Das verschwundene Sudetenland

Diese Seite kann man nicht kurz vorstellen, man muß sie in Ruhe erforschen.

Einige junge Leute in Tschechien entdeckten die Randgebirge Böhmens für sich auf eine eigene Art. Sie dokumentierten ihre Erlebnisse und Erfahrungen seit drei Jahren in einer vielgezeigten und vielbesuchten Ausstellung. Hier der einführende Text zur Abteilung „Böhmerwald“:

Schönheit, Geheimnisse und auch Traurigkeit gehören zu dieser verlassenen Gegend. Einst lebten hier Menschen, bestellten ihre Felder, freuten sich des Lebens und besuchten sich über die Grenze hinweg. Von all dem ist heute nichts mehr zu sehen. Es blieb nur Stille und die Landschaft.

Nachdem der Haß zwischen Tschechen und Deutschen die häßlichsten Ausmaße erreichte, wurden die Menschen von diesen Bergen über die bayerische Grenze aus ihrer Heimat vertrieben, und dieser grüne Winkel wurde zum Niemandsland. Er wurde zum Kampfplatz für den Krieg, zum dem es glücklicherweise niemals kam Dylen, Havran, Velký Zvon, Cerchov, Poledník, das sind die Namen der höchsten Berge an der deutschen Grenze: Orte, wo einst nach der Einrichtung des Todesstreifens riesige Türme mit Radargeräten aufgestellt wurden. Denn wichtiger als das Schicksal des Grenzgebietes war, dank dieser Technik den Luftraum in ganz Westeuropa zu überwachen. Der Böhmerwald war für niemanden zugänglich, weder für jene, die hier leben, noch für jene, die hier für ein paar Tage die wunderschöne Natur genießen wollten.

In der einst lebendigen Kulturlandschaft mit ihren gemähten Wiesen und bestellten Feldern hatte die Vegetation nun freie Hand und gibt uns ein Bild ihrer Kraft. Wald und Buschwerk wuchsen in die Felder, Ortschaften und Dörfer hinein. An Plätzen, wo vordem fleißige Hände wirkten, auf einstigen Dorfplätzen und dort, wo man Messen abhielt, hören wir heute nur noch das Rauschen des Windes in den Baumkronen. So sieht eine Landschaft aus, die vor 50 Jahren sich selbst überlassen wurde, wunderschön und zugleich traurig.

Nur langsam findet diese Gegend aus ihrer Isolation und gibt noch immer ihr Zeugnis von Einsamkeit und Verlassenheit ab. Die ehemaligen Bewohner kommen hierher zu Besuch und bewundern leise die Schönheit und Romantik dieser stillen Landschaft. In ihnen verbinden sich wahrscheinlich Erinnerungen und Sentimentalität an die einstige Kulturlandschaft mit dem Staunen über die unberührte Natur. Auf der bayerischen Seite kann man dagegen von einem Dorf zum anderen fahren, immer unter Menschen – eine Landschaft, die Zivilisation nicht vergessen lassend – während sich auf der tschechischen Seite eine ganz andere Welt befindet. Daß deren Verlassenheit ihre guten Seiten hat, wissen auch die Menschen auf der bayrischen Seite. Vielleicht kann die Pflege dieser Landschaft mit ihrem besonderen Erbe beide Seiten eher verbinden.

Die Fotopaare, die der Besucher hier sieht, kommen alle aus dem Archiv und der Werkstatt von Zdenek Procházka. Er widmet sich der Thematik schon lange und hatte so die Möglichkeit, Bauten und Landschaften des Böhmerwaldes in längeren Zeitabständen zu fotografieren. So konnten ganze Fotoserien entstehen. Die meisten abgebildeten Orte liegen im zentralen Teil der Region, in der Umgebung von Tachau. Hier kam es zum größten Verlust am Kulturerbe – es gingen 20 Dörfer unter.

