Prag-Raudnitz
Berichterin: A. W.
Es kam Mittwoch, der 9. Mai, der grauenhafteste Tag meines Lebens. Am frühen Nachmittag
dieses Tages wurde meine Wohnung plötzlich von außen geöffnet, ein Mann mit der
Trikolore bedeutete mir, ihm zu folgen. Mitnehmen durfte ich gar nichts. Ich konnte gerade
noch meinen Mantel anziehen, durfte aber im übrigen nicht einmal meine Handtasche, nicht
einmal ein Taschentuch mitnehmen. So ganz mit leeren Händen wurde ich ausgetrieben. Ich
habe meine Wohnung seither nicht mehr wiedergesehen. Auf der Straße wurde ich von
schimpfenden Weibern nach Waffen untersucht, dann in ein Haus getrieben und dort in den
Keller gestoßen. Hinter mir wurde die Kellertür verschlossen. Als sich meine Augen an
das Dunkel gewöhnt hatten, sah ich, daß bereits eine ganze Anzahl anderer Unglücklicher
in den Winkeln hockten. Wir waren überzeugt, daß man uns erschießen werde. Immer wieder
öffnete sich die Tür und neue Delinquenten wurden hereingestoßen. Endlich, nach Verlauf
einer Stunde vielleicht, wurden wir herausgeholt. Die johlende Menge empfing uns mit
Beschimpfungen und Steinwürfen und schon nach wenigen Minuten floß Blut. In der Mitte
der Straße stand ein großer Eimer voll weißer Farbe. Wir mußten uns mit dem Gesicht
gegen die Wand stellen und einer der ärgsten Wüteriche, es war der Hausmeister des
Hauses Nr. 11 aus unserer Straße, malte uns unter dem dröhnenden Gelächter der
Zuschauer ein riesiges Hakenkreuz auf den Rücken. Hierauf wurden wir von einer Anzahl
Rotgardisten empfangen sie trugen alle eine Armbinde mit dem Buchstaben R. G. was
entweder bedeutet Rudá Garda rote Garde, oder Revolucní Garda
Revolutionsgarde ausgesucht brutale Typen, anscheinend zu diesem
besonderen Zweck entlassene Schwerverbrecher, die sich mit Gewehrkolben und Gummiknüppeln
auf uns stürzten und uns zur Arbeit antrieben. Es handelte sich darum, die Barrikaden
abzuräumen, die aus großen, schweren Steinen, dicken Balken, ja ganzen eisernen
Gartentüren und Wagenrädern bestanden. Ich hatte seit 4 Tagen kaum etwas gegessen, fast
gar nicht geschlafen, ich fühlte mich sterbenselend. Außerdem war ich überhaupt an
schwere körperliche Arbeit nicht gewöhnt, es war mir einfach unmöglich, diese schwere
Arbeit zu leisten. Ich wurde daher von den entmenschten Individuen mit Gewehrkolben,
Gummiknüppeln und mit Peitschen fürchterlich geschlagen. Wir waren unseren brüllenden,
schießenden, wahllos und hemmungslos dreinhauenden Peinigern vollkommen ausgeliefert. Es
war ein unvorstellbarer Hexensabbat. Trotz aller Mißhandlungen hielt ich mich mit
übermenschlicher Willensanstrengung aufrecht, denn wehe dem, der fiel. Die Menge johlte
dann jedesmal vor Vergnügen und klatschte in die Hände. Der Gestürzte wurde mit dem
Gewehrkolben wieder auf die Beine gebracht. Wir wurden nicht anders als mit Du
und deutsches Schwein , deutsche Sau , deutsche Hure
angesprochen oder besser gesagt, angebrüllt. Gleich anfangs hatte ich die vielen
Glassplitter bemerkt, die die Straße über und über bedeckten und nun wurde uns
plötzlich befohlen, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und die Arbeit bloßfüßig zu
verrichten. Deshalb hatte man die Straße mit Glassplittern bestreut. Mit fürchterlich
schmerzenden und blutenden Füßen mußten wir weiter arbeiten. Ich hatte mich in einem
unbewachten Augenblicke mit einer blitzschnellen Bewegung meines warmen Mantels entledigt
und diesen über den Zaun eines Vorgärtchens gehängt, da ich an dem warmen Maitage, bei
meiner großen Schwäche und dieser so schweren Arbeit fürchterlich zu schwitzen begann.
Als wir dann weiter getrieben wurden, wurde ich mit Schlägen daran gehindert, mir den
Mantel wieder zu nehmen.
