Raus aus der rechten Ecke
Im Streit um das geplante Berliner Zentrum gegen Vertreibungen bilden
Konservative und Liberale neue Allianzen
Von Christoph von Marschall
Heimatverlust, Vertreibung lange war das ein Thema für die rechte Ecke. Nun hat
es diesen angestammten Platz verloren. Die Fronten im Streit um das geplante Zentrum gegen
Vertreibungen in Berlin verlaufen nicht nach dem gewohnten Rechts-Links-Schema. Die
Auseinandersetzung tobt mitten in der SPD. Bundesinnenminister Otto Schily, der Ex-Grüne,
und Peter Glotz argumentieren an der Seite des Bundes der Vertriebenen (BdV).
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, Markus Meckel, der eher zur SPD-Rechten zählende
Ex-Pfarrer, und Rita Süssmuth, CDU, sind gegen das Projekt.
Auch das Pro und Contra in den Medien folgt nicht der Faustregel, nach der Zeitungen einen
liberalen Politik-, einen rechten Wirtschafts- und einen linken Kulturteil haben. Die
Politikredaktion der Süddeutschen hat den Kampf gegen das Gedenkzentrum
eröffnet; es sei schädlich, weil es Mißtrauen im Ausland hervorrufe. Das Feuilleton
dagegen verteidigt die öffentliche Erinnerung an die Vertreibung und den Verlust deutsch
geprägter Kulturlandschaften im Osten; das Zentrum dürfe nur nicht dazu mißbraucht
werden, allein an deutsches Leid zu erinnern, es möge die Vertreibungsopfer anderer
Nationen und die deutschen Verbrechen nicht übergehen.
Das habe man gar nicht vor, sagt der Vertriebenen-Bund. Das europäische Gedenken sei auch
Ziel seines Konzepts. Diesen Ansatz hatten 72 hochrangige Politiker und Intellektuelle aus
Polen, der Slowakei, Tschechien und Deutschland kürzlich in einem von Meckel initiierten
Aufruf gegen das Zentrum in Berlin gefordert. Vertreibung sei kein deutsches Schicksal,
sondern das von 50 bis 70 Millionen Menschen allein im Europa des 20. Jahrhunderts, von
Armenien bis Bosnien und Kosovo. Doch ihre Kritik, der BdV forciere ein nationales
Projekt, fand wenig Resonanz.
Auf einmal ist es greifbar: Der Blick der Deutschen auf Flucht und Vertreibung hat sich
verschoben. Der Heimatverlust von 16 Millionen Ostpreußen, Schlesiern, Pommern, Sudeten-,
Ungarn- und Baltendeutschen wird nicht mehr damit abgetan, dies sei eben wie die
Teilung des Landes die gerechte Strafe für den verschuldeten Krieg.
Im Ausland werden solche Debatten mit Argwohn verfolgt. Die jüngsten Bücher über den
Bombenkrieg, zum Beispiel: Steckt dahinter der Versuch, die deutschen Verbrechen zu
relativieren? Verführt das späte Glück der Einheit die Deutschen zu Hochmut: Jetzt
seien sie wieder wer, nun sei es Zeit, mal über die deutschen Opfer zu reden, jetzt werde
Geschichte neu aufgerechnet? Das mag eine Rolle spielen. Wichtiger sind drei andere
Entwicklungen: die Befreiung Mitteleuropas aus dem ideologischen Korsett des
Ost-West-Konflikts; die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan; und die in diesem Kontext
aufgekommene Frage, ob die Deutschen eine an ihre Identität rührende Frage verdrängt
und den Betroffenen ein zweites Leid zugefügt haben: nach dem Unrecht der Vertreibung die
Weigerung, ihren Schmerz anzuerkennen.
Vor 1989 waren die Themen Flucht und Vertreibung im Ostblock weitgehend tabu. Das änderte
sich mit der Demokratisierung. Gemeinsam haben polnische und deutsche Historiker ein viel
differenzierteres Bild als das jeweilige nationale erarbeitet. Die Warschauer
Robert-Schuman-Stiftung und andere haben ihren Landsleuten das deutsche Schicksal in
Ausstellungen nahe gebracht, die manche Vertriebene zu Tränen rührten. Junge Polen
erkunden die Geschichte ihrer einst deutschen Geburtsorte, in Allenstein haben sie sich
zur Borussia zusammengeschlossen. Schriftsteller wie Stefan Chwin und Pawel
Huelle verfaßten Liebeserklärungen an das deutsche Danzig. Deutsche und Tschechen sind
noch nicht ganz so weit, holen aber auf; ihnen fehlt noch das Netzwerk, das Deutsche und
Polen durch vielfältige Kontakte seit 1970 geknüpft hatten.