Zdenek Procházka aus Taus widmet sich schon lange dem Gebiet des Böhmerwaldes und sein Interesse umfaßt ein breites Spektrum. Er ist Besitzer des Verlages „Ceský les“ und gibt eine Reihe von Führern durch diese Gegend und Regionalliteratur zur Geschichte Westtschechiens heraus. Die Texte schreibt er oft selbst, auch Fotodokumentationen und der Vertrieb werden von ihm besorgt. Seine Reiseführer durch die einzelnen Kreise sind heute die besten und führen nicht nur zu den größten Touristenmagneten, Restaurants und Campingplätzen, sondern ermöglichen auch, die Landschaft von einer anderen Seite kennenzulernen, unter der oberflächlich schweigenden ihre Vergangenheit sprechen zu lassen und verstehen zu lernen. Darum scheint es uns, daß kaum jemand anderer als er kompetent sein könnte, über die Gegenwart und die Vergangenheit des Böhmerwaldes zu sprechen.

Der Böhmerwald – die deutschen Sudeten, wie gegensätzlich und widersprüchlich können die Namen für ein und dieselbe Gegend an der tschechisch-bayrischen Grenze sein. Die Wälder, um die sich oft Streitigkeiten zwischen der Böhmischen Krone und dem benachbarten Bayern rankten, war verhältnismäßig lange fast unbesiedelt. Erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde diese besondere Landschaft in historisch relativ kurzer Zeit durch Deutsche „kolonialisiert“. Aber schon in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung der deutschen Bevölkerung, verschwand in noch kürzerer Zeit alles, was die Menschen hier geschaffen hatten. Die Landschaft an der Grenze zweier politischer Systeme war zur Einsamkeit verurteilt. Erst seit Anfang der neunziger Jahre ist es wieder möglich, dieses von der Geschichte schwer geprüfte Stück Erde ohne Schwierigkeiten zu besuchen und kennenzulernen.

Ich weiß eigentlich nicht, warum ich vor einem Jahrzehnt das Landesinnere und den Klattauer Kreis verließ, für dessen Geschichte ich mich bis dahin interessierte, um in die verlassenen und traurigen Wälder zu ziehen, mit sich zwischen Felsblöcken schlängelnden Hohlwegen, die in die Vergangenheit führen. Hier bleibt die Zeit stehen und der überall anwesende „Geruch“ der vergangenen Jahrhunderte ist spürbarer als im Landesinneren, wo das Leben seinen Gang geht.

Von Dutzenden einst lebendigen Dörfern blieben nur einige Reste, tief verloren im Wald und im Gebüsch. Je weniger davon zu sehen ist, desto mehr können hier die Einbildungskraft und romantische Vorstellung entstehen, bei denen keiner den Menschen stört. Stille und Ruhe herrschen über dieser Landschaft. Die Romantik des Hochwaldes im heutigen Grenzgebiet ist aber mit dem Untergang vieler menschlicher Siedlungen, Dörfer und Einsiedeleien verbunden. Aber wie viele Kulturen sind schon vor wie langer Zeit durch Naturkatastrophen oder menschliche Zwistigkeiten eingegangen?! Die Landschaft des Böhmerwaldes wird heute wieder vor allem durch Deutsche besucht, deren Vorfahren hier schon vor Jahrhunderten siedelten. Sie entdecken die Gegend erneut durch Denkmale oder die Erzählungen der einst hier Geborenen. Es kommen auch Tschechen hierher, für die einige Partien des Böhmerwaldes genauso wenig zugänglich waren wie für die Ausländer.

Der Böhmerwald unterliegt heute wieder einem besonderem Natur- und Landschaftsschutz. Manchmal kann man sich nicht dem drückenden Gefühl entziehen, daß  es eigentlich gefährlich ist, über diese von der Zivilisation vergessene Landschaft zu schreiben und auf sie aufmerksam zu machen. Vielleicht bleibt sie jedoch für immer allen marktwirtschaftlichen Interessen verschlossen und öffnet sich nur der Anschauung und der Erholung.

