Erklärung sudetendeutscher und tschechischer Christen
zur Gestaltung der deutsch-tschechischen Nachbarschaft
Der Erfolg der sanften Revolution und die Öffnung der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik haben Deutsche und Tschechen vor die Aufgabe gestellt, ihr geographisches Nebeneinander zu einem gutnachbarschaftlichen Miteinander fortzuentwickeln. Dazu sind inzwischen auf hoher staatlicher und kirchlicher Ebene zukunftsweisende Erklärungen ausgetauscht worden. Jetzt gilt es, diese Initiativen weiterzuführen und im Denken der betroffenen Menschen beiderseits der Grenze zu verankern, damit nicht eine historische Chance vertan wird. Deshalb wenden wir uns mit dieser Erklärung unmittelbar an alle, die dieses Ziel berührt oder bewegt.
I.
Wir wenden uns gemeinsam an Deutsche und Tschechen mit der Einladung, folgende
Leitgedanken anzunehmen:
Die Zukunft kann nur im Bewußtsein der jahrhundertelangen gemeinsamen Geschichte
von Deutschen und Tschechen gestaltet werden. Diese gilt es daher vorurteilsfrei zu
erkennen, auch mit ihren dunklen Abschnitten. Oberflächliche Kollektivurteile über
die Deutschen bzw. die Sudetendeutschen oder die
Tschechen verstellen den Weg in die Zukunft.
Deutsche und Tschechen haben in unserem Jahrhundert in nationalistischer
Verblendung ihr Verhältnis durch Unterdrückung, Grausamkeiten, Vertreibung und Mord
belastet. Kriminelles Unrecht erfordert Sühne nach rechtstaatlichen Grundsätzen. Das
Geschehene muß auch zur steten Warnung dienen, damit sich Vergleichbares nie wiederholt.
Aber es darf kein Hindernis für einen Neubeginn sein, zumal die meisten der heutigen
Deutschen und Tschechen schon aus Altersgründen keiner persönlichen Schuld an jenen
Taten verdächtig sind.
Das Gelingen der Zukunft ist für beide Völker lebenswichtig. Dem müssen alle
Bemühungen um die Bewältigung der Vergangenheit untergeordnet werden. Die in den letzten
Jahrzenten entwickelte Freundschaft zwischen den einstigen Erbfeinden
Frankreich und Deutschland zeigt, daß der Blick nach vorn das Gewicht traditioneller
Probleme verändern kann.
In der CSFR leben noch Deutsche. Tschechen haben während der kommunistischen
Herrschaft Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland gefunden. Beide Bevölkerungsgruppen
sollten in das aktuelle Bemühen um gute Nachbarschaft einbezogen werden.
II.
Die deutschen Unterzeichner wenden sich im besonderen an die Sudetendetuschen mit der
Bitte, als Bindeglied zwischen Deutschen und Tschechen zu wirken und sich nicht in die
Rolle des Störenfrieds drängen zu lassen. Die in den vergangenen Jahrzehnten abgegebenen
Erklärungen zur friedlichen Bewältigung des Vertreibungsgeschehens müssen jetzt zum
Tragen kommen. Das erfordert auch eine besonnene Haltung zur Wiedergutmachung:
Rückkehr in die CSFR würde die Verlegung des Lebensmittelpunktes in eine Umgebung
bedeuten, die kaum mehr als Heimat erlebt werden könnte. Deshalb sollte eine solche
Forderung unter Berufung auf Heimatrecht nur vertreten, wer diesen Schritt tatsächlich
wagen möchte.
Rückerstattung des widerrechtlich konfiszierten Eigentums wäre wohl allenfalls in
Formen und Größenordnungen zu verwirklichen, welche die jetzt aufgekommenen Hoffnungen
eher enttäuschen dürften. Vierzig Jahre sozialistischer Planwirtschaft haben das Land
verwüstet. Eine Vertreibung der Menschen, welche die Eigentumsobjekte heute nutzen, kommt
keinesfalls in Frage. Unter solchen Umständen liegt ein persönliches freiwilliges Opfer
als Beitrag zu einem friedlichen Neubeginn nahe.
Eine solche Haltung kann weder Verrat am Recht noch Untreue gegenüber den
Vorfahren sein, welche die alte Heimat aufgebaut haben. Ob jemand ein Recht durchsetzen
will oder darf, ist keine rechtliche Frage, sondern nach moralischen Gesichtspunkten zu
beurteilen. Wenn ein irdisches Gut gerecht zugeordnet werden soll, hat die
friedenstiftende Tat höheren Wert als der Kampf um einen nicht (mehr)
überlebensnotwendigen Gegenstand.
III.
