Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung
Ausgabe 15 / 13. April 2002
Vergangenheitsbewältigung: Die Furcht vor den Opfern
Nicht bloß »Täter«? Die aufgeflammte Debatte über die Verbrechen an den
deutschen Vertriebenen löst manche Irritationen aus
von Hans Heckel
Der neue Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit, die Wiederentdeckung
deutschen Leids ist auch dem Ausland nicht verborgen geblieben. Viele auswärtige
Beobachter hatten sich schon immer über die einseitige, allein auf deutsche Täterschaft
gerichtete und alle anderen entschuldigende Selbstbespiegelung in unserem Land gewundert.
Sie verbuchen die jüngste Entwicklung als überfällige Normalisierung. Andere hingegen,
die mit der Germanisierung des Bösen schlechthin gut leben konnten, reagieren sichtlich
verstört.
So auch der Kommentator der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Er sieht Deutschland
auf dem unheilvollen Weg von der Täter- zur Opfergesellschaft und schneidet
den Deutschen mit kalter Klinge jedes Recht ab, sich eigener Leiden öffentlich zu
erinnern.
Wörtlich lesen wir: Man wird über Ereignisse wie die Versenkung der Wilhelm
Gustloff, über die Grausamkeiten der Vertreibung und über die Bombardierung Dresdens
vieles sagen können, aber das alles wird an einem zentralen Befund nichts ändern: daß
diese Gewaltakte nicht auf den planvollen Vorsatz zurückgehen, Millionen von Menschen zu
verfolgen, zu berauben, zu deportieren und zu vernichten .... Statt dessen seien
dies bloß Folgen der Aggression des Dritten Reichs.
Man reibt sich die Augen. Was haben diese perfekt organisierten Operationen denn sonst zum
Ziel gehabt, wenn nicht den geplanten Tod von Millionen Zivilisten? Ist Vertreibung etwa
keine Verfolgung? Sind zwei Millionen Ostdeutsche allesamt bedauerlichen
Zwischenfällen zum Opfer gefallen? Es ist offenbar Zeit, höchste Zeit, daß die
Deutschen zu erzählen beginnen, was sich mit ihnen abgespielt hat. Vorausgesetzt, die
grotesk verzerrte Optik des NZZ-Kommentators entspringt nicht bösem Willen,
müssen wir feststellen: Unser verschämtes Schweigen über deutsche Opfer wurde
keineswegs als Ausdruck besonderer Redlichkeit gewürdigt, sondern als Eingeständnis,
daß es deutsche Opfer eigentlich gar nicht gab. Man möchte den Schweizer einmal in die
Überreste des Reichs einladen. In jeder beliebigen deutschen Großstadt kann er mit
eigenen Augen noch heute besichtigen, was hier durchaus geplant war.
Beispielsweise in Hamburg, etwa dort, wo die Altstadt an die Elbe stößt.
Blickt er nach Süden, so entfaltet sich dem Betrachter das wunderschöne Panorama der
Speicherstadt, einem gewaltigen Lagerhauskomplex aus der Kaiserzeit in
neogotischem Stil. Dreht der Besucher sich indes um, streicht sein Auge über spröde
Fassaden der 50er bis 90er Jahre. Kaum etwas ist erhalten aus der Zeit vor dem
Hamburger Feuersturm 1943.
Das Geheimnis dieses abrupten Wechselspiels ist schnell gelüftet: Hier, in der Altstadt,
wohnten dicht gedrängt die Menschen, oft noch in den von nur zwei Meter schmalen Gassen
durchzogenen Gängevierteln des 16. und 17. Jahrhunderts. Drüben hingegen
stapelte sich bloß Ware. Die Bomben wurden augenscheinlich gezielt dorthin gelenkt, wo
sie möglichst viele deutsche Kinder, Frauen und Männer töteten. Und das überall in der
Stadt, Planquadrat für Planquadrat. Kriegswichtige Ziele wie Industrie- und
Lagerhausanlagen schienen erst in zweiter Reihe interessant zu sein für die britischen
und amerikanischen Bomberpiloten.
