Auszüge aus
„Der Stacheldraht“, Für Freiheit, Recht und Demokratie.
Mitteilungsblatt der Verbände der Opfer stalinistischer und Kommunistischer Gewaltherrschaft.
Heft 2001-3 Ende April 2001

 

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Täter stilisieren sich zu Opfern
Das Bürgerkomitee Leipzig zur aktuellen Debatte um die Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen Diktatur

Frank Liehr hat sich „nichts vorzuwerfen“. Oliver Nix hofft auf „das Recht eines jungen Menschen, Fehler machen zu dürfen“. Horst Mempel leidet darunter, leben zu müssen „wie ein Beschmutzter“ – in der aktuellen Debatte um Redakteure des MDR, die als einstige Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt wurden, ist eine Tendenz?besonders erschreckend: Täter stilisieren sich zu Opfern.

Rückendeckung bekommen sie dabei von namhaften Persönlichkeiten mit mehr oder weniger Sachverstand, die unbeschwert mit den Begriffen „Opfer“ und „Betroffene“ jonglieren. Sie verwischen dabei die Grenzen zwischen denen, die im DDR-Unrechtsstaat Schaden erlitten und denen, die Schaden anrichteten. Friedrich Schorlemmer maßte sich jüngst sogar an, den Opfern „Unersättlichkeit“ zu unterstellen und glaubt, zwischen vermeintlichen und wirklichen Opfern unterscheiden zu müssen. Er verunglimpft den eingeschlagenen, für beide Seiten oft schmerzlichen Weg, sich mit der zweiten deutschen Diktatur offen auseinanderzusetzen, als „von Anfang an neurotisch“.

Grenze zwischen Diktatur und Demokratie wird verwischt
Noch sind es lediglich Einzelpersonen, die eine Generalamnestie für die Täter von einst fordern, den Opfern Unersättlichkeit vorwerfen und einen endgültigen Schlußstrich ziehen wollen. Doch viel zu oft bleiben diese Stimmen unwidersprochen und gewinnen eben deshalb an Gewicht. Wer sie hört – ohne die Möglichkeit, sie mit Gegenargumenten aufzuwiegen –, der läuft Gefahr, die Handlanger der SED-Diktatur als Gefangene eines Systems zu verstehen, in dem Widerspruch unweigerlich im Martyrium endete. Unumstritten ist, daß für menschliches Fehlverhalten in einer Diktatur mildernde Umstände gelten, doch darf es nicht zum Normalfall erklärt werden. Gerade das entwickelt sich momentan jedoch zum Trend – einem Trend, der jegliches Moralverständnis unterläuft. Denn die Lehre, die nachfolgende Generationen aus der leichtfertigen Absolution für die Täter ziehen können, lautet: Zivilcourage in Diktaturen lohnt sich nicht; Willfährigkeit dagegen ist von persönlichem Nutzen und wird auch im nachhinein nicht geahndet.

Die Gefahr der Verharmlosung und Mystifizierung des Unrechts der SED und ihrer Helfer ist vor dem Hintergrund der neuen Diskussion um ehemalige Stasi-Zuträger beim MDR heute [2001-04] größer denn je. Die Grenzen zwischen Diktatur und Demokratie werden in dieser Auseinandersetzung bewußt verwischt. Das Bürgerkomitee Leipzig hält es daher für geboten, den erschreckenden Thesen und Unworten dieser Debatte nachdrücklich zu widersprechen:

„Ostbiographien“ müßten endlich anerkannt werden, fordert der Theologe Friedrich Schorlemmer seit Wochen unbeirrt. Er erteilt damit dem einen Prozent der DDR-Bürger die Absolution, die dem Werben der Stasi nachgaben – angeblich nicht aus Machthunger, Geldgier oder Charakterlosigkeit, sondern immer aus Angst vor Repressionen. Den Mut einer ungleich größeren Zahl von Menschen aber, die im Bewußtsein aller möglichen Konsequenzen eine Zusammenarbeit mit Mielkes Geheimdienst ablehnten, würdigt er damit herab. Zu den Ostbiographien gehören auch all die, die sich unter der 40jährigen Diktatur wenigstens ein Mindestmaß an Anstand, Zivilcourage und Mitmenschlichkeit bewahrten. Dazu gehören weit über eine Million Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mußten, weil sie das System nicht ertrugen. Dazu gehören die Toten an der Mauer und am Stacheldraht und die Tausenden politischen Gefangenen. Eines muß im Umgang mit dieser Vergangenheit immer deutlich bleiben: Die Täter waren in der Minderzahl.

