WirtschaftsWoche NR. 37 Seite 54: 2001-09-06
Autor: Hans-Jakob Ginsburg
MINDERHEITEN
Ein Stück Dritte Welt
Nach der Osterweiterung bahnt sich eine große Westwanderung der schwierigen und diskriminierten Volksgruppe der Roma an.
Die kanadische Botschaft hatte den Eingang verriegelt. Davor standen Menschen Schlange,
hunderte von Metern. Abends zuvor hatte ein tschechischer Fernsehsender gemeldet, das
Einwanderungsland Kanada gewähre jedem Roma aus Tschechien Asyl. An der Nachricht war
nichts dran, doch das Echo bewies, wie sehnsüchtig viele Angehörige der Minderheit auf
eine Gelegenheit warten, ihr ungastliches Geburtsland verlassen zu können. Die Reaktion
der tschechischen Mehrheitsbevölkerung war gespalten. Die Nachdenklichen waren peinlich
berührt, weil die Reaktion der Roma wieder einmal ein ungünstiges Licht auf ihr Land
warf wie nach der Affäre um den gescheiterten Mauerbau von Brüx, wo der
Bürgermeister vor ein paar Jahren die Roma-Plattenbausiedlung am Stadtrand abriegelte und
nur wegen des internationalen Aufschreis sein Projekt stoppte. (War das nicht in
Außig/Usti nad Labe? ML) Tschechen wie dieser Politiker meinen, nichts wäre besser für
ihr Land, als wenn die Schwarzen, die Zigeuner, endlich das Weite suchen würden.
Der Wunsch könnte sich in einem Jahrzehnt erfüllen. Wenn sich nach einer Übergangsfrist
die Bürger der zukünftigen EU-Mitgliedsländer frei in Westeuropa niederlassen dürfen,
werden vermutlich hunderttausende Roma in Deutschland ihr Glück versuchen. Nach fast
allen sozialen und wirtschaftlichen Kriterien sind das exakt die Menschen, über die sich
keine Einwanderungskommission der Welt freut.
Schwer vorstellbar, wie deutsche Politiker sich dagegen stellen sollen. Auschwitz ist
weltweit mit Abstand der häufigste Sterbeort von Roma und Sinti im 20. Jahrhundert. Die
Nazis haben um die 500.000 sogenannte Zigeuner ermordet, weshalb die Nachfahren der Opfer
das eigentlich harmlose Wort nicht mehr hören wollen und auf der Bezeichnung Sinti und
Roma bestehen. Zigeuner klingt doch wie herumziehender Gauner, sagt Romani Rose, der
Vorsitzende des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma. Er selbst ist ein Sinto
so nennt sich der seit Jahrhunderten in Süddeutschland und Nordfrankreich lebende Zweig
des Volkes. Das Wort Roma oder Rom bezeichnet im engeren Sinn osteuropäische Zigeuner, im
weiteren Sinn die gesamte im Mittelalter aus Nordindien nach Europa emigrierte ethnische
Gruppe.
Die annähernd sechs Millionen Roma Schätzungen über ihre Anzahl gehen weit
auseinander stellen fast überall in Europa ein Stück Dritte Welt dar, mit immer
weniger Lichtblicken, je weiter man nach Osten schaut. Fast alle osteuropäischen Roma
sind sehr arm, der durchschnittliche Bildungsstand ist katastrophal. Die durchschnittliche
Lebenserwartung der Roma ist viel niedriger als die der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung,
der Anteil an Sozialhilfeempfängern und an Straffälligen viel höher. Zwischen ihnen und
den Tschechen, Slowaken, Ungarn oder Albanern scheint vielerorts blanker Haß zu
herrschen.
Dabei sind die Roma dieser Länder die großen Verlierer des vergangenen Jahrzehnts in
Osteuropa. Zuvor hatten die kommunistischen Regime für eine oberflächliche Integration
gesorgt, die Männer in Fabriken, die Kinder in Schulen und die Großfamilien in zumeist
isolierte Plattenbausiedlungen gesteckt. Fast nichts davon hat den Wandel zur
Marktwirtschaft gut überstanden. In Tschechien und in Ungarn sind über 70 Prozent der
Roma arbeitslos. Im tschechischen Industriezentrum um die Stadt Ostrau kommen Roma-Kinder
mit einer 23-mal höheren Wahrscheinlichkeit in eine Sonderschule für Lernbehinderte als
weiße, also tschechische, Kinder. In Ungarn haben einzelne Schulleiter ihren
Roma-Schülern das Betreten der schuleigenen Turnhalle verboten.
