Suchen, Begegnung und Erkenntnis

Für einen einfachen Menschen, wie ich es bin, ist es nicht leicht, eine Begebenheit so zu erzählen, daß sie für den Zuhörer interessant ist, daß sie ihn anspricht. Noch schwerer ist es zu versuchen, diese Begebenheit aufzusehreiben. Ich will es dennoch versuchen, weil ich mit diesem Ereignis, das ich vor kurzem erlebte und eigentlich noch immer weiter erlebe, auch weitere Menschen vertraut machen will, die den Zauber alter Foto grafien lieben, sich für Landschaft, Städte und Dörfer vor hundert Jahren mteressieren, und besonders für die Menschen, die hier lebten.

Für mich begann alles an einem Hcrbsttag des Jahres 2000. Auf meinem Schreibtisch fand ich ein in vergilbtes Wachspapier verpacktes Päckchen mit einem Zettel, auf dem eine Telefonnummer aus unserem Ort vermerkt wai: Nach dem Öffnen kamen zwei Kartonschachteln mit Glasnegativen zum Vorschein. Beim Durchblick gegen das Licht erinnerten sie mich aber an nichts in der Umgebung.
Ich wählte die angegebene Telefonnummer und es meldete sich mein Kamerad Ludwig Klimek. Dieser sagte mir, daß er auf dem Dachboden seines Hauses eine Holzkiste voll von solch ähnlichen Schachteln mit Glasnegativen gefunden habe. Da er wisse, das ich und mein Bruder Emil an alten Fotografien Interesse haben, möchte er uns die Freude machen und uns diese Kiste mit Glasnegativen schenken. Wir zögerten nicht lange und schon kurz danach holten wir über eine enge Holztreppe die Schachteln mit den kostbaren gläsernen Bildern herunter.
Das nächste Wochenende verbrachten wir mit dem Auspacken und vorsichtigem Reinigen der einzelnen Gläser. Selbstverständlich sahen wir sie auch durch, aber nichts deutete darauf hin, daß der Fotograf in unserer Stach drau fotografiert hatte.
Ich brachte die Negative zu einem Fotografen aus Neutitschein, der uns von allen Negativen Kontaktabzüge machte.
Das Anschauen der Fotos war schon bequemer und hauptsächlich für die Negative sicherer. Leider bestätigte sich, daß keine von den fast 600 Fotografien von Odrau oder der näheren Umgebung sind. Nur auf einem Bild erkannten wir den Stadtplatz von Neutitschein. Auf einigen weiteren Prag und Wien.
Alle anderen waren uns unbekannt.

Die erste Enttäuschung wechselte in Neugier und mit ihr tauchten viele Fragen auf. Wo ist diese Landschaft voller Berge und Wälder? Wo steht die Fabrik im Tal mit hohem Schornstein und interessanten Gebäuden? Wo ist dieses Haus unter dem zuckerhutähnlichem Berg, das sich auf den Bildern so oft wiederholt?
Und besonders: wer sind die Menschen, die vom unbekannten Fotografen privat und bei der Arbeit festgehalten wurden?

Meistens am Abend und in der Nacht, wenn man endlich Ruhe hat und sich besser konzentrieren kann, nahm ich ein Bild nach dem anderen und suchte Antworten auf unsere Fragen. Ich begann zu telefonieren, Briefe zu schreiben, besuchte ausgesuchte Orte, um dort den Menschen Fragen zu stellen. Dabei sah ich die Bilder immer wieder durch.
Das brachte mich auf eine weitere Spur. Auf manchen Bildern waren Bauarbeiten zu erkennen. Es konnte sich dabei um einen Ausbau von Straßen oder Eisenbahnen handeln. Auf einigen Bildern aber endete dieser Bau gegen einen hohen bewaldeten Berg. Weil mir von einem Tunnel in näherer oder entfernterer Umgebung nichts bekannt ist, konnte es sich um die Endstation einer Lokalbahn handeln.
Das Beschaffen der Karten der umliegenden bergigen Umgebung der Beskiden und des Gesenkes, und auf ihnen alle Endstationen der Eisenbahn, war kein Problem mehr. Gleichzeitig suchte ich selbstverständlich auch Informationen über das Einfamilienhaus, wo die Negative gefunden wurden und über den früheren Eigentümer. Was ich dabei erfahren konnte, war interessant und beweist nur, daß sich um uns herum viele menschliche Erlebnisse abspielten und noch immer abspielen, aus denen sich dann menschliche, oft tragische Schicksale zusammensetzen.

