Zugbrücke der Vögel

Heinz Sielmann sammelte 500 000 Mark für die Vogelwarte Rossitten
Von Kurt Geisler

«Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, daß man sie eigentlich ebens o gut als Spanien und Italien gesehen haben muß, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll.» Wilhelm von Humboldt (1767-1835)

Rybachy - Der schwarz-weiße Austernfischer mit dem langen roten Schnabel wird im allgemeinen knapp sieben Jahre alt und gehört damit zu den Senioren im Vogelreich. Doch manchmal schlägt die Natur Purzelbäume. Ein Austernfischer, der einen Ring der Vogelwarte Rybachy (bis 1945 Rossitten auf der Kurischen Nehrung) trug, hatte mit 43 Jahren wahres Greisenalter erreicht. Nur ein kurzes Leben ist dem Wintergoldhähnchen beschieden. Der winzige Vogel mit der gelben «Kopfkrone» wird nach der Statistik nicht einmal ein Jahr alt. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel – ein beringtes Wintergoldhähnchen ist fünf Jahre alt geworden.

Diese Erkenntnisse gehören zu den unzähligen Daten, die in der ältesten Vogelwarte der Welt zusammengetragen wurden. Jetzt feierte die Einrichtung mit einer dreitägigen Tagung ihren 100. Geburtstag: 50 Ornithologen aus acht Ländern waren im früheren Ostpreußen zusammengekommen. Sie erfuhren, daß in Rybachy von 1956 bis zum Jahr 2000 insgesamt 2 253 393 durchziehende Vögel von 196 verschiedenen Arten gefangen und beringt wurden. Am meisten gingen den Vogelkundlern, die zur Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg gehören, Buchfinken (etwa 683 000) und Wintergoldhähnchen (rund 299 000) ins Netz.

Allein an einem einzigen Tag sind in den vergangenen Jahren 9 000 Vögel beringt und damit mit einer «persönlichen» Nummer versehen worden. Gewöhnlich sind es in der Zugsaison im Frühjahr und Herbst 2 000 bis 3 000 Vögel am Tag. Für den Durchzug der riesigen Schwärme gibt es eine einfache Erklärung – die kleinen und großen «Flieger» meiden nach Möglichkeit Wasserflächen wie in diesem Fall Ostsee und Kurisches Haff und halten sich lieber über Landgebieten auf. So gilt die Kurische Nehrung seit langem als «Brücke des Vogelzugs».

Dort, wo nach Ansicht von Experten ein «geschichtsträchtiger Boden der Feldornithologie» liegt, hat man sensationelle Beobachtungen gemacht. Vor einiger Zeit wurde ein Blauschwanz eingefangen, dessen Heimat das subpolare Rußland und Sibirien sind. Normalerweise weichen die Vögel im Winter nach Indien aus. Offensichtlich ist der Blauschwanz im wahrsten Sinne des Wortes von starken Winden auf die Kurische Nehrung verweht worden. Gleiches gilt auch für den «Sibirier» Bartlaubsänger, den ebenfalls heftige Stürme vom normalen Kurs abdriften ließen.

Imponierend sind die Anlagen der Außenstation Fringilla (wissenschaftlicher Name des Buchfinks) zwölf Kilometer südlich von Rybachy. Hier haben russische Wissenschaftler eine der weltweit größten Anlagen zum Einfangen von Zugvögeln aufgebaut. Es sind 18 Meter hohe und 70 Meter lange Nylon-Fischernetze, deren Öffnung 40 Meter breit ist. Hinter diesem «Eingang» wird die Netzanlage immer schmaler und endet in kleinen Kammern, in denen Buchfink, Drossel, Star und Rotkehlchen vorsichtig eingefangen werden. In einer Blockhütte beringen Ornithologen die Vögel, messen die Flügellänge und bugsieren schließlich behutsam Zeisig und Fitis kopfüber in eine Wiegetüte, die wie eine Speiseeistüte aussieht. Zwei Beispiele: Ein Goldhähnchen bringt fünf Gramm auf die Waage, eine Blaumeise elf Gramm.

Einer, der während der Tagung von den russischen Ornithologen besonders herzlich begrüßt wurde, war der international bekannte Tierfilmer Heinz Sielmann aus München. Er hat durch einen Betrag von mehr als 500 000 Mark aus seiner gleichnamigen Stiftung die Existenz der Vogelwarte gesichert. Es war Hilfe im letzten Augenblick – das Dach undicht, Schäden in den Räumen, marode Treppen und fehlende Geräte lautete die betrübliche Bestandsaufnahme. Und einige Zeit konnte Rußland die Fachleute von Rybachy nicht einmal bezahlen.

Sielmann, der in Königsberg aufgewachsen ist, der als Schüler in der Umgebung alles untersuchte, was «kreuchte und fleuchte», der wegen seines Interesses an der Vogelwelt damals sogar in der Station Rossitten beim Beringen helfen durfte, meinte zur Berliner Morgenpost: «Es ist für mich beglückend und bewegend, mit Hilfe vieler Spender aus Deutschland eine wichtige wissenschaftliche Forschungsanlage Europas retten zu können.» Als einen «großen Freund und Förderer» bezeichnete Dr. Casimir Bolschakov, der Stationsleiter, Tierfilmer Heinz Sielmann. «Er hat das Unmögliche möglich gemacht.»

Abseits von Rossitten, wo es einmal einen deutschen Friedhof gab, steht inmitten der Wildnis ein einziges, von den Russen gepflegtes Grab. Dort liegt der deutsche Pfarrer Johannes Thienemann (1863–1938), der vor 100 Jahren die Vogelwarte Rossitten gründete.

Quelle: Berliner Morgenpost, 24.06.2001 Mitgeteilt über den Nachrichtenring Ostpreußen.