Auf der Fläche des Böhmerwaldes, der sich in drei Teile gliedert, wurden aus der Tradition am meisten der Norden und der mittlere Teil herausgerissen. Dort ist bis heute Leere, Stille und Verlassenheit. Die Dörfer wurden zerstört, es blieben nur die Überreste der Kirchen. Dort drängen sich dem Menschen auch die meisten Fragen nach dem weiteren Schicksal dieser Landschaft auf, mehr als irgendwo anders. Es sollte uns nicht darum gehen, den Zustand der Natur nur einfach zu erhalten, aber die Menschen sollten sich bemühen, herauszufinden wo die heutige Grenze im Umgang mit ihr liegt.

Was sagen uns eigentlich die hiesigen Orte, und wie haben wir auf sie zuzugehen? Sollen wir sie schützen oder uns lieber um eine Rückkehr des Menschen in diese Gebiete bemühen? Das ist Gegenstand der Arbeit von Städteplanern, Architekten und Landschaftspflegern. Der Maßstab für die Lebendigkeit einer Gesellschaft ist auch der Umgang mit der materiellen Kultur wie Siedlungen und Bauten. Die menschliche Ordnung mit der Ordnung der Natur zu verbinden, ist die grundlegende Voraussetzung für die Entstehung einer Kulturlandschaft. Der Streifen der untergegangenen Gemeinden entlang der deutschen Grenze und auch tiefer im Böhmerwald ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn der Mensch aufhört, sich um das weitere Schicksal seines Erbes zu sorgen. Das, was nach 50 Jahre entsteht, ist ein fortgeschrittenes Stadium der Sukzession, so daß diese Flächen aus den Boden- und Grundstücksfonds herausgenommen und unter Schutz gestellt werden sollten. Der Mensch gewöhnt sich nur schwer an anstrengende Arbeit und nur ungern kehrt er zu ihr zurück. Wenn er einmal aufhört, seinen Lebensunterhalt mit der Landwirtschaft zu verdienen und anfängt, sich leichterer und weniger zeitaufwendiger Arbeit zu widmen, wird er nicht mehr zu ihr zurückkehren. Wir wollen damit sagen, daß man mit der Besiedelung dieser Flächen in der Zukunft wohl nicht rechnen kann. Die ökonomischen, kulturellen und ästhetischen Werte dieser Gegend gehören zur Vergangenheit und die menschlichen Schritte und Gedanken werden hier von seiner Beziehung zur Geschichte gelenkt. Es kann ein Band archäologischer Orte entstehen, an denen Siedlungsforschung betrieben werden kann, und das nicht nur für Fachleute, sondern auch für Studenten und Laien. An potentiellen Fundorten herrscht hier kein Mangel.

Wenn man sich im Böhmerwald weiter nach Süden wendet, werden nicht nur die Berge höher, es mehren sich auch die menschlichen Siedlungen. In den höchsten Lagen des Böhmerwaldes um Meigelshof, Klentsch und Taus nähert sich der Reiz der Landschaft mit ihren Ortschaften schon fast der Vollkommenheit. Heute hat man wieder die Möglichkeit, auf den Gipfel des Czerkov zu steigen, um das zu betrachten, was früher nur für die Augen, Ohren und den Radar der militärischen Spionage bestimmt war. Ein älterer Mann auf dem hiesigen Aussichtsturm erzählt von seiner Zeit bei der Armee vor 30 Jahren, wie er Tag für Tag Wache hielt. Die Radargeräte wurden in den 70er Jahren auf der westlichen Seite mit Laminatkonstruktionen versehen, um das Radarbild nicht zu stören. So konnte man den Bewegungen der Flugzeuge bis nach Frankreich hinein folgen. Unten am wunderschönen See „Babylon“ kann man baden und später mit dem Zug nach Taus fahren, einer sonnigen und lebendigen Stadt umgeben von Hügeln. Hier hat man das Gefühl, daß man in einem sehr glücklichen und reichen Land lebt, wo alles ist, wie es sein soll. Ein fröhliches Ende eines traurigen Ausfluges.

 

Ich möchte diesem eindringlichen Text nichts hinzufügen außer den deutschen Namen der genannten Berge:
Dylen, Havran, Velký Zvon, Cerchov, Poledník.
Bitte schreiben Sie mir die Namen auf!

ML 2003-07-12