Das Einfamilienhaus Nr. 629/19 in Odrau ließ sich Herr Johann Mendel, geboren am 19. Mai 1889 in Kunzendorf bei Weißkirchen, bauen (der zu dieser Zeit Gendarmeriewachtmeister in Unterlomna bei Jablunka war). Weil es sich um ein bewaldetes, bergiges Gebiet der Beskiden handelt und in der Nähe von Unterlomna die Eisenbahn endet (Mosty u Jablunkova) war es für mich ein „heißer Tip“ zur Herkunft der Fotografien. Bald aber „kühlte“ mich der Bürgermeister von Unterlomna, Herr Viktor Sykora, persönlich ab, der aus eigenem Interesse nach Odrau kam, um die Fotografien selbst zu sehen. Leider, das Resultat war negativ. Die Bilder hatten mit Unterlomna nichts gemeinsam.

Meine Aufmerksamkeit richtete sich auch auf die Gattin von Johann Mendel, Frau Karoline, geborene Meinhard, Tochter des Revierförsters in Grafendorf bei Deutsch-Jaßnik (geboren am 22. Oktober 1905). Johann Mendel und Fräulein Meinhard heirateten am 20. Januar 1931 in Deutsch-Jaßnik, also zwei Jahre vor dem Bau ihres Hauses in Odrau. Leider war auch diese Spur falsch. Weitere Nachforschungen ergaben, daß die Ehe und auch das weitere Schicksal für Johann Mendel nicht glücklich waren. Wahrscheinlich war die Heirat des einundvierzigjährigen Junggesellen mit dem fünfundzwanzigjährigen Fräulein und vielleicht auch das Wesen des Polizeiwachtmeisters der Grund für spätere Differenzen.

Im Verlauf des zweiten Weltkrieges (also etwa 12 Jahre nach der Eheschließung) lebte Frau Karoline in ihrem Einfamilienhaus sowohl mit ihrem Gatten Johann als auch mit einem „gewissen Ingenieur“ aus dem Odrauer „Optimit“-Werk. Angeblich trennten sie in ihrem Haus vernagelte Türen. Eine Besichtigung im Februar 2002 hat das bestätigt. In den hölzernen Türen und Türstöcken sind noch heute Spuren großer Nägel zu finden. Einige Tage vor Kriegsende soll Mendels Frau Karoline mit dem Ingenieur Odrau verlassen haben. Das tragische Schicksal des unglücklichen Wachtmeisters wurde am Tage des Einmarsches der Sowjet-Armee in Odrau besiegelt. Am 7. Mai 1945 wurde er am Gartentor seines Hauses von Russischen Soldaten erschossen und am 12. Mai 1945 in Odrau beerdigt. Nur am Rande, als traurige „Begebenheit“, möchte ich erwähnen, daß im Verlauf der letzten zwei Tage der Befreiung von Odrau 2l Zivilpersonen ihr Leben verloren, 10 von ihnen durch Selbstmord. Ein grausamer Abschluß der politischen und militärischen Spiele der Machthaber, des Zweiten Weltkrieges.

