Es begann schon 1918, nicht erst 1945
Zu Der geschätzte Dr. Benes (F.A.Z. vom 17. März):
Die Brünner Leserin Katerina Tachovská-Vestman weist mit ihrer Leserzuschrift in die
Irre, wenn sie behauptet, daß der sudetendeutsch-tschechische Konflikt nicht 1945,
sondern 1938 angefangen habe. Läßt man die feudale Vorzeit des
deutsch-tschechischen Verhältnisses einmal außer acht, so muß man zu dem Schluß
kommen, daß der sudetendeutsch-tschechische Konflikt spätestens 1918 begann. Angesichts
des absehbaren Zerfalls der österreichisch-ungarischen Monarchie traten am 21. Oktober
1918 die deutschsprachigen Reichsratsabgeordneten Österreichs (zu welchem damals auch
noch Böhmen und Mähren gehörten) zu einer provisorischen Nationalversammlung zusammen,
deren erster Beschluß war, daß das deutsche Volk in Österreich ... entschlossen
sei, seine künftige staatliche Ordnung selbst zu bestimmen und den selbständigen
deutschösterreichischen Staat zu bilden.
Am 12. November 1918 beschloß die deutschösterreichische Nationalversammlung eine
Gesetzesvorlage des Staatsrates (Regierung), in der es hieß, daß Deutschösterreich
eine demokratische Republik sei und ein Bestandteil der deutschen Republik.
Man ging seitens des Staatsrates und der Nationalversammlung gemäß dem international
proklamierten Selbstbestimmungsrecht der Völker ganz selbstverständlich davon aus, daß
Staatsgebiet dieses Deutschösterreichs alle (schon bisher österreichischen) Gebiete
waren, die damals mehrheitlich von österreichischen Staatsangehörigen mit deutscher
Muttersprache bewohnt waren.
Südtirol sowie die von Deutschen besiedelten Randgebiete Böhmens und Mährens gehörten
zu diesem Staatsgebiet erklärtermaßen dazu. Freilich wurde am 28. Oktober 1918 ein
selbständiger tschecho-slowakischer Staat ausgerufen (Waffenstillstand war am 3. November
1918), der bald handlungsfähig wurde und begann, unter Berufung auf ein böhmisches
Staatsrecht auch die von Deutschösterreichern bewohnten Landesteile Böhmens und Mährens
militärisch zu besetzen.
Durch Besetzung und Waffengewalt wurden mehrere Millionen österreichische
Staatsangehörige deutscher Nationalität unter anderem in Böhmen und Mähren ebenso wie
in Südtirol dann an der Wahl zur konstituierenden deutschösterreichischen
Nationalversammlung am 16. Februar 1919 gehindert. Am 4. März 1919 demonstrierten
daraufhin im ganzen Sudetenland auf Massenkundgebungen Zehntausende Sudetendeutsche
friedlich gegen die Mißachtung ihres Wahl- und damit Selbstbestimmungsrechtes;
sechsundfünfzig Demonstrationsteilnehmer wurden vom tschechischen Militär erschossen.
Mit dem Friedensvertrag von St-Germain, der von Österreich am 10. September 1919
unterzeichnet wurde, mußte Österreich unter anderem die Sudetenländer in Böhmen und
Mähren sowie Südtirol abtreten. Die Führung des Namens Deutschösterreich
und der Anschluß an die deutsche Republik wurden von den Siegern im Friedensvertrag
verboten.
Mit dieser Mißachtung des Selbstbestimmungs- und Bürgerrechtes von über 3½ Millionen
deutschsprachigen Staatsangehörigen der Republik Deutschösterreich durch den
Willen der Staatsführung der neuen Tschechoslowakei sowie der Sieger des Ersten
Weltkrieges begann 1918 der sudetendeutsch-tschechische Konflikt, der dann später durch
Hitler unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, letztendlich zum Schaden der
Sudetendeutschen und der Tschechen, für dessen Zwecke ausgenutzt wurde. Es soll
dahingestellt bleiben, ob die Deutschen in der Tschechoslowakischen Republik Masaryks und
Benes' gut gelebt hatten, wie Leserin Tachovská-Vestman es formuliert. In
England hatte man zu diesem Thema jedenfalls auch schon lange vor 1938 eine ganz andere
Meinung.
Zumindest sollten sich Leserin Tachovská-Vestman und diejenigen, die deren Meinung
teilen, daß die Sudetendeutschen 1938 einem Staat in den Rücken gefallen
seien, in dem sie gut gelebt hätten, jedoch fragen, ob nicht bereits 1918 die
Tschechen dem Staat Österreich, in dem sie doch auch gut gelebt hatten und dem sie durch
ihre staatliche Zugehörigkeit Loyalität schuldeten, in den Rücken gefallen sind
diese Tatsache einmal in dieser Diktion formuliert.
Dr. Michael Hartenstein, Geißau
Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 77 / Seite 8, 2004-03-31,