Wir können alles außer Deutsch

„Nachholende Integration“ heißt das Konzept zur Ausländereingliederung der Stadt Stuttgart
Von Rüdiger Soldt

STUTTGART, im Mai.
An der Wand des Klassenzimmers hängen sieben bunte, von Kindern gemalte Bilder, sie erzählen die biblische Schöpfungsgeschichte.
Eigentlich wird in diesem Raum nur katholische Religionslehre unterrichtet.
Am Montag morgen sitzen hier aber Aysel Gümkizil, Irina Bala, Mercedes Messina und zwölf weitere Frauen. Einige tragen ein Kopftuch.
Frau Gümkizil stammt aus der Türkei, ist 40 Jahre alt und lebt seit 15 Jahren in Deutschland.
Frau Bala ist in der Ukraine geboren und wohnt seit zehn Jahren hier.
Frau Messinas erste Heimat ist die Dominikanische Republik, sie wohnt mit ihrer Familie schon neun Jahre in Baden-Württemberg.

Alle Frauen haben mehrere Kinder, sprechen aber kaum ein Wort Deutsch, mindestens eines ihrer Kinder besucht die Schwab-Schule im Stuttgarter Stadtteil West. Die Zusammensetzung des „Mama lernt Deutsch“-Kurses ist sehr heterogen. Die Teilnehmer stammen aus Sri Lanka, Vietnam, Eritrea. Einmal in der Woche kommen sie in den Klassenraum der Grundschule, um Deutsch zu lernen. Die Stadt Stuttgart will mit den Kursen die Integration der Einwanderer verbessern. „Lesen Sie noch einmal vor“, sagt die Kursleiterin Jutta Kaißner zu Frau Gümkizil. „Die Hausaufgaben machen, die Vokabeln lernen“, liest die Frau, und dann sagt sie: „Wer hier leben will, muß die Sprache können.“ Die Inhalte des Sprachkurses sind auf den Schulalltag bezogen, die Lehrer haben die Erfahrung gemacht, daß Kinder aus nichtdeutschen Familien große Probleme haben, sich in der hiesigen Gesellschaft zurechtzufinden, wenn die Mütter nicht einen Satz mit dem Lehrer wechseln können. Finanziert werden die Deutschkurse vor allem mit Geldern der Landesstiftung Baden-Württemberg und der Stadt Stuttgart, 85 000 Euro kostet das Projekt an sechs Stuttgarter Schulen, das auf zwei Jahre befristet war und kürzlich verlängert wurde.

Wie wenig Schule und Staat das Problem des Spracherwerbs bei eingewanderten Familien im Blick hatten, zeigt auch, daß es noch immer keine speziellen Schulbücher gibt. Für die Lehrer ist es schwierig, überhaupt Kontakte zu den Eltern der Migrantenkinder herzustellen. „Am ersten Schultag“, sagt die Schulleiterin Evelyn Thielmann, „wird der Sohn vom stolzen türkischen Papi gebracht. Eine Chance, die Mütter kennenzulernen, haben wir nicht.“ Bei vielen Familien habe sie zu Hause angerufen, das Einverständnis des Familienoberhaupts eingeholt und die Mütter zu den Deutschkursen eingeladen. „Wir haben hier einige Mütter, die müssen ihre Tochter mit zum Arzt nehmen, wenn sie die Diagnose verstehen wollen“, sagt Thielmann. Der Ausländeranteil im Stadtteil West ist 25 Prozent, an der Schule lernen Kinder aus 33 Nationen, 60 Prozent sind nichtdeutscher Herkunft. Die Verständigung zwischen Lehrern und Eltern wird nicht nur durch die mangelnde Beherrschung der deutschen Sprache erschwert, sondern auch durch die große Bildungsferne der Mütter.

„Unter ihnen sind auch Analphabeten, sie leben mehr als 15 Jahre hier, sind ghettoisiert, und wir merken erst jetzt, daß die Integration der Kinder nicht funktionieren kann, wenn die Eltern noch nicht einmal den deutschen Stundenplan lesen können.“ Ein Volkshochschulkurs „Deutsch für Ausländer“ wäre für viele Mütter ein zu anspruchsvoller Einstieg. Die Deutschkurse sollen die Mütter auch stärker in das Schulleben einbinden. Sie können im Unterricht hospitieren, die Schwellenangst der Eltern soll gesenkt werden.