Die Suche nach Zusammenhängen zwischen den Bewohnern und Eigentümern des Einfamilienhauses und der Herkunft der Glasnegative war erfolglos. Ich wendete mich erneut den Negativen und den Schachteln, in denen sie verpackt waren, zu. Auf den Deckeln einiger Schachteln waren in unbekannter Schrift kaum lesbare Notizen. Meine Freundin, Frau Herta Sedlacek aus Odrau, entzifferte aus der kaum lesbaren Schrift die Namen „Groß-Ullersdorf“, „Heide Brünnel“, „Franzens J. H.“, „Römerstadt“. Nun wendete ich meine Aufmerksamkeit dem Gesenke zu. Ein Treffen mit dem Direktor des Stadtmuseums in Römerstadt, Herrn Magister Jiri Karel, gemeinsam mit dem Kenner der hiesigen Gegend Herrn Igor Hornischer, führten in die richtige Richtung. Sie erkannten auf den Bildern das „Heidebrünnel“, das Anwesen „Berggeist“, das Schloß „Groß Ullersdorf“ und einige Bilder direkt aus Römerstadt. Nichtsdestoweniger blieben der eigentliche Ort, die Fabrik, die Menschen weiter unbekannt. Auch Besuche in Groß Ullersdorf und im Bezirksmuseum in Mährisch Schönberg blieben erfolglos.

Ich begann, die Menschen direkt auf den Straßen in Ullersdorf und Umgebung zu fragen, schrieb Briefe und verschickte Bilder des gesuchten Ortes. Endlich hatte ich Glück. Frau Anezka Dvizova, Verkäuferin in der Werksverkaufstelle der Glasfabrik in Reitendorf, vermittelte mir durch ihren Mann einen Kontakt zu Herrn Roman Bednarsch, Direktor der Straßenverwaltung in Mährisch Schönberg. Roman Bednarsch, heute mein Freund, brachte mich mit sichtlicher Freude an den lange gesuchten Ort, vor die Fabrik, zum Geburtshaus meiner Freunde.
Jawohl, Menschen, die jahrzehntelang in verstaubten Schachteln auf dem Dachboden von Johann Mendel lagen, Menschen, denen es gelungen ist, wieder ihre Identität zurückzuerlangen, mit denen ich lange Abende verbrachte, ihnen in die Augen sah und fragte, wo ich sie suchen soll, wurden wirklich meine Freunde. Ich begann, ihre Bitte wahrzunehmen, ihnen zu helfen, ihnen auch ihre Namen und ihre Heimat zurückzubekommen. Ich versprach, es zu versuchen.

War es ein Zufall, Glück oder eine Belohnung? Ich weiß es nicht.
Jedenfalls steht das Haus von Frau Erika Bednarsch, der Mutter von Roman Bednarsch, nur einige wenige Meter vom Hause entfernt, das ich suchte. Frau Bednarsch war bemüht, mir auch später bei der Identifikation einzelner Personen auf den Bildern zu helfen. Eine Reihe dieser Bilder stammt aus der Zeit um 1900, und das ist wirklich schon lange her. Etwa einen Monat nachher wurde ich von Dr. Zdenek Gába, einem Mitarbeiter des Mährisch Schönberger Museums, angerufen, der mir eine erfreuliche Nachricht mitteilte. Er hatte sich an das Buch „Altvaterland - Das obere Teßtal mit seinen Seitentälern“ erinnert, wo man weitere Informationen zur gesuchten „Fabrik“ und der Familie ihrer Eigentümer finden könnte. Dieses Buch sollte sich in der Bibliothek des Hauses der Tschechisch-Deutschen Verständigung in Mährisch Schönberg befinden. Dieser Hinweis war für den weiteren Lauf der Dinge sehr wertvoll. In diesem ausgeliehenen Buch, das 1986 in Deutschland erschienen war, wird das Leben im oberen Teßtal vom Anfang der Besiedlung dieses Gebietes bis zur tragischen Vertreibung unserer Landsleute aus ihrer Heimat beschrieben. Das Buch ist voll interessanter Erinnerungen und Bilder und hätte auch eine Ausgabe in tschechischer Sprache verdient. In ihm findet man die „Bleicherei und Appretur in Reutenhau“, die vom Jahre 1845 bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts von der Familie Ulrich betrieben wurde. Ich will mich zu dieser Sache nicht weiter äußern. Der entsprechende Teil des Buches ist in unserer Publikation abgedruckt. Wichtig für mich war, daß ich Kontakt mit dem Autor dieses Buches, Herrn Leo Friedrich, aufnehmen konnte, unserem Landsmann, der heute in der Stadt Konz lebt und der mir mitteilte, daß einige Kilometer von seinem Wohnort entfernt Frau Lieselotte Klamt lebt, eine Enkelin des letzten Besitzers der Reutenhauer Bleiche und Schwester von Helga Ulrich-Matella, deren Beiträge im Buch „Altvaterland“ für uns heute so wertvoll sind.

