Professor Dr. Peter Glotz, Universität St. Gallen
Rede auf dem Tag der Heimat am 1. September 2001 in Berlin
Meine sehr verehrten Damen und Herren
Es war die Notwendigkeit des Tages, unserer Tage, die das Thema zum Gegenstand der Debatte
in unserem Parlament, im Bundestag machte. Sie sprechen vom Völkerrecht,
sagte Außenminister Fischer, an einen Gegner der NATO-Operation im Kosovo gewandt.
Ich frage Sie, wo ist das Recht der Ermordeten in den Massengräbern bei Ihnen? Wo
ist das Recht der vergewaltigten Frauen? Wo ist das Recht der Vertriebenen? Und ich sage
das als jemand, der sich schwer damit getan hat, zu akzeptieren, daß diese Pest der
europäischen Vergangenheit, diese Form, die darauf setzt, daß das eigene Volk das
Wichtigste ist und deswegen andere Völker vertrieben, unterdrückt, massakriert werden
dürfen, daß diese wieder da ist.
Der Bundesaußenminister hat recht: Diese Pest der europäischen Vergangenheit. Was allerdings gestern für die Vertreibung der kosovarischen Albaner galt, gilt heute für die Vertreibung von Serben im gleichen Kosovo. Und es galt vorgestern für die Vertreibung der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg. Vertreibung, hat der Bundeskanzler an dieser Stelle vor einem Jahr gesagt läßt sich niemals rechtfertigen. Vertreibung, daran kann es keinen Zweifel geben, ist stets ein Unrecht.
Das klassische Argument gegen diese These spricht von der Kausalität von Aktion
und Gegenreaktion, die auf den Kopf gestellt würde. Ich zitiere eine unserer
großen überregionalen Zeitungen, die Süddeutsche Zeitung, die noch im vorigen Jahr
formulierte: Doch ist wieder und wieder an Ursache und Wirkung zu erinnern, daran
also, wer Krieg und Greuel begonnen, wer Widerstand geleistet und wer Rache geübt
hat. Dies ist die Rechtfertigung der Gegenaggression, sie führt in den ewigen
Zirkel gegenseitiger Beschuldigung. Ja, sage ich als Deutsch-Böhme, die Geschichte
beginnt nicht 1945 mit der Vertreibung der Sudetendeutschen. Sie beginnt aber auch nicht
1938 mit dem Münchner Abkommen, sie beginnt nicht einmal mit der Gründung eines
tschechoslowakischen Nationalstaates, in den die Böhmen deutscher Zunge nach dem Ersten
Weltkrieg gezwungen wurden. Wo immer die Aggression zwischen Deutschen und Tschechen
begonnen haben mag, wann immer aus nationalem Bewußtsein Nationalismus geworden sein mag
es muß Schluß sein mit der Denkfigur: Die anderen haben angefangen. In den Worten
von Roman Herzog: Kein Unrecht, und mag es noch so groß gewesen sein, rechtfertigt
anderes Unrecht. Verbrechen sind auch dann Verbrechen, wenn ihm andere Verbrechen
vorausgegangen sind. Das Denkmodell der gerechten Strafe ist korrupt.
Früher funktionierte es nach dem Muster: Deutsche kann man, nach den Verbrechen des
Hitler-Regimes, ruhig vertreiben. Heute funktioniert es nach dem Muster: Serben kann man,
nach den Verbrechen des Milosevic-Regimes, ruhig vertreiben. Die Verbrechen von Milosevic
waren schrecklich, die Verbrechen von Hitler noch weit schrecklicher. Die
Kollektivvertreibung ganzer Völker und Volksgruppen rechtfertigen sie nicht.
