Kasernenton aus der Schweiz!“, so beschreibt Peter von Matt sein Unbehagen an den plötzlichen Rechtschreibreform-Durchhalteparolen aus dem eigenen Land an die Kultusminister der anderen deutschsprachigen Länder. Sollte hinter diesem plötzlichen Machtgebaren der Schweizer Erziehungsdirektoren sich evtl. sogar die Möchtegern-Diktatur der europäischen (Kultur-)Politik verbergen!?

 

Auf die Sprache hören

Ein Plädoyer für eine Lockerung der Fronten - Von Peter von Matt

Die Schweizer Erziehungsdirektoren warnen vor einer Katastrophe, wenn die von ihnen verordneten Rechtschreibevorschriften nicht in Kraft gesetzt würden. Schön wär's. Die Katastrophe ist bereits da, hier und jetzt und ausgewachsen.

Die Katastrophe, meinen die Erziehungsdirektoren, trete ein, wenn die Kinder in Zukunft nicht mit schlechten Noten bestraft werden, falls sie die deutschen Wörter anders schreiben, als die neuen Vorschriften es verlangen. Das heisst: Die Kinder werden bestraft, wenn sie so schreiben, wie sie es in vielen Zeitungen sehen, die zu Hause herumliegen, und in fast allen Büchern, die ihre Eltern lesen. Ich habe drei Tageszeitungen abonniert, angesehene Blätter aus dem In- und Ausland. Jede dieser Zeitungen befolgt erklärtermassen andere orthographische Regeln, und nur eine hat die Vorschriften der Erziehungsdirektoren übernommen. Ich habe auch mit den Büchern der deutschen Gegenwartsliteratur viel zu tun. Keines dieser Bücher ist nach den Rechtschreibevorschriften gedruckt, deren Nichteinhaltung den Kindern nach dem Willen der Erziehungsdirektoren rote Striche am Heftrand und gegebenenfalls die Nichtversetzung in eine höhere Klasse eintragen soll.

Auf Kosten der Kinder

Die sogenannte Umsetzung der Reform bedeutet nur eines: den Beginn der Sanktionen gegenüber den Kindern, die nicht nach den obrigkeitlichen Vorschriften schreiben. Denn Sanktionen gegenüber Schriftstellern und Zeitungen gibt es nicht. Glücklicherweise. Die Aufgabe der Schulen ist es, die Kinder einzuführen in das Lesen und Schreiben der deutschen Sprache, so wie sie in der Gegenwart gebraucht wird. Die Schule hat das Deutsch zu unterrichten, das in den wichtigen Zeitungen und Büchern steht, nicht das Deutsch der Korrekturprogramme, mit deren Hilfe die Verwaltung ihre Reglemente redigiert. Der grössere Teil der Schreibenden, die sich regelmässig in persönlich verantworteten Texten der Öffentlichkeit stellen, weigert sich, nach den neuen Vorschriften zu schreiben. Faktum. In den Texten dieser Schreibenden erscheint nun aber die deutsche Sprache, die in der Gegenwart gebraucht wird. Wenn die Mehrheit der deutschsprachigen Presse- und Buchproduktion die Reform ablehnt, darf die Schule sie gar nicht mehr vorschreiben. Sonst vergeht sie sich gegen ihren Auftrag. Es ist denkbar, dass eine Orthographiereform ohne Eingriffe in den Wortschatz breite Anerkennung gefunden hätte. Die albernen Gämsen und Stängel vielleicht sogar inbegriffen. Da nun aber massiv in den Wortschatz eingegriffen, Wörter zerstört und nicht ersetzbare Wortverbindungen verboten wurden, kam es zum Aufstand. Wenn ein Dieb «im Dorf wohl bekannt ist», heisst das etwas anderes, als wenn er «im Dorf wohlbekannt ist». Der Unterschied kann juristische Konsequenzen haben. Jetzt darf man ihn aber nicht mehr zum Ausdruck bringen. Die Erziehungsdirektoren verbieten es. Wenn mir einer «eine Hand voll Dornen» zeigt, heisst das etwas anderes, als wenn er mir «eine Handvoll Dornen» zeigt. Das schöne Wort «eine Handvoll», ein Mengenmass, das im Schweizer Dialekt sogar den Diminutiv kennt, es Hämpfeli, wurde liquidiert. Dieses Wüten gegen den gewachsenen Wortschatz hat die Wut der Schreibenden hervorgerufen, hat den Widerstand am Leben erhalten und wachsen lassen. Dieses Wüten gegen den gewachsenen Wortschatz verdeckt jetzt viele durchaus vernünftige Vorschläge der Kommission.