Für die russischen nicht minder: Was gab es auf dem zugefrorenen Frischen Haff zu
bombardieren außer wehrlose Menschen? Und die Sowjetmarine wußte natürlich, daß sich
vor ihrer Front das größte Fluchtdrama der Geschichte abspielte. Also war sie im Bilde
darüber, wen sie mit der Gustloff in den eisigen Tod schickte. Die Neue Zürcher
Zeitung hingegen behauptet unverdrossen: Genauso wenig wird man sagen können,
daß die russischen Marinesoldaten oder die britischen Bomberpiloten jene Chance der
unbestraften Unmenschlichkeit (Günter Anders) wahrgenommen hätten, die der
Nationalsozialismus Tausenden und Abertausenden männlicher und weiblicher Volksgenossen
bot und die diese von 1933 an willig ergriffen. Die Beispiele sind nicht zufällig
gewählt. Um seine These durchzuhalten, macht der Autor einen weiten Bogen um jene
Abertausende Russen, Polen, Tschechen etc., deren unbestrafte
Unmenschlichkeit über Millionen Deutsche hereinbrach. Dabei stellt ihm allerdings
erneut seine Unwissenheit ein Bein. Vom Treiben der Tiefflieger, die gerade in der
Schlußphase des Krieges (als alles entschieden war) über der deutschen Landschaft
kreuzten, ist dem Schweizer offenbar nichts überliefert. Was wird im Kopf eines
britischen Piloten vorgegangen sein, während er auf offener Straße deutschen
Schulkindern hinterherjagte? Sah, wie die Knirpse von seinem MG-Feuer tödlich getroffen
niedersanken? Darf man solche Szenen enthemmter Bestialität nicht
Unmenschlichkeit nennen, weil die kleinen Opfer Deutsche, also qua Geburt
Täter waren? So wie die Massen von Vertriebenen, deren Trecks gezielt
zerschossen, die auf den Elbwiesen der strategisch unbedeutenden Stadt Dresden zerbombt
wurden? Mit alldem konfrontiert, weichen Diskutanten wie der um das deutsche Tätermonopol
besorgte NZZ-Autor mit erhobener Stimme darauf aus, daß die Deutschen
schließlich Hitler gewählt sowie den Krieg angefangen hätten und somit die Schuld an
allen Folgen allein trügen.
Die Sieger des Zweiten Weltkrieges stellten die Führung des NS-Staates in Nürnberg vor
ein Tribunal. Es erscheint daher angemessen, den ganzen Komplex von Schuld und
Verantwortung nach den Maßstäben des Strafrechts zu beurteilen. Vor Gericht liegt dem
Urteil schuldig oder nicht schuldig zunächst allein die Tat an
sich zugrunde. Besondere Umstände, etwa dem Täter selbst vorher zugefügte Verbrechen,
werden lediglich bei der Strafbemessung berücksichtigt. Ergo ist jeder Täter erst einmal
selbst verantwortlich für das, was er verübt hat, sei er Deutscher, Russe, Brite,
US-Amerikaner oder was auch immer. Was ihm angetan wurde, kann mildernd auf das Urteil
angerechnet werden, von seiner Schuld befreien tut ihn es nicht. Die Zuweisung einer
Urschuld, an der alles Folgende aufzuhängen ist, hat indessen eine alte
Tradition. Doch diente sie nie der Wahrheitsfindung, sondern lediglich der Hege von
Mythen, welche die eigenen Handlungen vor der Nachwelt rechtfertigen sollten. Schon das
antike Rom überfiel die Völker der Welt nach eigenem Bekunden bloß, weil diese sich
gegen das Imperium erhoben hätten. Reine Notwehr! Später pflegten manche
Reiche mit ihren Nachbarn kurzen Prozeß zu machen, weil diese den Zorn Gottes
auf sich gezogen haben sollen und so weiter und so fort.
Heute reicht es schon, daß irgendein Drittwelt-Despot den vitalen Interessen
einer gewissen Supermacht in die Quere kommt, um die Kanonenrohre zum Glühen zu bringen.
Das Muster ist dasselbe geblieben, das Ziel der Verrenkung stets so banal wie
durchschaubar. Als Deutscher ist man natürlich geneigt, das Spiel mitzumachen und eine
zeitlich vor einem deutschen Sündenfall gelagerte Schuld der anderen auszugraben, die
diesen mit heraufbeschwor. Und fürwahr, da gibt es einiges zu entdecken. Waren es bloß
Deutsche, die die Weimarer Republik an den Abgrund drückten und Hitler ermöglichten? Was
ist mit der Politik der Entente, die eifernd auf die deutsche Demokratie einprügelte, bis
sie barst? Es ist müßig zu gewichten, was letztlich den Ausschlag gab. Jede beteiligte
Nation hat ihren Anteil an der Zerstörung der ersten deutschen Republik selbst zu
verantworten, statt sich mit Verweisen auf die Schuld der anderen herauszumogeln. Für die
Vor- und Nachgeschichte gilt dies nicht minder.