Massenvertreibungen können den Tatbestand des Völkermordes erfüllen. Natürlich ist mir
bekannt, daß der Straftatbestand des Völkermords erst 1948 formuliert worden ist. Unter
dem Eindruck der Judenvernichtung wollte die Völkergemeinschaft deutlich machen, was
schlimmer als gewöhnlicher Mord ist, nämlich die Absicht, eine Gruppe von Menschen ganz
oder teilweise zu zerstören, die anhand nationaler, rassischer, religiöser oder
ethnischer Eigenarten näher bestimmt werden kann. Das internationale
Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien arbeitet mit diesem Begriff.
Natürlich kann man fragen, welchen Sinn es macht, historische Ereignisse, die vor
Formulierung dieses Tatbestands stattgefunden haben, als Völkermord zu bezeichnen. Aber
Mitte Januar dieses Jahres hat das französische Parlament ein Gesetz verabschiedet, in
dem die Massentötung von Armeniern im Jahr 1915 während des Osmanischen Reiches
offiziell als Völkermord bezeichnet wird. Mihran Dabag, Direktor des Instituts für
Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum, hat klar gemacht, warum
diese symbolische Entscheidung des französischen Parlaments eine politische geworden ist.
Er hat gesagt: Dies ist es, was Völkermörder fürchten müssen: Daß man ihre Tat
nicht vergißt, auch wenn es keine Orte und keine Geschichtsbücher für ein offizielles
Erinnern gibt. Es geht nicht vor allem um unsere Toten, die vor mehr als einem
halben Jahrhundert ihr Leben lassen mußten, es geht nicht vor allem um uns, die aus ihrer
Heimat vertrieben wurden und anderswo eine Heimat fanden. Es geht darum, zukünftigen
Völkermorden vorzubeugen. Deswegen ist die Entscheidung des französischen Parlaments
weder unzeitgemäß noch lächerlich.
Selbstverständlich schlägt keiner vor, in Deutschland einen Parlamentsbeschluß zu
fassen, der die Vertreibung zum Beispiel der Sudetendeutschen aus der Tschechoslawakei als
Völkermord bezeichnet. Wenn ich aber zu Kenntnis nehmen muß, daß auch noch ein halbes
Jahrhundert nach der Vertreibung der Sudetendeutschen unsere Aussiedlung nicht
nur als legal, sondern auch als legitim bezeichnet wird, und zwar nicht nur von
irgendwelchen tschechischen Rechtsradikalen, sondern in Urteilen des tschechischen
Verfassungsgerichts und in Äußerungen von Abgeordneten, dann fühle ich mich
herausgefordert, zu sagen: Saaz und Außig waren nichts anderes als Srebrenica. Edvard
Benes hat die Vertreibung des Deutschen langfristig geplant und spätestens 1943, nämlich
mit Stalin, international verhandelt. Er kann nicht mehr vor einen internationalen
Gerichtshof zitiert werden. Wer die Politik, die er betrieben hat, aber noch heute
rechtfertigt, liefert den Völkermördern von heute Argumente.
Ich muß, um zu erklären, warum ich diese scharfen Formulierungen gebrauche, eine
persönliche Bemerkung einflechten. Ich stamme aus einer deutsch-tschechischen Ehe; meine
Mutter war Tschechin, mein Vater Deutscher. Ich habe das Elend, das der Nationalismus
bringt, in der eigenen Familie und am eigenen Leib erlebt. Meinem Vater haben die Nazis
empfohlen, sich von seiner Frau zu trennen, weil sie einer minderen, slawischen Rasse
angehöre. Meiner Mutter haben die Tschechen versprochen, ihr ihr Geschäft in Eger wieder
zu geben, wenn sie die Kinder auf die tschechische Schule schicke und ihrem Mann, der
schon geflohen war, nicht folgen würde. Auf Grund dieser Erfahrungen habe ich mich mein
Leben lang für die Versöhnung zwischen Tschechen und Deutschen eingesetzt. Ich war viele
Jahre Vorsitzender der deutsch-tschechischen Parlamentariergruppe, einer der
Berichterstatter des Bundestages beim Beschluß des zweiten deutsch-tschechoslowakischen
Vertrages 1992 und ein Teilnehmer an zahllosen Dialogen zwischen Tschechen und Deutschen
über zwei Jahrzehnte. Mich mußte nie jemand auf die furchtbaren Verbrechen der Deutschen
in der Tschechoslawakei aufmerksam machen. Ich war in Lidice, und zwar als Begleiter Willy
Brandts. Ich war und bleibe ein Anhänger der Ostpolitik Bundeskanzler Brandts und ich
habe die Forderung vieler meiner Landsleute nach Restitution des sudetendeutschen
Eigentums niemals geteilt. Ich war und bin der Auffassung: Eine solche Restitution würde
das mühsam wieder aufgebaute Verhältnis zwischen den beiden Völkern nicht aushalten.