Der Kontakt mit Herrn Leo Friedrich gelang dank meines Freundes und Landmannes Fridolin Scholz, der aus seiner Heimat, Jogsdorf bei Odrau, als dreizehnjähriger Junge vertrieben wurde. Heute gibt er für die Landsleute aus dem Kuhländchen die Zeitschnft „Alte Heimat Kuhländchen“ heraus. (Das Kuhländchen ist das Gebiet um Neutitschein in Nordmähren). Er ist Vorsitzender des gleichnamigen Vereines, der im Jahre 2001 sein 50jähriges Jubiläum feierte. Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen diesem Verein und den heutigen Bewohnern des Kuhländchens sind schon langjährig und gut. Ich bitte um Entschuldigung für diese kleine Abschweifung, ich wollte nur Fridolin und seinen Freunden für ihre Mithilfe danken.

Ich komme zurück zu der für mich so bedeutsamen und sensationellen Nachricht. Einer meiner „gläsernen“ Freunde lebt, und wenn Gott will, werde ich ihn besuchen. Ich werde die Freude über das Wiedersehen mit ihren und meinen Nächsten teilen können. Ich bat Herrn Leo Friedrich, ein Treffen zu vermitteln, bei dem ich gerne die Bilder in die Hände derer zurückgeben möchte, denen sie gehören. Das Treffen wurde für Mitte März 2001 im Wohnort von Frau Lieselotte, der Stadt Bitburg (Kreis Trier, Bundesland Rheinland-Pfalz) vereinbart.

Die Zeit vor dem Treffen nutzte ich zur Vorbereitung der Bilder für eine würdige Übergabe, aber weiterhin interessierten mich Antworten auf weitere Fragen. Vor allem wie und warum die Holzkiste mit den Glasnegativen von fast 50 kg Gewicht zu uns nach Odrau kam? Die Suche konzentrierte ich diesmal auf unsere Kreisstadt Neutitschein, wo der Bruder von Gustav Ulrich Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt haben soll. Auf diese Tatsache stieß ich in dem schon erwähnten Buch „Altvaterland“, wo der Vetter von Gustav Ulrich, Friedrich Ulrich, seine Erlebnisse aus dem „Ferienparadies“ auf der Bleiche beim Onkel in Reutenhau schildert. (Auch diesen Beitrag geben wir mit freundlicher Erlaubnis des Herausgebers wieder.) Der Autor dieser Erinnerungen, Friedrich Ulrich (1897 bis 1987) war der älteste Sohn von Jakob (Jaques) Ulrich, der in den Jahren 1908 bis 1912 Bürgermeister von Neutitschein war. Leidergottes beendete der Tod am 27. April 1912 im Alter von vierundvierzig Jahren das Leben dieses bedeutenden Menschen, des Vaters von drei Söhnen, von denen der älteste Friedrich 15, der mittlere Hans 13 und der jüngste Herbert erst 11 Jahre alt waren.

