Die Aufarbeitung von DDR-Staatskriminalität und -Justizverbrechen
Tagungsreferate zum 10. Jahrestag des FORUMs zur Aufklärung und Erneuerung e.V. am 4. Oktober 2002

Selbstverlag Berlin 2004, ISBN 3-00-013013-6, 159 S., 8 €
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Die Neigung, Schlußstriche unter deutsche Diktaturgeschichten zu fordern, ist verbreitet. Das stellt auch Reinhard Dobrinski, Vorsitzender des FORUMs, zu Beginn der Tagung fest. Der vorliegende Band wirkt dieser Tendenz mit zwingenden Argumenten entgegen. Alle Referenten bearbeiten das Thema beruflich oder sie haben zumindest einschlägige Erfahrungen gemacht.
In seinem Grußwort kommt Christoph Flügge, Staatssekretär der Senatsverwaltung für Justiz von Berlin, zu dem Schluß, daß DDR-Unrecht mit rechtsstaatlichen Mitteln juristisch nicht allein aufgearbeitet werden kann. Die gesellschaftliche Aufarbeitung sei unverzichtbar.

Der leider kürzlich verstorbene Dr. Wolfgang Ullmann steckt zunächst den internationalen und historischen Rahmen ab, innerhalb dessen sich nach 1989 die juristische Aufarbeitung in Deutschland vollzog.
Nach den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert sei eine neue internationale „Rechtsbegründung“ notwendig gewesen. Zentraler Begriff der juristischen Aktivität in der DDR ist für ihn die „Rechtszerstörung“. Entsprechend kritisch sieht er im selben Zusammenhang Formulierungen wie „Rechtsbeugung“, „System-Unrecht“ und „Regierungskriminalität“. Ullmanns Beitrag ist außerordentlich lesenswert, kaum sonst wird die komplizierte Materie so logisch und auch dem Laien gut verständlich aufbereitet.

Der rechtstheoretischen Abhandlung folgt die praktische Erfahrung völliger Rechtszerstörung in Deutschland nach 1945. In einem Zeitzeugengespräch berichtet Gisela Gneist, wie sie 1945 als junges Mädchen gemeinsam mit anderen Jugendlichen in der SBZ verhaftet, verhört und schließlich von einem Sowjetischen Militärtribunal verurteilt wurde. Ihr Fall, nur einer von vielen, illustriert hervorragend die von Wolfgang Ullmann erläuterte „flächendeckende Rechtszerstörung in beiden Diktaturen“.

Den Mauerschützen an der innerdeutschen Grenze widmet sich Michael Heinatz, Richter am Landgericht Berlin. Einer Chronologie des Grenzregimes der SBZ/ DDR folgt die Zusammenfassung der Prozesse und ihrer Grundlagen gegen die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates sowie gegen die ausführenden Grenzsoldaten – für juristische Laien nicht gerade leicht zu verstehen.
Der anschließende Ausflug in die Problematik des Rückwirkungsverbotes und seiner Einschränkung nach Radbruch liest sich da flüssiger.

Gut faßlich und sehr lebendig beschreibt Bernhard Jahntz, Oberstaatsanwalt in Berlin, wie sich „die SED-Machthaber ihrer politischen und juristischen Verantwortung“ stellen – oder eher nicht stellen. Einem historischen Exkurs über die kontinuierliche Verantwortlichkeit von Politbüro und Nationalem Verteidigungsrat für das Grenz-Regime der DDR folgen die Argumente der Beschuldigten: Von Honeckers „Siegerjustiz“ bis zu Schabowskis Negierung des Einflusses des Politbüros.
„Daß die Militärs, wie von Schabowski gesagt, an dem erklärten Willen des Politbüros vorbei wildgeworden wären und gesetzwidrig Menschen erschossen hätten, das ist eine so abenteuerliche Einlassung gewesen, daß das Gericht sie nicht geglaubt hat.“ Nach einer kurzen Einschätzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte über die Beschwerde von Streletz, Keßler und Kreuz zieht Jahntz das Fazit: „Die DDR hatte gegenüber der Sowjetunion hinreichende Handlungsspielräume bei der Gestaltung des Grenz-Regimes im engeren und insbesonder bei der Gestaltung des Reise-Regimes im weiteren Sinne. Das war allen angeklagten Politbüro-Mitgliedern bekannt und bewußt ...“

Joachim Lampe, Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof weist die nach rechtsstaatlichen Kriterien mangelnde Gewaltenteilung in der DDR nach. Der Parteiwille „hatte normative Qualität und war höherrangiges DDR-Recht.“

In einem Nachwort stellt Wiebke Poschmann von amnesty international verschiedene historische und internationale Aufarbeitungsmodelle vor.
In Deutschland sei zwar die strafrechtliche Aufarbeitung erfolgt, die Ergebnisse jedoch würden „den moralischen Normen nicht gerecht“.

Die Bezeichnung „Tagungsband“ ist für dieses Buch formal sicher richtig, liegt allerdings weit unter seiner tatsächlichen Bedeutung. Hier haben wir es mit einern Handbuch zu tun, dessen Gültigkeit nicht zu bezweifeln ist. Es deckt mit seiner wohl überlegten Auswahl der Beiträge resp. Referenten das Thema weitgehend ab. Der Handbuch-Charakter wird noch verstärkt durch einen höchst informativen Anhang, in dem u.a. Justizstatistiken, Auszüge aus relevanten juristischen Entscheidungen und ein erweitertes Quellenverzeichnis zu finden sind. Hinzu kommt sein moderater Preis, der es prädestiniert, in jeder Bibliothek, jeder Einrichtung politischer Bildung, jeder Universität und jeder Schule einen Platz zu haben.

Friedrich Rudolph
Der Stacheldraht 7/2004, Seite 12.