Und ich bin auch dagegen, die Aufnahme der Tschechischen Republik in die Europäische
Union von historisch-politischen Vorbedingungen abhängig zu machen.
Unerträglich aber finde ich es, wenn die Vertreibung heute noch gerechtfertigt wird, wenn
sie weggeschoben werden soll als bloßes Thema für Historiker, wenn so getan
wird, als könne man dicke Striche unter die Vergangenheit ziehen, wenn also sogar
Gesten, symbolische Entschädigungen, Schuldbekenntnisse wie sie Vaclav Havel oder
die tschechischen katholischen Bischöfe abgegeben haben verweigert werden. Der
tschechische Politikwissenschaftler Bohumil Dolezal hat im März dieses Jahres bemerkt:
Die Regierung Schröder geht von dem an sich richtigen Grundsatz aus, daß die
Bewältigung des Problems der Vertreibung der Deutschen vor allem ein innertschechisches
Problem ist, und daß die Einmischung des deutschen Staates kontraproduktiv wäre. Die
tschechischen Nationalisten zogen daraus allerdings den Schluß: Alles darf vergessen
werden. Wir müssen dafür sorgen, daß diese Strategie nicht funktioniert.
Das ist der Grund, warum ich mich für ein Zentrum gegen Vertreibungen
in Berlin engagiere. Denn das Thema ist weder erledigt noch aufgearbeitet. Es ist auch
keineswegs nur ein Thema, das wir mit Tschechen und Polen diskutieren müssen. Es lohnt
auch die Diskussion mit Amerikanern, Engländern und Franzosen. Churchill hat im Dezember
1944 im Unterhaus gesagt: Die nach unserem Ermessen befriedigendste und
dauerhafteste Methode ist die Vertreibung. Sie wird die Vermischung von Bevölkerungen
abschaffen, die zu endlosen Schwierigkeiten führt. Es wird reiner Tisch gemacht
werden. Solche Auffassungen sind auch heute noch keineswegs vom Tisch. Als der
jetzige amerikanische Präsident Bush in seinem Wahlkampf die Vertreibung der Deutschen
einen der schlimmsten Fälle kultureller Ausrottung genannt hatte, schickte das State
Departement dieser Äußerung eilends die Versicherung hinterher, daß sich die Haltung
der Vereinigten Staaten zur Potsdamer Konferenz und zur Vertreibung nicht geändert habe.
Schon dieses Detail zeigt, daß wir ein Zentrum gegen Vertreibungen
brauchen. Es soll nicht vor allem unsere Erinnerungen pflegen, es soll dazu beitragen,
Vertreibungen weltweit zu ächten, die Völkergemeinschaft zu sensibilisieren und die
Auseinandersetzung mit Ethnonationalismus und der Idee des ethnisch homogenen
Nationalstaats systematisch zu führen. Insofern wird dieses Zentrum ein Beitrag zur
Bekämpfung des Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus sein.
Machen wir uns nichts vor: Die große Mehrheit der Tschechen ist noch heute der
Auffassung, daß die Vertreibung notwendig und gerechtfertigt war. Dies hat sich an den
Reaktionen auf die Entschuldigung Vaclav Havels wegen der Vertreibung deutlich gezeigt.
