schneller in der deutschen als in der polnischen Hauptstadt ankommen kann, und überquert den Kosciuszki-Platz, in dessen Mitte ein Gedenkstein liegt für die polnischen Freiheitskämpfer von 1791 bis 1945. Hier stand einmal der Sarkophag des Preußengenerals von Tauentzien. Der Feldherr hatte über Jahre hinweg einen Sekretär namens Lessing beschäftigt, der in dieser Stadt die "Minna von Barnhelm" schrieb.

Der Museumsdirektor war noch ein kleiner Junge, als ihm die ersten Fragen kamen. "Damals schon hat mich irritiert, daß auf meiner Schuluniform ein Wappen war, das nicht paßte zu dem Wappen, das über dem Portal meiner alten Schule hing." Dem neugierigen Schüler kamen immer neue Fragen: "Es waren die alltäglichen Spuren, das Wort ,Zeitungen' auf den Briefkästen, deutsche Namen auf den Klingeln, die Schrift in den Kanaldeckeln." Später entdeckte er weitere Merkwürdigkeiten: Weshalb waren am Stadthaus über der Jahreszahl "1907" die Buchstaben "Erbaut" herausgemeißelt – und so stümperhaft, daß sie dennoch zu erkennen waren? Weshalb war über dem Eingang der größten Schule die Schrift, die eine Büste umrandete, getilgt? Es dauerte einige Zeit, bis er die Antwort erfuhr und seither weiß, daß der Marmorkopf mit den langen Haaren nicht die polnische Schriftstellerin Maria Dabrowska darstellt, was alle Schüler glaubten, weil die Schule ihren Namen trägt, sondern den Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi, dem zu Ehren der rote Klinkerbau 1904 errichtet wurde.

"Unsere Historiker waren nur auf den Spuren der Piasten", sagt Lagiewski. Die Anfänge der Stadt auf einer Oderinsel gehen wohl auf dieses älteste polnische Herrschergeschlecht zurück. 1241 wird Breslau nach deutschem Recht neu gegründet und erhält 20 Jahre später das Stadtrecht. 700 Jahre Geschichte folgen, die Lagiewski, während er schon Jura studiert, auf Friedhöfen aufzuspüren versucht – Grabsteine als Bewahrer der Vergangenheit. Aber auch da stößt er bald an Grenzen: "Sie sind weg, Grünanlagen und Parks wurden daraus." Der jüdische Friedhof an der Gwarnastraße bestand noch in den fünfziger Jahren, dann wurde er mit Bitumen übergossen und als Tennisplatz genutzt. Die Toten blieben unter dem Court.

Als Jura-Professor begann Maciej Lagiewski vor 20 Jahren einen "Privatkampf": Er legte überwucherte Grabsteine frei. Dabei fand er unter Efeu versteckt den schwarzen Marmor mit der Frakturschrift "Ferdinand Lassalle". Das L und das Schluß-E hängte sich der SPD-Urvater erst nach einem Paris-Aufenthalt an, der Steinmetz hielt sich an den urkundlichen Namen. Mittlerweile glänzt der Stein poliert, Willy Brandt und Johannes Rau neigten schon das Haupt davor, "Enkel" Oskar Lafontaine hat noch nicht den Weg in den Breslauer Süden gefunden.

Es ist Spätsommer in der Stadt, der Verkehr zwängt sich im Schrittempo an den vielen Baustellen vorbei. "Das wird ein neuer Abwasserkanal", erläutert der Taxifahrer. Seit Kriegsende ist nichts geschehen im Untergrund, und noch sind kaum mehr als ein Dutzend Jahre vergangen, seit die Bitten um Geld für allernötigste Arbeiten in der Hauptstadt Warschau mit der Bemerkung abgelehnt wurden, das brauche man nicht, die Deutschen würden sich die Stadt sowieso wiederholen.

Die Furcht vor dem mächtigen Nachbarn im Westen ist seit Grenz- und Grundlagenverträgen geschrumpft, aber nicht verschwunden.

Roland Kieslow, der deutsche Generalkonsul, der mehr als 800 000 Mitglieder der deutschen Minderheit in Schlesien zu betreuen hat und am Stadtgraben in der noblen Bierbrauervilla Haase residiert, muß sich immer wieder mal mit nationalistisch gefärbten Zeitungskommentaren und gelegentlich auch gehässigen Leserbriefen beschäftigen. Das aber sei die Ausnahme, betont der Diplomat, "die Gesten der Versöhnung überwiegen". Auch die Städtepartnerschaft mit Wiesbaden, wo der Oberbürgermeister ein gebürtiger Breslauer ist, knüpft ein Beziehungsgeflecht. Nur der Partnerschaft mit Dresden, geschlossen noch zu SED-Zeiten, fehlt der Schwung. Enttäuscht kehrte kürzlich der polnische Rundfunkdirektor des Breslauer Senders von einer Elbvisite zurück. "Da hat sich in den Köpfen noch kaum etwas geändert", fand er.