Die tschechischen Unterzeichner wenden sich im besonderen an die Tschechen mit
der Bitte, ihr Verhältnis zu den Deutschen und vor allem auch zu den Sudetendeutschen neu
zu bestimmen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat seit 1949 ihren Ruf als freiheitlicher
demokratischer Rechtstaat gefestigt, der die Rechte anderer Völker und die Grenzen
anderer Staaten als unantastbar achtet und aktiv am Aufbau eines vereinigten Europa
mitarbeitet. Politisch extreme Stimmen sind Ausdruck der Meinungsfreiheit, erlauben aber
keinen Rückschluß auf ihr tatsächliches Gewicht. Das sollte es möglich machen, die
latente Angst der Tschechen vor den Deutschen abzubauen.
Es muß möglich sein, den deutschen Anteil an der Gestaltung von Kultur und
Wirtschaft in unserem Land wieder in unser Geschichtsbild einzufügen. Ein solcher Akt
ideeller Wiedergutmachung könnte den Willen zum Ausgleich beweisen.
Wir müssen auch zu verstehen versuchen, daß Sudetendeutsche, die ihre alte Heimat
besuchen, nicht als Revanchisten kommen, sondern der Geschichte ihres eigenen Lebens oder
ihrer Familie nachgehen. Aus Begegnungen, die aus solchem Anlaß zustandekommen, können
bei gegenseitigem Einfühlen in der Lage des anderen sogar dauerhafte Kontakte erwachsen.
Zur Lösung mancher derzeit schwieriger Fragen wird der erwartete Beitritt der CSFR
zur Europäischen Gemeinschaft beitragen. Es wäre deshalb zu überlegen, ob zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der CSFR Teile des künftigen Europarechts bilateral
vorweggenommen werden sollten, um schon jetzt Wege des Ausgleichs zu beschreiten.
IV.
Noch einmal wenden wir uns gemeinsam an Deutsche und Tschechen mit der Bitte,
stets um eine gute Atmosphäre in den gegenseitigen Beziehungen bemüht zu sein.
Es muß jede Gelegenheit genutzt werden, durch Begegnungen und Gespräche
Vorurteile abzubauen und so durch Diplomatie von Mensch zu Mensch die
gegenseitige Annäherung zu fördern.
Es gilt, nach gemeinsamen kulturellen, wirtschaftlichen, ökologischen und
religiösen Zielen Ausschau zu halten und zu ihrer Verwirklichung praktisch
zusammenzuarbeiten.
Es gilt, auf die Formen zu achten, in denen wir miteinander umgehen. Vieles hängt
vom Ton ab, in dem politische Positionen vertreten werden, aber auch von der Art, wie
Besucher im anderen Land auftreten.
Je mehr Gemeinsamkeiten auf diesem Wege entstehen, desto leichter wird es gelingen, das zu
überwinden, was uns in der Vergangenheit getrennt hat. Unter Deutschen und Tschechen sind
die Menschen guten Willens in der Überzahl. Sie dürfen nur nicht schweigen. Denn: Die
deutsch-tschechische Nachbarschaft muß gelingen!
München, den 18. 12. 1991 |
Prag, den 18. 12. 1991 |
Die Unterzeichner der Erklärung: |
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Dr. Peter Becher, München Geschäftsführer des Adalbert-Stifter-Vereins e.V. Prof. Dr. Rudolf Grulich,
Königstein Richard Hackenberg, Frankfurt Prof. Dr. Johannes Hampel, Augsburg Hilde Hejl, Mühlhausen Dr. Johanna von Herzogenberg, München Prof. Dr. Wolfgang Klieber, Augsburg Prof. Dr. Ernst Nittner, Flintsbach Franz Olbert, München
Anton Otte, Nürnberg Dr. Walter Rzepka, Vaterstetten Dorothea Schroth, Taufkirchen P. Dr. Paulus Sladek OSA, Zwiesel Prof. Dr.h.c. Josef Stingl, Rheinbrohl Maria Weiß, München |
MUDr. Josef Drbal, Prag Direktor des Masaryk-Instituts für Onkologie PhDr. Tomas Halik, Prag Doc. Ladislav Hejdanek, Prag Alfred Kocab, Prag Daniel Kroupa, Prag Doc. MUDr. Bohumir Lang, Brünn Dr. Otto Madr, Prag Vaclav Maly, Prag Dana Nemcova, Prag Anastaz Opasek, Prag Ales Opatrny, Prag Prof. Radim Palous, Prag MUDr. Petr Prihoda, Prag Jan Sokol, Prag Vaclav Vasko, Prag |
Ich bitte um Entschuldigung für das Fortlassen der diakritischen Zeichen
auf den tschechischen Namen.
Das Weltnetz ist in dieser Hinsicht noch nicht ausgereift. ML 2001-10-21