Die meisten Osteuropäer empfinden nicht die Diskriminierung der Minderheit als Problem,
sondern ihre Existenz. Zigeunerfeindliche Sprüche sind in Bukarest und Budapest, Prag und
Preßburg nichts Besonderes. Tschechische oder ungarische Neonazigruppen lassen es nicht
bei Sprüchen bewenden: Physische Gewalt gegen Roma ist mindestens so allgegenwärtig wie
die viel zitierte Kleinkriminalität der Minderheit: Totschläger gegen Hühnerdiebe.
Im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen haben west- und osteuropäische Politiker das
Problem erkannt. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen hat der slowakischen Regierung
Anfang dieses Jahres zehn Millionen Euro für spezifische Entwicklungsprojekte im
Roma-Sektor versprochen. Das traditionelle Umherziehen haben fast alle slowakischen Roma
längst aufgegeben; dafür leben mindestens 25 Prozent von ihnen in abgeschotteten
Wohnvierteln: vom Wohnwagen in den Ghetto-Slum.
Verheugen weiß auch, daß das Roma-Problem nicht gelöst ist, wenn die Freizügigkeit
für Slowaken, Tschechen oder Ungarn innerhalb der EU Wirklichkeit wird: Wir können keine
Lösung eines jahrhundertealten Problems in ein paar Jahren erwarten , sagt er. Immerhin
gibt es in Rumänien, dem Land mit den weitaus meisten Roma in Europa, inzwischen ein paar
Hundert Angehörige der Minderheit, die an Universitäten studieren. In Tschechien
versucht die Regierung aus eigener Kraft, Missstände wie den grassierenden
Analphabetismus der Roma-Kinder zu beseitigen; es gibt sogar Förderprogramme für Roma,
die Unternehmen gründen. Roma mit Hauptschulabschluß oder gar Abitur sind aber in
Tschechien wie überall in Osteuropa noch eine große Ausnahme. Schnell wird sich das
nicht ändern: Die ersten Resultate werden wir in einem Jahrzehnt zu sehen bekommen , sagt
der Prager Außenminister Jan Kavan.
So lange kann Europa nicht warten. Westeuropäische Roma fürchten schon ein
Wiederaufleben der alten Ressentiments durch die kommende Zuwanderung aus dem Osten. Die
Interessen ihrer Brüder jenseits der heutigen EU-Ostgrenze zu vertreten, fällt ihnen
schwer. Und die Roma dort scheinen orientierungslos zu sein: Das jahrhundertealte System
der Clan- und Stammesführer ist von Nazis und Kommunisten zerstört worden. Einen Martin
Luther King der Roma hat es nie gegeben und wird es wahrscheinlich auch nie geben ,
bedauert der britische Economist .
Die jahrhundertelange Entfremdung der Roma von Staat und Mehrheitsgesellschaft hat ebenso
wie der Verlust der alten Lebensgrundlagen Viehhandel, Jahrmarktskünste,
Flickschusterei viele Roma-Sippen in ebenso armselige wie konfliktträchtige
Erwerbszweige gedrängt: Kleinkriminalität und professionelle Bettelei.
Geld allein wird das Problem nicht lösen. Als vor gut einem Jahrzehnt ein wildes
Nomadencamp jugoslawischer Roma im alten Düsseldorfer Hafengebiet den Bau des neuen
Landtagsgebäudes am Rhein zu blockieren drohte, begleitete die nordrhein-westfälische
Landesregierung die Abschiebung der illegalen Zuwanderer mit einer Millionenspende zum Bau
einer Neubausiedlung für die Roma am Rand der mazedonischen Hauptstadt Skopje. Dort
allerdings fallen Roma heute fast nur noch als Bettlerinnen mit spindeldürren,
hungerkranken Kleinkindern auf. Im Konflikt zwischen mazedonischen Slawen und Albanern
gelten sie beiden Seiten als bösartige Spießgesellen der Gegenseite. Schon aus Angst vor
ethnischer Säuberung haben die etwas tüchtigeren Angehörigen der Volksgruppe längst
die Muster-Siedlung verlassen. Viele sind wahrscheinlich wieder in Deutschland.