„Jugendsünde“ ist ein Begriff, der sich besonders seit der Enttarnung des MDR-Moderators Oliver Nix als IM „Roul“ oder des Intendanten des Leipziger Theaters der „Jungen Welt“, Thilo Esche, als IM der K1 großer Beliebtheit erfreut. MDR-Intendant Udo Reiter selbst hatte ihn im Dezember vergangenen Jahres in die Debatte eingebracht, seither ist er oft aufgegriffen worden. Fehltritte müsse man einem jungen Menschen zugestehen, so argumentieren die moralischen Anwälte der Täter, egal welcher Art und welcher Tragweite sie sind. Gemeinhin wird ein junger Mensch jedoch mit 18 Jahren in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen und somit für mündig erklärt. Wenn er selbst dann noch nicht in der Lage ist, diktatorische von demokratischen Strukturen zu unterscheiden, sollte ernsthaft überdacht werden, ob er bereits im genannten Alter mit seiner Wählerstimme über die künftige Regierung seines Landes entscheiden darf. Und wie ist die These von der „Jugendsünde“ mit dem Schicksal der vielen jungen Menschen zu vereinbaren, die ihre laut gestellten Fragen oder ihr mutiges Beharren auf einer eigenen, nicht systemkonformen Meinung mit Haft oder bis heute fortwirkender Zerstörung ihrer Biographie bezahlen mußten?

Stasi-Generalität meldet sich zu Wort
„Hexenjagd“ nennen 23 ehemals hochrangige MfS-Offiziere die Berichterstattung und Diskussion über IM beim Mitteldeutschen Rundfunk in einer gemeinsamen Erklärung. Die Zeitung „Junge Welt“ veröffentlichte sie am 19. März 2001. „In zehn Jahren sind wir wieder da“, hatte die Stasi 1989 den Revolutionären angekündigt, sie scheint ihre Drohung nun wahr machen zu wollen. Die Inoffiziellen Mitarbeiter „erfüllten Verfassungspflichten und trugen zur Einhaltung der Gesetze bei“, bescheinigen die Generäle und Oberste a. D. ihren einstigen Informationsquellen und wissen sich dabei „in Übereinstimmung mit vielen Mitarbeitern aller Bereiche“. Sie offenbaren mit dieser Erklärung zweierlei: Zum einen, daß die alten Strukturen, die das verschworene Grüppchen von MfS-Hauptamtlichen und Inoffiziellen eng aneinander banden, bis heute funktionieren. Zum anderen, daß auch der Ehrenkodex, nach dem die Staatssicherheit ihre konspirative Arbeit als Dienst und alle Bemühungen um offenen Dialog als Verrat am Sozialismus verstand, uneingeschränkt gilt.

Vor Hexenjagden hatten die Führungskader des MfS und andere Sympathisanten des DDR-Regimes schon 1989/90 gewarnt. Nichts dergleichen ist geschehen. Die Aufarbeitung in der Bundesrepublik zeichnet sich ganz im Gegenteil durch einen sehr verantwortungsbewußten Umgang mit den Hinterlassenschaften der Diktatur aus. Die Friedliche Revolution hat die Eliten des alten Systems gewaltlos entmachtet – eine Generalamnestie wollte sie ihnen damit allerdings nicht gewähren.

Aufklärer in der Judasrolle
All diese Äußerungen sind Wasser auf die Mühlen der Täter, die nun, nach ihrer Enttarnung, die Opferrolle für sich beanspruchen. Doch die Debatte beginnt, noch weit groteskere Züge anzunehmen.

„Judas“ müssen sich neuerdings diejenigen beschimpfen lassen, die Aufklärung betreiben und das verschobene Täter-Opfer-Bild wieder zurechtrücken wollen. Journalisten, die die Kontrollfunktion der Medien ernstnehmen und über die Stasi-Vergangenheit ihrer Kollegen beim MDR berichten, sehen sich harschen Angriffen ausgesetzt, und das nicht nur von der kritisierten Sendeanstalt. Erst jüngst bedachte der Pressesprecher der Leipziger Oper, Michael Ernst, einen Redakteur der Tageszeitung „Die Welt“ mit obengenanntem Titel. So werden die Verhältnisse vollends verkehrt, und wer wahrheitsgetreu berichten will, steht plötzlich als „Brunnenvergifter“ da – wie es der Vorsitzende des Personalausschusses des MDR, Kirchenrat Horst Gleim, formulierte.

Der Pressesprecher einer der wichtigsten Leipziger Kultureinrichtungen verunglimpft die Bundesrepublik Deutschland als einen Staat, der „auf Wehrmachts- und Gestapo-Mitglieder vertraute, auf SA- und SS- wie auf NSDAP-Mitglieder gegründet ist“. Gerade weil nach 1945 in Ost wie in West die Aufarbeitung der Diktaturen nur unzureichend gelang, müssen wir heute aus diesen Fehlern lernen und den eingeschlagenen Weg der offenen Akten und der ehrlichen Auseinandersetzung weitergehen. Daß die Bundesrepublik sich auf die Täter des Dritten Reiches gründete, kann allerdings nicht unwidersprochen bleiben. Mit dem Grundgesetz wurde die Basis für eine Demokratie in Deutschland geschaffen, im Osten dagegen wurde eine neue, 40 Jahre bestehende Diktatur aufgebaut.

Demokratie braucht Aufarbeitung statt Schlußstrich
Förderlich für die offene und öffentliche Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit sind die beispielhaft genannten Äußerungen nicht. Im Gegenteil: Sie liefern denjenigen Kräften in der Gesellschaft Argumente, die gerade dieser Tage auf eine Beschneidung des Stasi-Unterlagengesetzes hinarbeiten – eines Regelwerks, das zu Recht als eine der wichtigsten Errungenschaften der Friedlichen Revolution gilt und um das uns unsere östlichen Nachbarn beneiden.