Breslau aber spuckt in die Hände – ohne Aufbau Ost, aber mit dem spürbaren Willen, eine bessere Zukunft zu erobern. Nur 20 000 Arbeitslose sind registriert, 22 Prozent weniger als vor Jahresfrist. Dafür verdoppelt der Baustoffhändler Raab Karcher den Umsatz seiner Breslauer Niederlassung Jahr um Jahr. In der Altstadt wird gegraben und betoniert, verputzt und gestrichen. Am Ring neben dem prunkvollen Rathaus mit seinem gotischen Giebel und der 416 Jahre alten Uhr ist das Pflaster aufgerissen, ebenso ein paar Schritte weiter am Salzplatz, der früher nach dem vor der Stadt zur letzten Ruhe gebetteten Feldmarschall Blücher benannt war. Laternen nach altem Vorbild sind schon angebracht, das Kurfürstenhaus mit seiner reich verzierten Renaissancefassade ist bereits renoviert, bei der alten Börse steht ein deutscher Käufer im Wort. Im Juni 1997 muß die Stadt strahlen, wenn der Papst und eine Million Pilger zum Eucharistischen Weltkongreß kommen.

Die meisten der deutschen Touristen zählen zu den älteren Jahrgängen. Manche wagen endlich den ersten Besuch in der alten Heimat. Ein Ehepaar, beim Frühstück im Hotel nach dem Wohin gefragt, antwortet ohne Scheu: "Wir besuchen unser Haus." Und auf die Nachfrage, wie denn einen solchen Besuch wohl jene empfinden, die jetzt in dem Haus wohnen, kommt ein Lächeln: "Die freuen sich, wir treffen uns schon seit Jahren. Die sind aus dem früheren polnischen Lemberg, sind doch auch Flüchtlinge wie wir." Wo geteiltes Leid nur halbes Leid ist, findet Versöhnung ein neues Fundament.

Quelle: Von Peter Schmalz, DIE WELT, 12.9.1996

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Mir mutet er an wie Schönfärberei. Soll der Leser über die Verbrechen gegen das Völkerrecht hinweg zur Tagesordnung übergehen? Da werden geschichtliche Vorgänge in Zusammenhang gebracht, die weder tatsächlich noch rechtlich etwas miteinander zu tun haben: Die angebliche Vertreibung der Volkspolen aus den 1923 von den Polen annektierten, 1939/1945 wieder an die Sowjetunion (Weißrußland, Ukraine) zurückgegebenen Gebiete östlich der Curzon-Linie hatte in ihrer Durchführung einen unvergleichbar anderen Charakter als die Austreibung der Deutschen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten. Allein schon die Zahlen der betroffenen Personen erlauben keinen Vergleich. Zum anderen wird ein Unrecht nicht dadurch erträglicher, daß ein anderes Unrecht geschieht. Nach wie vor gibt es für die Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Viertel des Deutschen Reiches und aus den deutschen Siedlungsgebieten Alt-Österreichs keinerlei völkerrechtliche Handhabe. Der polnische Staat brauchte keine Wiedergutmachung im Westen für Verluste im Osten: die Gebiete, die er im Osten an die Nachbarstaaten abgab, hatte der polnische Staat sich mit Waffengewalt angeeignet, als die Nachbarstaaten schwach waren. Dort war der überwiegende Teil der Bevölkerung nicht polnisch. Und um die wenigen Millionen Polen aufzunehmen, die nach dem Krieg aus ihrer Heimat im westlichen Weißrußland und in der westlichen Ukraine ausgesiedelt wurden (wohlgemerkt: zwischen „befreundeten" Staaten, die nicht Krieg führten gegeneinander, sondern sich unter der Aufsicht der übermächtigen Sowjetunion befanden), brauchte man nicht 12 oder 15 Millionen Deutsche aus ihrer Heimat bei Schnee und Eis und mit Waffengewalt auszutreiben, von den brutalsten Mißhandlungen aller Art ganz zu schweigen!

„Ethnische Säuberungen" sind und bleiben unverjährbare Verbrechen, die nur durch Wiedergutmachung gesühnt werden können. ML 2000-12-10