Havel hat von uns allen nicht rasch genug Antwort bekommen. Gerade die Reaktion der
Vertriebenen war zu lau. Die Mehrheit der Deutschen will ihre Ruhe haben, die Alliierten
des Zweiten Weltkriegs haben die Vertreibung in Potsdam gebilligt und wollen keine
Diskussion dieser Schuld. Es gibt weiß Gott viel zu diskutieren.
Bundeskanzler Schröder hat, wie ich schon zitiert habe, jede Vertreibung als Unrecht bezeichnet. Er hat mit seiner ausgewogenen Rede zum 50. Jahrestag der Charta der Vertriebenen ein Tor aufgestoßen und sowohl als Regierungschef wie auch als Parteipolitiker einen politischen Paradigmenwechsel eingeleitet. Aus diesem Grund bitte ich ihn, die skeptische Zurückhaltung gegenüber der Idee einer zentralen Gedenkstätte gegen Vertreibungen aufzugeben. Ein böhmisches Museum in Marktredwitz oder eine niederschlesische Kultureinrichtung in Nordrhein-Westfalen können niemals zum Kristallisationskern einer bundesweiten oder gar europäischen Debatte über Vertreibung, Ethnonationalismus und Fremdenhaß werden. Genau diese Debatte aber brauchen wir.
Manche haben Angst, wir wollten mit diesem Zentrum gegen Vertreibungen
die Vertreibung gegen den Holocaust ausspielen. In Berlin wird jetzt ein Holocaust-Denkmal
gebaut. Wenn gleichzeitig ein Zentrum gegen Vertreibungen gegründet wird, so vermuten
diese Kritiker, wollten die Deutschen ihre Schuld aus der Zeit des Nationalsozialismus
verkleinern. Nein, das wollen wir nicht. Jedes Aufrechnen ist falsch. Der systematische
und industriell betriebene Judenmord der Nationalsozialisten, denen in den Arm zu fallen
wir Deutschen nicht die Kraft und häufig auch nicht den Willen hatten, ist das größte
Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Daran habe ich keinen Zweifel.
Aber ich bin der Auffassung von Günter Grass, dem man nicht vorwerfen kann, daß er mit
seinem eigenen Volk zu milde umgeht. Merkwürdig und beunruhigend mutet an, wie
spät und immer noch zögerlich an die Leiden erinnert wird, die während des Krieges den
Deutschen zugefügt wurden. Die Folgen des bedenkenlos begonnenen und verbrecherisch
geführten Krieges, nämlich die Zerstörung deutscher Städte, der Tod Hundertausender
Zivilisten durch Flächenbombardierung und die Vertreibung, das Flüchtlingselend von 12
Millionen Ostdeutschen, waren nur Thema im Hintergrund. Selbst in der Nachkriegsliteratur
fand die Erinnerung an die vielen Toten der Bombennächte und Massenflucht nur wenig Raum.
Ein Unrecht verdrängte das andere. Es verbot sich, das eine mit dem anderen zu
vergleichen oder gar aufzurechnen. ... So wird denn vieles, selbst wenn es als qualvolle
Erinnerung wiederholt ins Bewußtsein drängt, ungesagt bleiben. Das Schweigen der Opfer
ist dennoch unüberhörbar.
Und dann kommt ein Satz, der sich so auf die Zukunft bezieht, wie wir das Zentrum
gegen Vertreibung auf die Zukunft beziehen wollen:
Da niemals Frieden war und die Gegenwart auf dem Balkan und im Kaukasus, an vielen
Schreckensorten dieser Welt, von Mord, Flucht und Vertreibung bestimmt ist, wird das Erinnern
als Nachhall überlebter Leiden nicht aufhören.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, daß es wirklich nicht aufhört.
Übermittelt vom Ostpreußen-Forum, geringfügig bearbeitet ML 2001-12-03