Die Suche nach Zusammenhängen brachte mich auch auf den Friedhof in Neutitschein. Eine brave Frau aus der Kanzlei der Friedhofrverwaltung hörte meine Bitte geduldig an und brachte mich schließlich bereitwillig an das Grab von Jakob Ulrich, des Bürgermeisters von Neutitschein. Ich war gleich zweimal angenehm überrascht. Erstens, daß das Grab überhaupt noch existierte, daß es über lange Jahre die „Kulturrevolution nach tschechischer Art“ überlebte und nicht abgeschafft wurde. Zweitens, das Grab war in einem sehr guten Zustand, gepflegt mit frischen Blumen in einer Vase. Ich wollte meinen Augen nicht trauen und gebe zu, ich war gerührt und erfreut. Von der braven Frau auf dem Neutitscheiner Friedhof erfuhr ich auch, daß dieses Grab und die Gruft nebenan von Frau Dagmar Dostalek, der Witwe des Primarius des dortigen Krankenhauses gepflegt wird, die heute in der Villa Preisenhammer wohnt, die einer damals bedeutenden Unternehmerfamilie gehörte. Frau Dostalek habe ich auch besucht und kann sagen, daß die Beziehungen zwischen ihr und den heute lebenden Angehörigen der Familie Preisenhammer ein gutes Beispiel für die Verständigung unter normalen Menschen ist. Einer Verständigung, die ohne Rücksicht auf manche Politiker existiert, die immer wieder mit ihren Worten die zerbrechlichen zwischenmenschlichen Beziehungen zerstören. Die Generationen unserer Landsleute, welche das Verbrechen der Vertreibung miterlebten, sterben langsam aus, und die noch unter uns weilen, verdienen deshalb um so mehr ein gefühlvolles Verständnis und freundlichen Empfang in ihrer alten Heimat. Ich glaube, daß dies für uns normale Menschen, ohne politische und andere Ambitionen, kein Problem sein sollte.

Wieder kehre ich zurück zu unserer Begebenheit. Von Frau Dagmar Dostalek habe ich auch erfahren, daß die Familien des Neutitscheiner Bürgermeisters Jakob Ulrich und die genannte Familie Preisenhammer durch die Heirat des Sohnes des Bürgermeisters Hans (1899 bis 1990) und der Tochter des Unternehmers Edith verbunden waren. Hans Ulrich war später Vorsitzender des Vorstandes der bedeutenden „Optimit“-Werke in Odrau. Diese Tatsache brachte mich wieder zu Herta Sedlacek (geb. Stach) zurück, die am 21. April 1923 in Odrau geboren wurde und in den Jahren 1938 bis 1944, bis zu ihrer Verhaftung in den „Optimit“-Werken gearbeitet hat. Herta kann sich an den Direktor der „Optimit“-Werke, Hans Ulrich, noch sehr gut erinnern. Hans Ulrich, der uns viel erklären könnte, ist leider im Jahre 1990 verstorben, also zehn Jahre vor unserem Fund. Es war aber sein Verdienst, daß die Negative nach Odrau gelangten, weil er in den Optimit-Werken Gustl Ulrich beschäftigte, den Sohn des Fotografen und Freund der Frau „Wachtmeisterin“. So schließt sich der Kreis des Suchens.

Noch einige Worte zu meiner Freundin Herta Sedlacek. Beide Eltern waren Deutscher Nationalität. Im Jahre 1944 wurden sie wegen Hilfe für russische und britische Kriegsgefangene, die in Odrau interniert waren und in den „Optimit“-Werken arbeiteten, verhaftet und eingekerkert. Die Mutter von Herta, Frau Elisabeth Stach, geb. Kutler, kehrte aus dem Neutitscheiner Gefängnis nicht mehr zurück. Sie starb am 13. Jänner 1945, einige Monate vor Kriegsende. Die Kriegsmaschinerie funktionierte ohne Rücksicht auf Nationalität.

So kam der März 2001, mein Freund und Dolmetscher Karl Gold aus Odrau und ich bereiteten uns auf die Reise nach Deutschland vor zu Frau Liselotte Klamt, der Enkelin unseres Fotografen Gustav Ulrich. Ich bat meinen Freund Michael Kudlich, einen Landsmann aus Troppau (einen Ur-Neffen des österreichischen Bauernbefreiers Hans Kudlich), mit uns nach Bitburg zum Treffen zu fahren. Er sagte zu und nach der Übernachtung bei ihm in Ebern bei Bamberg fuhren wir weiter zur deutsch-luxemburgischen Grenze. Die Begegnung mit einem meiner Bilder-Freunde, Frau Lieselotte Klamt, deren Familie ich durch die Fotografien so gut kannte, war sehr angenehm. Dieser heute achtzigjährigen Frau, die auf den „jüngeren“ Bildern als kleines Kind zu sehen ist, habe ich alle in Odrau gefundenen Fotografien ihres Großvaters übergeben. Bei der Begegnung und Übergabe waren auch meine Freunde Leo Friedrich aus Konz, Fridolin Scholz aus Wiesenbach und die Tochter von Frau Lieselotte, Frau Maria Huhn anwesend. Es war alles ergreifend für mich: Unerfüllbares hat sich erfüllt. Dank vieler Menschen, die bemüht waren zu helfen, ist es gelungen, unseren Freunden nicht nur ihr Antlitz zurückzugeben, sondern auch ihre Namen, ihre Heimat und ihre Fotografien, die das Schicksal aus dem oberen Teßtal in „unser Odrau“ verwehte.