Vernunft statt Härte

Die Schweiz hält sich etwas zugute auf ihre politische Kultur. Dazu gehört ein breites Vernehmlassungsverfahren bei neuen Gesetzesvorlagen. Da werden regelmässig alle Interessengruppen vom Flachland über die Hügelzone bis zur Bergregion begrüsst. Wo blieb das Verfahren bei der Rechtschreibreform? Warum ist man auf die Journalistenverbände, die Schriftstellerorganisationen, die Verlage nicht zugegangen? Sie verantworten die deutsche Sprache, wie sie in der Gegenwart gebraucht wird. Warum hat die Schweiz ihre Kultur der Vernehmlassung nicht eingebracht und auch die andern Ländern dazu angehalten? Stattdessen ergeht heute von der Schweiz aus an die Nachbarstaaten die Forderung: «Hart bleiben!» Das ist Kasernenton. Es gibt Gründe, ihn für peinlich zu halten. Und es gibt Gründe, daraus abzulesen, was den Kindern droht. Ruft man, wenn der Dachstock brennt: «Hart bleiben!»? Ruft man, wenn ein Bein gebrochen ist: «Hart bleiben!»? Nein, da müssen Spritzen her, und es muss geschient werden. So auch in der real existierenden Sprachkatastrophe. Es gibt Lösungen. Es gibt gründlich erarbeitete Kompromissvorschläge, die die vernünftigen Ideen aufnehmen und nur den blanken Unsinn beseitigen. Sie wurden vom Tisch gewischt. Kasernenton. Der erste dieser Vorschläge kam aus der Schweiz, von der Redaktion der NZZ. Sie stellte übersichtlich die Orthographie vor, in der diese Zeitung jetzt gedruckt wird. Es wäre ein Ansatz gewesen für eine offene Diskussion, eine goldene Brücke zu einer vernünftigen Übereinkunft im ganzen deutschen Sprachgebiet. Diese Übereinkunft wollte man nicht. «Hart bleiben!» Es ist die Aufgabe der Schweiz, die Fronten im letzten Moment zu lockern, den drohenden Termin in Frage zu stellen und ein neues Gesprächsklima zu schaffen. In der Schweiz kann man das, sonst gäbe es das Land schon lange nicht mehr. Der Prozess wird lang sein und soll auch lang sein. Es geht darum, auf die Sprache zu hören, statt ihr zu befehlen. Es geht nicht um die gedruckten Schulbücher. Mit denen können unsere Lehrerinnen und Lehrer in jedem Fall umgehen. Die haben noch ganz anderes am Hals und bestehen es besser, als die Öffentlichkeit wahrhaben will. Die Schweiz hat bei den internationalen Gesprächen versagt, als sie eine breite Vernehmlassung verhindern half. Jetzt kann sie das wettmachen, indem sie aktiv wird und die verhärteten Positionen unterläuft. Es ist im Interesse aller, nicht zuletzt der Kinder mit den roten Strichen im Reinheft.

Dieser Text erschien zuerst in der NZZ, am 24.08.2004 im St.Galler Tagblatt

 

G. Thriene

 Unternehmensberatung

Freie Schule

Freie Hochschule

Obgass 19, CH-9527 Niederhelfenschwil

Tel.:     0041/*71 949 0404

Mobil: 0041/*79 362 9494

Email: gunther.thriene@bluewin.ch

Freiheit und Verantwortung.