Nr. 2005-3 Seiten 1 und 2
DER STACHELDRAHT
FÜR FREIHEIT, RECHT UND DEMOKRATIE
Gegründet 1991 vom BSV-Landesverband Berlin

Ein ambivalentes Datum
Von Horst Schüler

„Nein, ich bin nicht des Redens müde – ich bin des Erzähltbekommens satt.“ So der spanische Schriftsteller und Politiker Jorge Semprun jüngst in einem Interview, in dem es u. a. um die Aufarbeitung der Franco-Zeit ging. Ja: Satt des Erzähltbekommens! Sicher gilt das auch für uns, die wir Zeitzeugen der beiden schrecklichen Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts sind, wir, die in deren Kerkern waren und uns heute von Menschen über eine Zeit belehren lassen müssen, die sie bestenfalls aus Büchern kennen.

Warum diese Bitternis? Weil angesichts des 60. Jahrestages des Kriegsendes mal wieder so oberflächlich diskutiert wird, daß es einem graut ob der arroganten Unwissenheit mancher. Was war er denn nun, dieser 8. Mai 1945? Ein Tag der Befreiung, rufen sie, was denn sonst?! Ein Festtag also, wie sollte es wohl anders sein, wenn man befreit wird? Und dann berufen sie sich meist auf Bundespräsident Richard von Weizsäcker, auf dessen berühmte Rede am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag.

Ach, wenn sie sich doch nur einmal die Mühe machen würden, diese Rede zu lesen! Es ist ja richtig, Richard von Weizsäcker hat damals gesagt:

„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Wer wollte dem widersprechen? Wer könnte  leugnen, daß – wie Weizsäcker meinte – wir im Ende des Krieges nicht die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen dürften, sie läge vielmehr „im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte“. Doch auch dies hat der Bundespräsident gesagt: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewußt erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft ... Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar waren andere Deutsche für den geschenkten Neuanfang.“ Also: Ein Tag der Befreiung von nationalsozialistischen Verbrechen. Ende eines Irrweges deutscher Geschichte, das – wieder Weizsäcker – „den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“

Aber nur in einem Teil Deutschlands keimte diese Hoffung – nicht in den von sowjetischen Truppen besetzten Gebieten! Der 8. Mai 1945 steht besonders für Widerständler gegen den Kommunismus als ein ambivalentes Datum. Einerseits kennzeichnet es selbstverständlich auch und gerade für uns den Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Geradezu widerlich finden wir deshalb Absichten von Neonazis, sich ausgerechnet dann in Kundgebungen oder Aufmärschen öffentlich darzustellen.

Gleichzeitig aber ist dieser 8. Mai 1945 auch der Tag, an dem im Osten Deutschlands eine Diktatur von der anderen abgelöst wurde. Die damit verbundenen Verbrechen, die systematische Massenvergewaltigung unzähliger Frauen jeglichen Alters, der sofort einsetzende Terror gegen Menschen, die sich gegen diese neue Diktatur auflehnten – das kann zumindest von den Betroffenen nicht als Akt der vollkommenen Befreiung und schon gar nicht als Hinführung in einen demokratischen Rechtsstaat gefeiert werden. Und da taucht dann meist auch die Frage auf, welche Schandtaten denn die schlimmeren waren, die der Nazis oder die der Kommunisten? Unsere Meinung dazu ist eindeutig: Debatten um eine Hierarchie von Opfern halten wir für falsch. Wir wissen um die Einmaligkeit der von den Nazis geradezu fabrikmäßig geführten Ermordung von Millionen Menschen. Manche von uns waren selbst Opfer nazistischer Verbrechen, bevor sie im GULag landeten. Wer also die Singularität etwa des Holocaust in Frage stellen sollte, hat in den Reihen der UOKG nichts zu suchen.

Jedoch wehren wir uns dagegen, den Kommunismus nur als eine Art „kommoder Diktatur“ zu sehen, wie es immer öfter in der Beurteilung der DDR geschieht. Wer historisch ernstgenommen werden will, kann doch dieses menschenverachtende System nicht aus dem Blickwinkel eines Satellitenstaates bewerten. Ideologien wie der Nationalsozialismus und der Kommunismus sind richtig nur zu beurteilen, betrachtet man ihre Zentren. Das kommunistische Ideologie-Zentrum aber lag nicht in der DDR, es lag in Moskau. Es würde ja auch niemandem einfallen, die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus etwa an den Taten eines Quisling in Norwegen zu messen. So wie die Verbrechen der Nazis also von Berlin ausgingen, so war Moskau der Kommandostand für alles, was man den vielen Millionen Frauen und Männern aufbürdete, die als Feinde des Kommunismus galten. Und das waren weiß Gott keine Untaten einer „kommoden Diktatur“. Wer das dennoch meint, dem seien nur zwei „Erlebnis“-Wochen in einem Gefängnis des KGB gewünscht – er würde nicht mehr so dumm daherplappern.

Seit langem kritisieren wir, daß in unserer Gesellschaft der dringend notwendige Kampf gegen politischen Extremismus einseitig geführt wird. Der „Aufstand der Anständigen“ richtet sich ausschließlich gegen Demokratie-Feinde von rechts. Links scheint man keine zu sehen. Mal abgesehen davon, daß das politisch naiv ist, bringt es uns Opfer des Kommunismus auch in eine fatale Lage: Ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Teil unserer Anliegen ist, die Erinnerung an die kommunistische Diktatur wachzuhalten. Da in offiziellen Stellungnahmen fast ausschließlich der Schreckensherrschaft der Nazis gedacht wird, kaum jedoch der kommunistischen, wird eine Lücke der historischen Aufarbeitung geöffnet, die seit einiger Zeit auch Neonazis besetzen. Rechtsextreme also als scheinbare Bewahrer des Gedenkens an kommunistische Diktaturen. „Bei dieser Vorstellung dreht sich mir der Magen“, schrieb dazu Dr. Peter Moeller, Mitglied eines der UOKG angeschlossenen Opferverbandes. Und weiter: „Ich möchte mich nicht durch Neonazis vertreten wissen, und das Andenken an viele meiner Freunde verbietet es ebenfalls.“

Wir haben uns also auch noch gegen falsche „Bundesgenossen“ zu wehren. Unser Widerstand gegen den Kommunismus war diktiert vom Eintreten für einen demokratischen Rechtsstaat. Dafür haben viele von uns schon gleich nach dem 8. Mai 1945 gekämpft, dafür sind sie in die Gefängnisse, die Lager, ja, sogar in den Tod gegangen. Es empört uns, wenn dieser opferreiche Kampf höchstens noch in Sonntagsreden gewürdigt, sonst aber vergessen wird und man so braunen Rattenfängern ein willkommenes Feld der Agitation bietet.

Weil es ums Gedenken geht: Da wird in Berlin gestritten, ob man sich an diesem Tag auch der deutschen Opfer erinnern dürfe. Die da meinen, das gehöre sich nicht, sie mögen sich bitte die Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985 vornehmen. Neben der ehrenden Erinnerung an die ermordeten Juden, Sinti und Roma, an die Opfer des Widerstands, an Zwangsarbeiter, erschossene Geiseln, an die Kriegstoten der von uns überfallenen Länder, stehen da auch diese Sätze: „Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.“ Was wären wir doch für ein jämmerliches Volk, wollten wir das vergessen.

Quelle: „Stacheldraht“ 2005 Heft 3.