Der Integrationsbeauftragte der Stadt Stuttgart, Gari Pavkovic, spricht von „nachholender Integration“ und nennt die Sprachkurse für Mütter „trojanische Pferde“: Die Sprache sei das Medium, um Einwandererfamilien mit der deutschen Gesellschaft vertraut zu machen. In den Verhandlungen über das Einwanderungsgesetz hat die „nachholende Integration“ zwar eine Rolle gespielt, aber die Kosten für Sprachkurse für bereits seit Jahren in Deutschland lebende Einwanderer wollten weder der Bund noch die Länder zahlen. Deshalb bleibt diese Aufgabe auch künftig den Kommunen überlassen. Einer Großstadt wie Stuttgart, die nach Frankfurt am Main den zweithöchsten Ausländeranteil in Deutschland hat, ist die Förderung von Integration auch deshalb so wichtig, weil die Kommunalpolitiker erkannt haben, daß Ignoranz in dieser Frage die städtischen Haushalte künftig stark belasten kann: Im Jahr 2030 wird der Anteil der Migranten an der Stuttgarter Gesamtbevölkerung voraussichtlich bei 40 Prozent liegen.

Je schlechter junge Erwachsene aus Einwandererfamilien auf den Beruf vorbereitet sind, desto größer sind die Summen, die dann für Sozialhilfe, Jugendhilfe und zusätzliche Berufsausbildung ausgegeben werden müssen. Schon heute stammt ein Drittel aller in Stuttgart geborenen Kinder aus Migrantenfamilien. 133 000 nichtdeutsche Einwohner (22,6 Prozent der Gesamtbevölkerung) hat die baden-württembergische Landeshauptstadt.

„Deutsche Familien wandern ins Umland ab, auch deshalb brauchen wir diese Angebote zur nachholenden Integration, wenn wir die Bildungsbenachteiligung der Migranten nicht zementieren wollen“, sagt Pavkovic. Mehr als 50 Prozent der Stuttgarter Schüler aus Einwandererfamilien besuchen die Hauptschule, nur 20 Prozent schaffen den Sprung auf das Gymnasium. Die Sprachförderung für Kindergartenkinder und Mütter ist das wichtigste Instrument des vom Stuttgarter Gemeinderat beschlossenen „Bündnisses für Integration“. Es wird von allen Parteien unterstützt, geht aber auf Anregung von Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) zurück, der hierfür sogar eine „Stabsstelle“ einrichten ließ und damit die kommunale Integrationspolitik neu justierte.

Etwa eine Million Euro gibt die Stadt hierfür aus. Bestandteil des Stuttgarter Modells ist auch das „Haus 49“, ein internationales Stadtteilzentrum im Nordbahnhofsviertel. Früher gab es hier Fabriken und ein Ausbesserungswerk der Bahn, in den Mietshäusern aus rotem Backstein fanden seit den sechziger Jahren Familien aus der Türkei, Portugal oder Spanien ihre erste Wohnung, wenn sie bei Daimler-Benz oder Bosch angeheuert hatten. Heute hat die Rosenstein-Schule mit Grund- und Hauptschulklassen einen Ausländeranteil von 98 Prozent.

Im „Haus 49“ helfen zwölf Lehrer den Migrantenschülern bei den Hausaufgaben. „Ein intensiver Kontakt mit der deutschen Sprache beginnt für viele Schüler erst in der ersten Klasse, wir müssen nachholen, was das Elternhaus nicht leistet“, sagt der Lehrer Detlef Storm. Auch bei diesem Projekt geht es um die Verbesserung der Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule. Sozialarbeiter kümmern sich zum Beispiel um die spezifischen Probleme türkischer Mädchen. In anderen Arbeitsgruppen bekommen die Jugendlichen Hilfe beim Schreiben von Bewerbungen.

Die Chancen für die Hauptschüler aus Migrantenfamilien, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, bleiben wegen der Wirtschaftslage nach Storms Einschätzung dennoch schlecht: „In meiner neunten Klasse gibt es erst eine Schülerin mit Ausbildungsplatz.“

Text:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2004-05-07, Nr. 106 / Seite 3