FAZ.NET vom 22.Januar 2004
Straßburg
Enteignung früherer DDR-Bürger war rechtswidrig
22. Januar 2004
Deutschland hat mit der Enteignung ehemaliger Bürger der DDR nach der deutschen
Wiedervereinigung gegen das Grundrecht auf Schutz des Eigentums verstoßen. Dies stellte
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Donnerstag fest. Die Straßburger
Richter gaben damit fünf Klägern Recht, die aufgrund eines Gesetzes aus dem Jahre 1992
Grundstücke an den Staat abtreten mußten, die sie 1945 durch die DDR-Bodenreform
erhalten hatten.
Deutschland hätte den Betroffenen dafür eine angemessene Entschädigung zahlen müssen, rügte der Gerichtshof. Die Verstaatlichung der Grundstücke ohne jede Ausgleichszahlung habe gegen das Grundrecht auf Schutz des Eigentums verstoßen. Der Gerichtshof wird nach Angaben einer Sprecherin nach Prüfung der Sachlage die Höhe der Entschädigung festsetzen. Sein Urteil ist für Deutschland, das zu den Unterzeichnern der Europäischen Menschenrechtskonvention gehört, bindend.
Entscheidung zu den sogenannten Neusiedlern
Der rechtliche Streit über die sogenannte Bodenreform ist mit diesem Urteil in
seine letzte Phase gegangen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befaßt sich
am kommenden Donnerstag abermals mit den Folgen der Enteignungen zwischen 1945 und 1949 in
der sowjetischen Besatzungszone. Nachdem die Betroffenen den deutschen Instanzenweg
erfolglos beschritten hatten, prüfen nun die Straßburger Richter, ob der deutsche Staat
die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt hat.
Im Kern geht es nicht um eine Beurteilung der damaligen Konfiskationen, als weder das Grundgesetz noch die Menschenrechtskonvention galten, sondern um den Umgang mit den Vermögenswerten durch den deutschen Gesetzgeber. Daß der Ausschluß einer Rückgabe des enteigneten Vermögens Bedingung für die deutsche Einheit gewesen sei, diese Behauptung deutscher Regierungsvertreter hat das Bundesverfassungsgericht 1991 akzeptiert. Damit war allerdings noch nichts darüber gesagt, wie der dann souveräne deutsche Gesetzgeber diese Grundfrage regeln durfte.
Etwa 70.000 frühere DDR-Bürger betroffen
Straßburg hat mit diesem Urteil zunächst eine Entscheidung zu den sogenannten
Neusiedlern gefällt. Das sind Vertriebene oder Neubauern (beziehungsweise
deren Erben), die durch die Bodenreform Agrarland erhalten hatten. Das Land wurde später
in die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften überführt, es unterlag zu
DDR-Zeiten erheblichen Beschränkungen. Mit dem Modrow-Gesetz von 1990
erklärte allerdings die Volkskammer die Neusiedler und ihre Nachkommen zu
Volleigentümern, Beschränkungen über Nutzung oder Verkauf der Grundstücke wurden
aufgehoben.
1992 legte der Deutsche Bundestag fest, daß nur Angehörige, die vor dem 15. März 1990 in der Land-, Forst- oder in der Nahrungsmittelwirtschaft tätig waren, ihr geerbtes Land behalten durften. Ansonsten ging das Land ohne Entschädigung an die Bundesländer. Von der Regelung sind etwa 70.000 frühere DDR-Bürger betroffen. Nach Auffassung der Bundesregierung wurden sie nur zufällig und unrechtmäßig Eigentümer des Landes.
Mündliche Verhandlung
Als beachtlichen Erfolg stuften es die Straßburger Beschwerdeführer ein, daß
der Gerichtshof im September des vergangenen Jahres über ihre Sache mündlich
verhandelte. Das geschieht nur in wenigen Fällen. So auch in der kommenden Woche. Dann
geht es vor dem Gerichtshof um das Entschädigungs- und Ausgleichsgesetz.
Damit sollten diejenigen entschädigt werden, die ihr Land im Gegensatz zu den nach 1949 Enteigneten und NS-Opfern nicht zurückerhalten. Bemerkenswerterweise ist das Eigentum in der Europäischen Menschenrechtskonvention selbst nicht verankert, sondern im 1. Zusatzprotokoll niedergelegt. Demnach darf Eigentum nicht entzogen werden, es sei denn, das öffentliche Interesse verlangt es, und nur unter den durch Gesetz und die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. Der Gerichtshof hat entschieden, daß Enteignungen einmalige Eingriffe sind, die keine andauernden Auswirkungen hätten. Die Bundesrepublik Deutschland haftet nach Straßburger Rechtsprechung nicht für Enteignungen, die vor ihrer Gründung vorgenommen wurden.
Hauptprofiteur der rechtswidrigen Vermögenseingriffe
Bereits im Vorfeld des ersten Urteilsspruches war erwartet worden, daß die Straßburger
Beschwerden nicht ohne Aussicht auf Erfolg sind. Der Gerichtshof hatte den Klägern vier
Fragenkomplexe zukommen lassen: Er wollte etwa wissen, ob sie eine legitime
Erwartung darauf gehabt hätten, in den effektiven Genuß eines
Eigentumsrechts zu kommen. Die Kläger begründen ihre legitime
Erwartung damit, daß selbst das Verfassungsgericht 1991 die
Bodenreform-Enteignungen für rechtsstaatlich nicht hinnehmbar erklärt hat.
Nach dem Völkerrecht seien sie sogar nichtig. Demnach konnten sie ihr Eigentum nicht
verloren haben.
Die eigentliche Eigentumsentziehung sei erst mit dem Einigungsvertrag erfolgt. Zudem hat die Art und Weise der Entschädigung nach Ansicht der Kläger gegen das Diskriminierungsverbot der Menschenrechtskonvention verstoßen. Tatsächlich gibt es Fälle, in denen der Verkehrswert der Grundstücke etwa 10 Millionen Euro beträgt, jedoch nur eine Entschädigung von etwa 15.000 Euro gewährt wurde. Nicht anerkennen wollen die Kläger das Argument des begrenzten finanziellen Spielraums des deutschen Staates, des Hauptprofiteurs der rechtswidrigen Vermögenseingriffe. Freilich blicken die Straßburger Richter, zu denen auch Osteuropäer gehören, ebenso auf das (politische) Ergebnis ihrer Entscheidungen wie ihre Kollegen in Karlsruhe.
Text: AFP, Mü.