„Vertreibung ist ein Verbrechen“
Der SPD-Politiker Peter Glotz kämpft für das  Zentrum gegen Vertreibung   

Welt am Sonntag: Herr Glotz, Sie sind Vertriebener, aber auch Sozialdemokrat, der sich jahrelang von den Vertriebenenverbänden wegen der Ostpolitik Brandts beschimpfen lassen mußte. Wie können Sie heute Seite an Seite mit der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen und CDU-Politikerin Erika Steinbach für das Zentrum gegen Vertreibung kämpfen?

Peter Glotz: Es hat bei mir eine Entwicklung gegeben: Als junger Mann habe ich einen Identitätsverlust gehabt, ich habe – aus Böhmen nach Bayern vertrieben – versucht, mich an die Bayern anzupassen. Ich habe auch sprachlich den Versuch gemacht, so zu tun, als wäre ich in Fürstenfeldbruck geboren. Das hat sich im Laufe der Jahrzehnte geändert: Ich habe mich mehr und mehr für die Geschichte meiner Familie und meiner Volksgruppe interessiert.

WamS: Warum soll 60 Jahre nach den Vertreibungen ein Zentrum gegen Vertreibung gebaut werden?

Glotz: Vertreibung ist ein hochaktuelles Problem – ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das täglich stattfindet, beispielsweise auf dem Balkan. Dieses Thema müssen in Deutschland alle diskutieren. Dabei müssen selbstverständlich auch die Verbrechen gegen die Deutschen in den Jahren nach 1945 thematisiert werden. Es geht aber nicht nur um die Vertreibung von Deutschen, sondern um das Phänomen der Vertreibung allgemein.

WamS: Warum kann man erst mit vielen Jahrzehnten Verspätung über deutsche Vertreibungen sprechen?

Glotz: Die Rechtswende der Vertriebenenverbände, die die Ostpolitik von Willy Brandt bekämpften, führte bei der gesamten Linken und bei der liberalen Öffentlichkeit zu einem vereinfachten und gelegentlich auch korrupten Denkmodell: Hitler hat schreckliche Verbrechen begangen, deswegen waren die Vertreibungen als Antwort gerechtfertigt. Das aber ist falsch. Es war Unrecht, alle Deutsche kollektiv zu vertreiben. Das auszusprechen war zwischen den Jahren 1968 und 1995 fast unmöglich. Man stempelte sich damit zum Rechten.

WamS: Was war der größte Fehler der Linken und Liberalen?

Glotz: Wir haben das Problem nicht ernst genug genommen. Wie ernst es ist, hat sich mit den vielfältigen Vertreibungen erwiesen, zu denen es sowohl auf dem Balkan wie auch im Kaukasus kam. Es ist falsch, das Unrecht der Vertreibung durch irgendwelche Aktionen vorher zu rechtfertigen. Die Vertreibung und Drangsalierung von Serben im Kosovo rechtfertigt sich nicht dadurch, daß serbische Militärs unter Milosevic vorher hunderttausende von Albanern vertrieben haben.

WamS: Was sagen Sie zu den Äußerungen des tschechischen Ministerpräsidenten Zeman, der die Beneš-Dekrete, die Grundlage der Vertreibung der Sudetendeutschen, verteidigt?

Glotz: Das sind ganz abwegige Äußerungen, die die Möglichkeit der tschechischen Republik, der Europäischen Union beizutreten, zuerst einmal verschlechtert haben.

WamS: Was benötigen Sie noch für eine erfolgreiche Arbeit des Zentrums?

Glotz: Die Bundesregierung sollte ein Gebäude zur Verfügung stellen. Der Kulturstaatsminister im Kanzleramt, Julian Nida-Rümelin, hat sich dazu im Prinzip auch bereit erklärt...

WamS: ...Kanzler Schröder hatte eine Beteiligung des Bundes ja eigentlich schon abgelehnt...

Glotz: Das beruhte wohl auf der negativen Beurteilung des Projektes durch Staatsminister Naumann. Aber der ist ja mittlerweile aus der Politik ausgeschieden. Nida-Rümelin hat das nun korrigiert und der Kanzler ist offen.

Das Gespräch führte Jens Krüger

Gegen das Vergessen 
Berlin krü – Mehr als 300 Gemeinden und Städte haben bereits einen Groschen für jeden ihrer Einwohner an das Zentrum gegen Vertreibung gespendet. Einer breiteren Öffentlichkeit ist das im September 2000 gegründete Zentrum allerdings noch völlig unbekannt. Das kann sich ändern, da seit einiger Zeit die Vertreibung der Deutschen in der Öffentlichkeit, in den Medien und in der Literatur stärker behandelt wird – beispielsweise durch Günter Grass' Roman „Im Krebsgang“, in dem er den Untergang der Wilhelm Gustloff literarisch verarbeitet. Vorsitzende der gemeinnützigen Stiftung sind die Präsidentin den Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, und der langjährige Bundesgeschäftsführer der SPD, Peter Glotz, der heute an der Universität St. Gallen lehrt. In diesem Zentrum soll unter anderem die Vertreibung von 15 Millionen Deutschen während und nach dem Zweiten Weltkrieg, von denen bis zu zwei Millionen auf der Flucht umkamen, durch eine Dauerausstellung dokumentiert werden.
Als Hauptaufgabe hat sich das Zentrum gestellt, Vertreibungen weltweit entgegenzuwirken, sowohl durch die Dokumentation weltweiter Vertreibungen wie auch durch Vertreibungsforschung in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen. Nach Angaben des Zentrums werden für Erstinvestitionen rund 6,5 Millionen Euro benötigt.
Zu den Unterstützern gehören unter anderen Rolf Breuer, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Michael Wolffsohn, György Konrád, Präsident der Akademie der Künste in Berlin, und Peter Scholl-Latour.
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Übernommen aus dem Ostpreußen-Forum. Leider ohne Datum. Gliederung ergänzt ML 2002-03-30