Schon bei der Einführung des Stasi-Unterlagengesetzes sahen sich die Verfechter der Aufarbeitung teils heftigen Angriffen ausgesetzt. Sie haben sich davon nicht beirren lassen. Zwölf Jahre nach der Friedlichen Revolution ist noch immer intensives Engagement jedes einzelnen nötig, damit die Stimmen der Schlußstrichbefürworter nicht gefährlich laut werden.

Es wird der Gesellschaft nicht erspart bleiben, sich mit den unangenehmen Wahrheiten der DDR-Geschichte auseinanderzusetzen. Eine Demokratie lebt vom offenen Austausch über brennende, auch schmerzende Fragen. Die historische Erfahrung lehrt uns, daß kein Volk sich der Aufarbeitung gesellschaftlicher Probleme entziehen kann. Sofern es sie nicht aktiv angeht, treten sie in absehbarer Zeit von selbst auf den Plan. Wohin eine solche Verzögerungstaktik führt, zeigt die Debatte um den MDR derzeit beispielhaft.
(leicht gekürzt – bereits im Heft, nicht von mir! ML 2004-01-04)

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Bundespräsident besuchte Bürgerbüro
(Bb/ST) Am 27. März stattete Johannes Rau dem Berliner Bürgerbüro einen Besuch ab. Er informierte sich über die Beratungsarbeit und wurde von Vertretern des Vereins auch auf die unzureichenden Entschädigungen nach den derzeit geltenden Reha-Gesetzen angesprochen. Der Bundespräsident betonte, es sei wichtig, an Leistungen und Leiden der in der DDR politisch Verfolgten zu erinnern und dies auch gegenüber der Regierung auszudrücken. Rau nahm den in der Runde geäußerten Gedanken, den 17. Juni als „Tag der Zivilcourage“ zu begehen, mit Interesse auf.

Bärbel Bohley, die Vorsitzende der 1996 von DDR-Bürgerrechtlern und Politikern aller demokratischen Parteien gegründeten Hilfseinrichtung für die Opfer der SED-Diktatur, kritisierte das fehlende Gleichgewicht in der Erinnerungskultur bezüglich der zwei deutschen Diktaturen. Die in der DDR politisch Verfolgten machten heute die Erfahrung, Opfer zweiter Klasse zu sein.

Ralf Hirsch, Konrad Weiß, Hildigund Neubert und Günter Nooke vom Bürgerbüro baten den Bundespräsidenten, sich für den in den Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf einzusetzen, der eine monatliche Ehrenpension für die Opfer der SED-Diktatur vorsieht. Dies sei angesichts der bis Juli zu erwartenden Rentenerhöhung bzw. -nachzahlung in teils sechsstelliger Höhe für DDR-Funktionäre unabdingbar für Gerechtigkeit und Würdigung des demokratischen Engagements der ehemals Verfolgten. Weiterhin sollten die Antragsfristen für Rehabilitierungen über den 31. Dezember 2001 hinaus verlängert werden.

 

Teilen und herrschen
(ST) Das Forum zur Aufklärung und Erneuerung e.V und HELP e.V haben sich in einer Erklärung scharf gegen die Finanzierungsmodalitäten für die Gedenkstätte Bernauer Straße in Berlin gewandt. Ab 2002 soll sie mit Geldern aus dem Mauergrundstückfonds der Bundesregierung ausgestattet werden. Die „den Zwangsenteigneten durch Gesetzgebung abgepreßten Rückkauferträge“ an die Gedenkstätte umzuleiten, sei zynisch angesichts des fortbestehenden DDR-Unrechts gegenüber den Grundstückseigentümern. Die Unterzeichner fordern eine bedingungslose Rückgabe der zwangsenteigneten Grundstücke an der Mauer und innerdeutschen Grenze. Dazu gebe es keine Alternative. Der Träger der Mauergedenkstätte solle sich nicht „über den Fortbestand von DDR-Zwangsenteignungen korrumpieren“ lassen.


Roß und Reiter genannt
(sk./ST) Die vom Heimatmuseum Berlin-Köpenick gestaltete Ausstellung „Das Ministerium für Staatssicherheit in Köpenick – Auftrag, Aufgaben, Strukturen“ kann jetzt von Schulen, Bibliotheken und anderen öffentlichen Einrichtungen ausgeliehen werden. Die Schau war vor zwei Jahren im Rathaus gezeigt worden und hatte für großes Aufsehen gesorgt. Auf zahlreichen Originaldokumenten sind unter anderem Auftraggeber, Adressen und Namen von Spitzeln der DDR-Staatssicherheit im Bezirk vermerkt. Auskünfte erteilt das Heimatmuseum unter der Telefonnummer (0 30) 65 84 33 51.


Anfrage an Sender Jerewan:
Warum gibt es bei uns nur eine Partei? Antwort.Genügt Ihnen denn nicht die eine?