POTSDAMER NEUESTE NACHRICHTEN 2001-06-23
Rußland
Legende am Ende

Rußlands Bürger werden zum 60. Jahrestag des deutschen Überfalls erstmals mit Stalins Lügen konfrontiert 
von Elke Windisch
Hunderte von Schülern der oberen Klassen waren in der Nacht zum Donnerstag auf Moskaus Straßen unterwegs, um Punkt zwei am Grabmal des unbekannten Soldaten im Alexandergarten vor der Kremlmauer Blumen niederzulegen. Zu eben jener Stunde begann vor genau 60 Jahren der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion. Bilder aus dem "Großen Vaterländischen Krieg", wie der Zweite Weltkrieg in Rußland heißt, machen momentan das Rennen auf allen hiesigen TV-Kanälen. Ehemalige Frontkämpfer legen Orden und Ehrenzeichen an, wenn sie auf die Straße gehen, ein "Zug der Erinnerung" mit dreihundert Veteranen startete letzte Woche vom Moskauer Weißrussischen Bahnhof Richtung Westen. Von dort rollten im Sommer 1941
auch die Züge mit den Soldaten an die Front.
Heute wie damals dröhnt aus den Bahnhofslautsprechern eine Melodie, die den einstigen Frontkämpfern noch immer als Lied aller Lieder gilt: der "Heilige Krieg" von Alexander Alexandrow, dem Autor der umstrittenen alten und neuen Nationalhymne. Kritische Historiker bestreiten seit langem die offizielle Version, wonach Alexandrow das Lied unmittelbar nach Kriegsbeginn schrieb. Sie meinen, Stalin hätte es schon im Frühjahr 1941 in Auftrag gegeben: Mit der wuchtigen Melodie wollte er die Rote Armee in den Kampf schicken, um Europa "vom Joch des Imperialismus zu befreien". Hitler sei nur schneller gewesen.
Eine These, die zu Jahresbeginn auch der Dokumentarist Jewgenij Kisseljow anhand der angeblich auf Angriff ausgerichteten Positionierung der unmittelbar an der Grenze zusammengezogenen sowjetischen Einheiten beweisen wollte. Kisseljows heftig angegriffener Film ist Teil einer landesweiten Diskussion, wie sie bisher noch nie stattfand. Niemand wolle verharmlosen, keiner die 20 Millionen Opfer vergessen, schrieb die "Iswestija". Dennoch sei die Zeit reif, "Licht in das Dunkel der Verstrickung von Wahrheit und Lüge zu bringen." Einige, von der Perestrojka zwar bereits angekratzte, aber nie konsequent demontierte Legenden sacken in der "Iswestija" ruhmlos in sich zusammen. So wurden Einwohner der besetzten Gebiete zitiert, wie die KP-Bonzen beim Nahen der Front ihre Familien in Sicherheit brachten, das Volk aber zum Bleiben zwangen und nach dem Krieg der "Kollaboration mit dem Feind" beschuldigten.
Die Öffentlichkeit müsse sich endlich dazu aufraffen, Stalins Selbstmordbefehle für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter als Kannibalismus und den Gegner als Mensch zu sehen, forderte die "Iswestija" und ging mit gutem Beispiel voran: Sie druckte bisher unveröffentlichte Fotos aus dem eigenen Archiv – darunter auch Bilder, die bei toten und gefangenen deutschen Soldaten gefunden wurden. Die Fotos zeigen einen für die russische Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Krieg: Brot und Suppe verteilende Wehrmachtssoldaten oder – bislang ein Tabu – Bewohner des 1939 von Moskau annektierten Ost-Polens, der "Westukraine", die den Feind als Befreier mit Brot und Salz begrüßen. Die Bilder sind Teil einer gerade eröffneten Ausstellung mit erst kürzlich freigegebenen, teilweise sensationellen Dokumenten. Darunter auch Tagebücher von Sowjetsoldaten, die trotz drohender standrechtlicher Erschießung ihre Darstellung der Ereignisse heimlich zu Papier brachten.

Diese Meldung läßt mir einen weiteren Stein von der Seele rollen.
Mein Vater war als Brünner, in Prag tätiger junger Architekt, im Herbst 1940 nach Pardubitz in eine Ostpreußische Pionierkompanie eingezogen (3.mot.PiK der 11. ID Allenstein) und wurde im Winter 1940/41 in die "Kalte Heimat" Ostpreußen verlegt. Auch er trat am 22. Juni in vorderster Front den Marsch nach Nordosten an – und nicht nur von ihm, sondern auch von Lehrern, die das gleiche erlebt hatten, weiß ich, daß sie in die unfertige Angriffsaufstellung der Russen einfielen – und nicht in Verteidigungslinien und nicht in die "ahnungslose, ach so friedliebende Sowjetunion". Inzwischen haben Autoren aus West und Ost den gewaltigen Aufmarsch der Sowjets dargestellt, und nun bestätigen nicht nur Exilrussen, sondern auch in der Heimat Rußland wirkende Journalisten und Historiker diese These. Die Wahrheit bricht sich Bahn. Es wird nur auch Zeit, daß die deutschen Politiker davon Kenntnis nehmen und danach handeln! ML 2001-06-23