NR. 4 DEZEMBER 2003 VEREIN DEUTSCHE SPRACHE WWW.VDS-EV.DE
RECHTSCHREIBREFORM
Akademien leisten Widerstand
Neue Schreibung fördert Anglisierung der Muttersprache.
Die Akaderme für Sprache und Dichtung widersetzt sich unbeirrt der
Rechtschreibreform. Wir wollen alles versuchen, bis das Fallbeil 2005
niedergeht, sagte Präsident Klaus Reichert auf der Herbsttagung der Akademie in
Darmstadt. Das Chaos im Deutschunterricht werde immer größer.
Unterstützung wird ihm zuteil von acht Akademien der Künste und der Wissenschaften in
Berlin, Dresden, Göttingen, Leipzig, Mainz und München.
Der Berliner Präsident Professor Adolf Muschg und seine Kollegen haben an die Kultusminister der Länder und andere zuständige Einrichtungen eine Erklärung verschickt, in der sie die Rückkehr zur herkömmlichen Rechtschreibung empfehlen.
Die Verfasser führen eine Reihe von Beispielen an, die das Scheitern der
Rechtschreibreform belegen. Über widersinnige Getrenntschreibungen heißt es: Wer
schreibend zwischen einem ,frisch gebackenen Brötchen und einem ,frischgebackenen
Ehepaar nicht mehr unterscheiden kann und darf, der wird bald dahin kommen, sich
über alle Zusammenschreibungen hinwegzusetzen hinweg zu setzen!
Überraschend, aber umso bemerkenswerter ist die Schlußfolgerung, die die
Akademiepräsidenten daraus ziehen. Am Ende stünde eine Anglisierung der deutschen
Schriftsprache, die deren von langer Hand gewachsener Eigenart umfassend Gewalt
antäte. Das gehörte bisher nicht zu den gängigen Argumenten gegen die neue
Schreibung. Die mit Hilfe staatlicher Autorität, von oben herab durchgesetzte
und von Computerprogrammen geförderte neue Schreibung erzeuge einen erheblichen
Gleichschaltungsdruck und bleibe in jedem Fall ein schwerwiegender Eingriff in die
deutsche Schriftsprache. Das sei umso bedenklicher, als die für den Schulunterricht
erhofften Vereinfachungen ausgeblieben sind und eine Verbesserung des Sprachvermögens der
Schüler nicht erreicht wurde.
Ein wenig gewunden, aber wünschenswert deutlich heißt es am Ende: Ernsteste Beachtung verdienen auch jene Argumente, die die Rückkehr zu der im Duden von 1991 kodifizierten Orthographie für den einfacheren und sach-, nämlich sprachgemäßeren Weg halten. Wie die Verfasser darlegen, wäre er auch kostensparend.
Unter Berufung auf Wilhelm von Humboldt, der einst im absolutistischen Preußen die
Grenzen der Wirksamkeit des Staates aufgezeigt hatte, lehnen die
Akademiepräsidenten die Regelung sprachlicher Dinge durch den Staat grundsätzlich ab.
Ihr Brief schließt mit den bedenkenswerten Worten: daß es verfehlt ist, Fragen der
Sprachkultur übers Knie staatlicher Verfügungen zu brechen.
H. Dieter Burkert, Lektor der Sprachnachrichten, antwortet Dr. Peter Menke, der in
seinem Leserbrief in Ausgabe 3 / 2003 kein Verständnis für die Nutzung der alten
Rechtschreibung in dieser Zeitung zeigte.
Dr. Peter Menke erklärt in den Sprachnachrichten 3/2003, es sei ihm
unverständlich, warum in der Vereinszeitung weiterhin die alte Rechtschreibung
benutzt werde. Als verantwortlicher Lektor der Sprachnachrichten (seit Beginn ihres
Erscheinens im Jahre 1998) darf ich ihm darauf antworten wie folgt:
Die von den Reformern in der Amtlichen Regelung (Concept
Verlag GmbH, Düsseldorf, September 1996) in Regeln und Wörterverzeichnis in
insgesamt 112 Paragraphen (zusammen mit dem Verzeichnis) auf 252 Seiten dargelegten Formen
zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung (aufgrund der Gemeinsamen
Absichtserklärung von Wien vom 1 . Juli 1996) entsprechen nicht den eigens dafür
aufgestellten Grundsätzen.
Diese Grundsätze lauten:
a) inhaltliche Vereinfachung,
b) einheitliches Konzept (siehe: Amtliche Regelung, = AB, S. 7).
Zum Nachweis meiner These, daß die Neuregelung Grundsätze und Formen nicht zur Deckung
bringt, weise ich auf folgendes hin:
2.1. Schon im Bereich der Laut-Buchstaben-Zuordnungen (AR §§ 1-32)
kommt es zu zahlreichen Doppelformen, und zwar ausgerechnet durch das einst mit Stolz
verkündete Prinzip der Stammschreibung: aufwendig/aufwändig; Schenke/Schänke;
selbständig/selbstständig.