Genau dies aber fürchtet die Neue Zürcher und mit ihr gewiß viele andere,
die um den Gegenstand ihrer billig zu habenden moralischen Pose bangen. Wer könnte
noch Täter sein, wenn alle Opfer sind? heult ihr Kommentator entnervt auf. Man
könnte Mitleid bekommen. Da hat sich ein Zeitgenosse herrlich eingerichtet in seiner
kleinen Welt, in der Gut und Böse, Opfer und Täter schachbrettklar zugeordnet sind und
nun kommen deutsche Literaten, Historiker, Verschleppte, Vertriebene, Ausgebombte und
nötigen ihn, sich mit der Vielschichtigkeit einer häßlichen Realität
auseinanderzusetzen, die niemanden davonkommen läßt.
Letzte Bastion derer, die schon die bloße Erwähnung deutscher Opfer als Ketzerei
brandmarken, ist die Warnung vor den Gefahren einer Relativierung der
ultimativen deutschen Täterschaft, die zu weiterem Verbrechertum ermuntere. Eine
unsinnige These: Wer schlicht die ganze Wahrheit sagt, relativiert damit rein
gar nichts.
Hingegen geht die blutige Schablone vom kollektiven Tätervolk einst
nur für die Deutschen geschnitzt nunmehr seit Jahrzehnten um den Globus. Die
Behauptung, die anderen hätten den Konflikt angezettelt, die Feindseligkeiten
verschuldet und seien also das Tätervolk, dient heute weltweit als
Rechtfertigung für alle Arten von Vertreibungs- und Vernichtungsorgien. Siehe Balkan.
Besonnene Israelis wie Palästinenser sehen den tieferen Hintergrund für die
Unversöhnlichkeit ihrer Völker darin, daß beide sich ausschließlich als Opfer
begreifen. Für Scharfmacher im Nahen Osten ist die Rollenverteilung Volk der Opfer
/ Volk der Täter ohne Einschränkung festgezurrt. Wehe dem, der auch nur einen
Funken Mitgefühl mit dem Leid und der Not der anderen öffentlich preisgibt.
Bizarrerweise sehen wir auf den Demonstrationen aufgepeitschter Massen regelmäßig die
Konterfeis Scharons oder Arafats mit einem Hakenkreuz auf der Stirn. Auch serbische
Tschetniks trugen solche Plakate, dort war Kroatiens Tudjman mit dem Kainsmal abgebildet.
Die Botschaft ist unübersehbar: Seht her, unsere Feinde sind das definitiv Böse,
ein Volk von Bestien, von Tätern eben, dem alle Schuld zukommt auch an dem, was wir
selbst verüben. Und genauso, wie jedes Verbrechen an den Deutschen ungesühnt bleiben
konnte, weil man sich darauf geeinigt hat, daß sie sich als Volk der Täter alles selbst
eingebrockt haben, muß auch unser Vorgehen von vornherein entschuldigt werden. Die
Verantwortung dafür tragen unsere Opfer, weil sie die eigentlichen Täter sind. So
enthemmt sich Unmenschlichkeit. In Deutschland funktioniert dieses Abwälzen von
Verantwortung in gleicher Weise. Freilich in der seitenverkehrten Version, was uns in der
Tat einen historisch einmaligen Sonderstatus verleiht. Unseren Nachbarn eröffnete die
besondere deutsche Art von Nationalmythos, nämlich das schuldigste Volk unter der Sonne
zu sein, die billige Chance, sich per Aufrechnung reinzuwaschen. Oder zumindest ein wenig
sauberer, als es ihnen eigentlich zukäme. Die Schweiz ist wegen angeblich zweifelhafter
Geschäfte in dunkler Zeit schließlich erst jüngst mächtig in die Klemme geraten. Alle
Welt entrüstete sich über eidgenössische Schreibtischtäter.
Doch Trost für die geschundene Helveten-Seele stand stets bereit man war ja auch
Opfer, die hinter dem Bodensee hingegen allesamt nur Täter. Und damit soll es jetzt
vorbei sein?
Keine Bange. Ganz so arg wird es nicht kommen. Die Deutschen spüren keine Neigung,
nunmehr alles umzukehren und sich wie Polen, Tschechen, Niederländer oder Russen einen
selbstgerechten Opfermythos zu basteln. Vielmehr könnte das endlich breite Schichten der
Bevölkerung erreichende Gespräch über Vertriebene und andere deutsche Opfer unser
Geschichtsbild in ein vernünftiges Gleichgewicht bringen.
Wenn daraus die Fähigkeit erwüchse, ebenso freimütig über die eigenen Täter und Opfer
wie über die Opfer und Täter der anderen zu sprechen, dann hätten die Deutschen vielen
Völkern etwas voraus, auf das sie stolz sein dürften.