Wie ich schon erwähnte, die Suche endet nicht. Dank dem Fotografen, des Freundes Gustav Ulrich, begann ich, dieses herrliche Land – das Altvaterland – zu entdecken, das für mich so nah und doch so fern war. Zum Unterschied von meinen Landsleuten, für die es heute so weit und dabei in ihrem Herzen so nahe ist. Ich lernte die Stadt Mährisch-Schönberg kennen und den Bahnhof in Petersdorf, von wo aus der junge Friedrich Ulrich aus Neutitschein mit einem Fuhrwerk und Kutscher Weiser in die Ferien zu Onkel Gustav fuhr. Zu Tante Lotti, den Cousinen-Zwillingen Jenny und Fritzi (Mutter von Frau Lieselotte) und dem kleinen Vetter Gustav. Ich lerne Groß-Ullersdorf kennen, einen kleinen Badeort unter dem Altvater. Wiesenberg mit dem Schloß der legendären Unternehmerfamilie, der Brüder Klein, deren viele Straßen, Eisenbahnen und Brücken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbaut, noch heute dienen. Nur wenige von uns wissen es.

Ich lerne endlich auch Reutenhau kennen, die Heimat meiner Freunde, mit ihrer Bleiche und Leinwandappretur, eine vor kurzem für mich noch unbekannte Fabrik. Ich lerne auch den derzeitigen Besitzer, Herrn Oldrich Michalek kennen, der sich bemüht, diese historischen Gebäude nach fünfzig Jahren Volksbesitz zu retten. Ich lerne auch das Geburtshaus der Familie Ulrich kennen, in dem heute Herr Otto Hilbert mit seiner Frau Jarmila (geb.Opatrná) lebt. Sehr angenehme Menschen.
Dank ihnen gelang es mir, 200 Bilder und den Skizzierblock des jungen Gustav zu retten, der im Jahre 1876 die Schule in Römerstadt besuchte und außer seinem Talent sicher auch einen guten Zeichenlehrer hatte. Ich kenne nun Winkelsdorf, die letzte Gemeinde vor der Steigung zum Roten-Berg-Sattel. Die Gemeinde, wo die Eisenbahn endet und die mich beim Suchen hierher brachte. Ich kenne nun auch weitere Gemeinden: Kozianau. Philippsthal, Marschendorf, Annaberg, Primiswald. Ich kenne die Teß, die Stille und auch die Rauschende. Ich lerne die Menschen dieses zauberhaften Stückchens unserer Erde kennen.

Aber ich muß auch erkennen, daß dieses schöne Land noch heute durch das Verbrechen der Vertreibung belastet ist, das fast alle menschlichen und materiellen Bindungen und Beziehungen auseinandergerissen hat. Alles mußte neu beginnen, ohne Erfahrung, ohne Finanzmittel und auch sehr oft ohne Gefühl.

Heute ist es an uns, zu helfen, die Wunden und Narben, die unserer gemeinsamen Heimat zugefügt wurden, zu heilen. Vor allem aber den unschuldigen Menschen, die sie verlassen mußten und dies nie vergessen können. Das Land kann vielleicht noch eine Weile warten. Die Menschen leider Gottes aber verlassen uns.

Übergeben wir dieses Land unseren Kindern in einem besseren Zustand, als es unseren Vätern gelang.
Die Zeit aber wartet nicht, sie ist unbarmherzig, wenn auch gerecht für uns alle.
Vielleicht bleibt uns noch eine kleine Chance.

In Odrau am 22. Februar 2002
Zdenek Mateiciuc

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