Hinzu kommen sprachgeschichtlich-etymologisch ausgesprochene Falschschreibungen:
behände hat eben nichts mit Hand zu tun, sondern mit zi
henti, althochdeutsch sofort. Das Stammprinzip führt hier in die Irre.
Tollpatsch kommt keineswegs von toll, sondern von
Tolpatsch mit einem l. Das war ein Fußsoldat, der statt normaler
Marschstiefel schnürenbefestigte Sohlen trug und dieserhalb von seinen Kameraden
gehänselt wurde.
Auch die sogenannte Variantenschreibung im Bereich der Fremdwörter gehört in das Kapitel
der Laut-Buchstaben-Zuordnungen:
Hauptform Aftershavelotion, Nebenform After-Shave-Lotion; ähnlich
Fulltimejob Full-Titne-Job;
neue Hauptform Ketschup, nur als Nebenform Ketchup. ja, was denn
nun?
Überdies sind Schreibweisen wie Desktoppublishing (AR, S. 126) und
Midlifecrisis (AR, S. 184) vom englisch-amerikanischen Standpunkt aus
schlichtweg falsch.
2.2. Kommen wir zum offensichtlich mißglückten Abschnitt der
Neutegelung, der Getrennt- und Zusammenschreibung (AR §§ 33-39). Schon die
hier getroffene grammatische genauer morphologische Grundentscheidung trägt
nicht durch: Ist Dank sagen nun eine Wortgruppe oder ist danksagen
eine Zusammensetzung? Bei Gruppe groß und getrennt, bei
Zusammensetzung klein und zusammen ...
Wer will einem weismachen, daß flöten gehen dasselbe meint wie
flötengehen? Gibt es eigentlich nicht ausschheßlich
spazierengehen? Und ist strenggenomrnen nicht wirklich etwas
anderes als das jetzt verordnete streng genommen? Kurz: Wo bleibt die
versprochene inhaltliche Vereinfachung?
Es liegt doch eher inhaltliche um nicht zu sagen: bedeutungswidrige Irreführung vor. Überdies hat durch die geradezu exzessiv aufgenötigte Getrenntschreibung (fertig stellen, Besorgnis erregend statt richtigerweise fertigstellen, besorgniserregend) die in den letzen beiden Jahrhunderten seit der Goethezeit! aus guten und scharfsinnigen Gründen entwickelte Zusammenschreibung einen herben Rückschlag erlitten. Hier kutschiert doch die Neuregelung zurück in 18. statt voraus ins 21. Jahrhundert!
2.3. Werfen wir noch einen kritischen Blick auf die verordnete Groß- und Kleinschreibung (AR §§ 53 66). Wenn ich mir Neuschreibformen wie Acht geben, in die achtzig kommen, jemandem Leid tun (sic!), zu Mute sein usw. anschaue, frage ich mich nach den grammatischen Kenntnissen der Reformer. Nicht von ungefähr können alle zehn deutschen Fundamental-Wortarten nicht nur substantiviert, sie können auch desubstantiviert werden, weil man/frau nämlich nur auf diese Weise die sich kontextuell veränderbare grammatische Zugehörigkeit auch orthographisch signalisieren kann: achtgeben für Aufmerksanikeit walten lassen ist längst verbalisiert worden, so daß die Großschreibung ein grammatisches Unding ist. Hingegen ist in die Achtzig kommen schon aus Gründen der Achtung vor der Menschenwürde eines älteren Menschen großzuschreiben. Grammatisch liegt ohnehin eine Substantivierung eines Zahlwortes vor, und was für die Zahl Achtzig gilt, sollte erst recht für einen Menschen gelten. Von diesen Überlegungen her sollte der Verbcharakter von leid tun und der Adjektivcharakter von zumute sein ebenfalls einsichtig sein.
Wer sich dann das von der Neuschreibung geforderte Nebeneinander von heute Mittag Dienstagabend, um viertel fünf um Viertel vor fünf, grau in grau, Gerät in Grau betrachtet, fragt sich, wo denn der versprochene zweite Grundsatz einheitliches Konzept geblieben ist. Sie sehen, verehrte Leser: Der Gründe sind viele, warum man insgesamt aus Liebe zur deutschen Sprache bei der traditionellen Rechtschreibung bleiben sollte. Dies gilt erst recht für die Sprachnachrichten des Vereins Deutsche Sprache.
Quelle: Sprachnachrichten [des Vereins
Deustche Sprache www.VDS-ev.de] Heft 4 Seite
15. 2003-12.
(Ich habe einige offensichtliche Tippfehler berichtigt! ML 2003-12-28)