Kulturpolitische Korrespondenz 1081/1082 S. 8 (1999-07-10)

Erinnerung und Zukunft
Aus Otto Schilys Rede vom 29. Mai 1999 im Berliner Dom zur Festveranstaltung des "Bundes der Vertriebenen" (BdV) zum "Tag der deutschen Heimatvertriebenen".

Die gewiß nicht immer einfache Eingliederung der Heimatvertriebenen in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland gehört zu den großen und bewundernswerten Leistungen, für die wir zuallererst den Vertriebenen selbst Dank und Anerkennung schulden. Die Vertriebenen haben in sehr verdienstvoller Weise am Aufbau der Demokratie, der Wiederbelebung einer freiheitlichen Kultur und der sozialen Marktwirtschaft tatkräftig und erfolgreich mitgewirkt. Bemerkenswert ist der Anteil der Vertriebenen an der Entwicklung moderner Industrieunternehmen in vormals strukturschwachen Regionen. Dank des Fleißes und des Unternehmergeistes von Vertriebenen entstanden in manchen Bundesländern ganz neue Städte und Siedlungen. Entgegen manchem Vorurteil haben sich die Heimatvertriebenen in ihrer übergroßen Mehrheit auch an der Aussöhnung unter den europäischen Völkern aktiv beteiligt und tun dies auch heute noch. Ihr leidvolles Schicksal haben sie nicht als Hindernis, sondern – im Gegenteil – als Auftrag verstanden, sich für die europäische Einigung und die Herstellung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen den europäischen Staaten einzusetzen. Dazu steht nicht im Widerspruch, daß die Vertriebenen die Erinnerung an die massenhafte Vertreibung am Ende des zweiten Weltkrieges wachhalten. Die politische Linke hat in der Vergangenheit, das läßt sich leider nicht bestreiten, zeitweise über die Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache Leid, das den Vertriebenen zugefügt wurde, hinweggesehen, sei es aus Desinteresse, sei es aus Ängstlichkeit vor dem Vorwurf, als Revanchist gescholten zu werden, oder sei es in dem Irrglauben, durch Verschweigen und Verdrängen eher den Weg zu einem Ausgleich mit unseren Nachbarn im Osten zu erreichen. Dieses Verhalten war Ausdruck der Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit. Inzwischen wissen wir, daß wir nur dann, wenn wir den Mut zu einer klaren Sprache aufbringen und der Wahrheit ins Gesicht sehen, die Grundlage für ein gutes und friedliches Zusammenleben finden können.