Landes-Zeitung, Prag am 21. November 2000.
Nachdenken über (tschechisches) Denken

Ich bin Student des vierten Jahrgangs des Gymnasiums, bin ein Tscheche aus Außig / Ustí nad Labem und gehöre der sogenannten Zweiten Generation an. Ich interessiere mich für Geschichte, besonders für die Geschichte meiner Stadt und Region. Ich habe schon viele historische Publikationen gelesen und denke, daß ich, was die Geschichte des Zusammenlebens der Tschechen und Sudetendeutschen anbelangt, eine Übersicht habe. Und gerade deswegen fallen mir in der letzten Zeit viele Fragen ein.

Ich muß z. B. nach der allgemein herrschenden Beziehung der tschechischen Gesellschaft zur Rolle der böhmischen Deutschen in der Geschichte des tschechischen (tschechoslowakischen) Staates fragen. Ich denke, daß das heute, zumindest in meinen Augen, eines der größten Tabus ist. In den Schulen, Medien oder in der Gesellschaft hört man zwar manchmal über die Kolonisierung im 13. und 14. Jahrhundert, über die Deutschen als die Nationalfeinde in der Zeit der „národní obrození“ [Nationale Wiedergeburt] und auch über Deutsche als die Hauptinitiatoren des Krieges und des „odtrzeni“ [Abtrennung] des Sudetenlandes. Das sind die einzigen Momente, bei denen man die Anwesenheit der Deutschen nicht negieren kann. In anderen Fällen sind Informationen über Deutschböhmen nur als Zufallsmeldungen geschildert. Über Deutsche wird eher als Einzelbürger als von einer „Nation“ gesprochen, die seinerzeit ein Drittel der gesamten Bevölkerung bildete.

Mit dieser kurzen Einleitung über die Betrachtung der Geschichte komme ich schon langsam zum jetzigen Denken von uns Tschechen. Die Tschechen nehmen bis jetzt ihren Staat als nur ihren eigenen wahr. Sie können in diesem Staat nur Minderheiten tolerieren, wenn die sich als Fremde fühlen. Deswegen wirken die Forderungen der Sudetendeutschen, aber nicht nur ihre, nach dem Recht auf Heimat wie ein rotes Tuch.

Das alles ist die wahre Benennung der Sache. Ich weiß nicht, woher diese Art des Denkens nach Tschechien kam, sicher ist aber, daß diese Ansichten in den letzten 40 Jahren als ein Teil der Ideologie tief verwurzelt sind, und es wird noch sehr lange dauern, bis sie überwunden sind.

Zum Schluß meines Artikels möchte ich sehr gerne sagen, auch wenn es auf die tschechischen Leser als Ketzerei wirken könnte, daß ich ihn mit einem ganz anderen Ziel geschrieben habe. Ich selbst denke, daß zur gegenseitigen Versöhnung der Deutschen und Tschechen beide Seiten ihre Fehler anerkennen müssen und es nicht hilft, wenn sie nur über die Schuld der anderen Seite argumentieren. Ich denke, daß es eine Sache mit zwei Seiten ist.

Jan Rejzl, Außig /Ústí nad Labem

Ich danke Herrn Rejzl für die Erlaubnis zum Abdrucken! ML 2000-12-04

 

Und hierzu ein paar weitere Gedanken von Adam Slaby:
Anmerkungen zur jungen tschechischen Stimme:

Es ist erfreulich zu sehen, daß es in Tschechien immer mehr Menschen gibt, die sich nicht damit abfinden und begnügen, nur Grundinformationen zu bekommen und mit Klischees abgefüttert zu werden, die man ihnen in der Schule serviert.

Es werden immer mehr, (leider noch zu wenige,) um die starre tschechische Haltung aus der Verankerung und Verrostung zu lösen. Ich bin sehr glücklich, als Mitarbeiter einer der vielen proeuropäischen Vereine, daß Herr Rejzl sich seine Meinung auch als Resultat eines Besuchs auf unserem Seminar gebildet hat. Wer bereit ist, offen und ohne Tabus und unvoreingenommen zu sein, verdient viel Respekt. Er braucht allerdings auch viel Mut, denn manche Themen sind in Tschechien noch nicht salonfähig.

Man muß immer eins vor Augen haben, und das andere aber nie.
Man muß beachten, daß junge Menschen andere Interessen haben als Geschichte und Vergangenheitsbewältigung. Um so mehr muß man den Mut und Willen jener schätzen , die sich der Diskussion mit der Erlebnisgeneration stellen um zu diskutieren. Schade dann, wenn es ein paar Sudetendeutsche gibt, die diese mutigen Tschechen beschimpfen und ihnen Taten unterstellen, die sie nie begangen haben, ja nie begangen haben konnten. Daß dann die Schüler und Studenten weiteren Dialog meiden, liegt auf der Hand.

Ja, und was soll man nie vor den Augen haben?
Bretter. Bretter, die uns die bittere Realität vorenthalten und verbergen. Nichts mit Beschönigung der Geschichte. Fakten, Wahrheit und nüchterne Bewertung der Geschichte, das ist das Gebot der Stunde.

Vielleicht, in ein paar Jahren, wenn es mehrere solche Jungen gibt, wird Tschechien besser, ohne Benesch-Dekrete, ohne Kommunisten, ohne Fremdenfeindlichkeit und vielleicht mit sudetendeutschen Heimkehrern. Ich freue mich schon jetzt darauf.

Adam Slaby,
Akademie der Europäischen Verständigung CR
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