Die Vertreibungskriege auf dem Balkan trafen auf die einhellige Empörung der
europäischen Öffentlichkeit. Bald forderten Ost und West eine Intervention gegen die
ethnischen Säuberungen. Wenn aber Vertreibung als Verbrechen gegen die Menschheit gilt,
das ein Eingreifen rechtfertigt, kann das nicht ohne Folgen bleiben für die Bewertung der
ethnischen Säuberungen in Folge des Weltkriegs. Die von den Siegermächten im Potsdamer
Abkommen verfügte Aussiedlung der Deutschen mag langfristig friedensstiftend gewesen
sein. Aber war sie auch rechtens? Abgesehen davon, daß die tatsächlichen Abläufe damals
wenig mit dem angeordneten humanen Bevölkerungstransfer zu tun hatten: Es gab
Todesmärsche, Selbstjustiz, Lager, die sich nur wenig von den KZs unterschieden. Diese
Schicksale trafen zudem Deutsche ohne Unterschied, ob sie nun Anhänger des Dritten Reichs
waren oder Widerstand geleistet hatten.
Und doch ist fraglich, inwieweit dieses Umdenken die breite Gesellschaft bei den Nachbarn
im Osten erreicht hat. Meckel setzt auf die neuen Strömungen.
Bereits vor einem Jahr wollte er die Präsidenten Deutschlands, Polens, der Slowakei,
Tschechiens, Ungarns und Bosniens dazu bringen, eine Historikerkommission zu berufen, die
ein Konzept für ein europäisches Zentrum gegen Vertreibungen erarbeitet. Polnische
Intellektuelle hatten Breslau ins Gespräch gebracht, weil die Stadt sowohl die
Vertreibung der Deutschen von dort als auch die Zwangsumsiedlung von Polen aus ihren
Ostgebieten dorthin symbolisiert. Doch man bat Meckel um Geduld, die Volksabstimmungen
über den EU-Beitritt sollten nicht durch Debatten über die Vertreibung gefährdet
werden. Der Versöhnungsgedanke gemeinsamen Gedenkens mag die Eliten erreichen, beim Volk
ist das nicht so sicher. Zudem stößt der Standort Breslau in Polen auf Skepsis.
Derweil kam der Bund der Vertriebenen mit seinem Projekt voran. Die Stiftung für ein
Berliner Zentrum gewann 400 Städte und Gemeinden als Paten und Sponsoren. Erklärt das
die Schärfe, mit der sich Meckels Aufruf gegen das nationale Projekt wendet?
Brauchen wir ein solches Zentrum in Berlin? Eher Ja als Nein. In den Fünfziger- und
Sechzigerjahren war das Schicksal der Vertriebenen in aller Bewußtsein. In dem der heute
Lebenden fehlt es weitgehend. Dabei gibt es über 1000 Vertreibungsmahnmale in
Deutschland, in Berlin steht eines prominent am Theodor-Heuß-Platz. Warum werden sie
nicht wahrgenommen? In der DDR wurde das Thema totgeschwiegen. In der Bundesrepublik
begaben sich die Vertriebenen nach den Ostverträgen mit einer trotzigen
Realitätsverweigerung und unzeitgemäßen Selbstdarstellung auf ihren Treffen teils
selbst in das rechte Ghetto. Teils wurden sie von einer selbstgerechten Linken dorthin
gestoßen, die es für einen Ausweis von Aufklärung und Friedfertigkeit hielt, das
Unrecht an deutschen Minderheiten in Osteuropa und das Vertriebenenleid zu ignorieren.
Beides störte doch die Entspannungspolitik.
Nun sind die Vertriebenen endlich nicht mehr in der rechten Ecke. Ihnen das Zentrum zu
verweigern, hieße, sie erneut zurückzustoßen.
Wie also müßte es aussehen, damit wir es brauchen können? Es sollte den Schmerz der
Alten lindern, die unwissenden Jüngeren ansprechen und die Nachbarn nicht verstören. Und
sein Bau sollte sich nicht durch endlose Debatten oder internationale Absprachen
verzögern. Das Vertriebenen-Projekt ist die Grundlage, aber man darf es dem BdV nicht
allein überlassen. Auch wenn er Fachleute um sich geschart hat die Vertreter von
Bundesregierung, Bundestag und Ländern sollten eine internationale Kommission berufen,
die das Konzept für ein Zentrum in Berlin festlegt und später die Einhaltung überwacht:
Unterstützer des Berliner Projekts und Unterzeichner des Bedenkenaufrufs. Diese
Fachleute, das zeigen die Erfahrungen nach 1989, können sich einigen, wie man die
Vertreibungen der Deutschen und der anderen Europäer in ihren Zusammenhängen darstellt.
Ein Ergebnis, das sie gemeinsam erarbeiten, das wäre über jeden Zweifel erhaben.
Quelle: Tagesspiegel, Berlin, 2003-07-23