Endlich waren auch die Barrikaden abgeräumt. Wir wurden zusammengetrieben, wir mußten
uns paarweise anstellen, ein großes Hitlerbild lag auf der Erde und ein jeder mußte
darauf treten und darauf spucken. Dann mußten wir niederknien und für die gefallenen
Tschechen beten. Wir durften aber nicht mehr aufstehen, es kam der Befehl: Hände
Hoch und so, in dieser schmachvollen und unmöglichen Stellung, nämlich auf den
Knien und mit erhobenen Armen, mußten wir uns fortbewegen. Der ganze Weg war mit
Glassplittern bestreut. Zu beiden Seiten der Straße bildete die Bevölkerung Spalier,
klatschte in die Hände und brüllte ironisch: Sieg Heil . Viele
fotografierten, andere filmten den traurigen Zug. Unsere Begleiter mit der RG-Armbinde
schienen in einen wahren Rausch von Sadismus geraten zu sein. Sie hieben nun schon ganz
wahllos darauf los. Vor mir, hinter mir, neben mir fielen die Menschen wie Fliegen. Ich
weiß nicht, wieviele von ihnen nicht mehr aufgestanden sind. Schneller, schneller,
schneller brüllten die Aufseher und schlugen und schlugen. Nur einmal hörte ich
einen zum anderen sagen, Du darfst sie nicht auf den Kopf schlagen, sonst sind sie
gleich tot; sie sollen aber noch lange und noch viel leiden.
Nun ist es geradezu unmöglich, in der oben geschilderten Stellung auf den Knieen und mit
erhobenen Armen sich vorwärts zu bewegen. Bald war nichts mehr zu sehen als übereinander
rollende Menschenleiber, ein breiter langer Blutstreifen längs der ganzen Straße, wild
dreinhauende Bestien. Die Schreie der Gequälten vermischten sich mit dem Gebrüll der
Aufseher, dem Jubel der Menge. Jemand begann laut zu beten. Einmal kam ein Ehepaar neben
mir ins Rutschen. Der Mann benutzte einen Augenblick, wo er sich unbeobachtet glaubte, um
von den Knieen aufzuspringen und schnell ein paar Schritte zu machen. Ein fürchterlicher
Hieb belehrte ihn eines Besseren. Er brach zusammen, die Frau aber mußte weiterrutschen.
Sie hat nie erfahren, ob er lebend davon gekommen ist. Ein alter Mann bat flehentlich, man
möchte mit seinen 83 Jahren Erbarmen haben. Auch ihn streckte ein Hieb nieder, von einer
gräßlichen Beschimpfung begleitet.
Beim Anstellen, am Anfang, war uns gnädig erlaubt worden, unsere Schuhe wieder zu nehmen,
nicht aber sie anzuziehen. Wir mußten sie also in den erhobenen Händen halten und da
entfiel mir plötzlich der eine. Ich wollte mich schnell darnach bücken, da traf mich ein
entsetzlicher Hieb auf den Hinterkopf. Mir wurde schwarz vor den Augen, doch ich verlor
nicht die Besinnung, aber von diesem Augenblick an hatte ich ununterbrochen ein Zischen in
den Ohren, Tag und Nacht, das mich fast wahnsinnig machte. Außerdem, sobald ich zu
sprechen begann, legte sich mir etwas vor die Ohren. Ich war fast taub. Das Sprechen
machte mir große Mühe. Dieser qualvolle Zustand hat sich erst verloren, als ich schon in
Deutschland war. Den zweiten Schuh ließ ich natürlich auch fallen.
Plötzlich wurde Halt befohlen. Nun traten eine Anzahl Frauen auf, jede mit einer Schere
bewaffnet, packten uns Frauen an den Haaren und schnitten uns einseitig die Haare ab. Das
abgeschnittene Haar wurde uns gewaltsam in den Mund gestopft. Dann erscholl der Ruf
Wasser . Auffallenderweise verstand die Bevölkerung sofort die Bedeutung
dieses Rufes. Aus allen Häusern traten eimerbewehrte Frauen und Männer und übergossen
uns mit eiskaltem Leitungswasser oder mit scheußlichem Schmutzwasser.
Während dieses Aufenthaltes kam aus der entgegengesetzten Richtung eine lange Kolonne von
Motorradfahrern. Da wir auf den Knien waren und da ich den Blick nicht erhob, sah ich nur
lauter Füße, vielleicht zwanzig Paar kräftig beschuhter Männerfüße. Die Kolonne fuhr
ganz langsam an un vorbei, wohl um sich an dem Schauspiel zu weiden, das wir boten. Sie
benützten die günstige Gelegenheit, um uns Knieenden kräftige Fußtritte ins Gesicht zu
versetzen.
Schließlich kam noch eine andere Gruppe von Megären, die uns unseres Schmuckes
entledigte.
Endlich waren wir am Ziel, dem Kino Slavia in der Reifstraße (Ripská ulice), das als
KZ-Lager bestimmt war. Vor dem Kino selbst war noch ein großes Hindernis aufgerichtet,
das wir überspringen mußten, mit unseren wehen, blutenden Füßen und unseren
gepeinigten, zerschlagenen Körpern, vor Nässe triefend. Das Kino Slavia ist eines der
wenigen Kinos zu ebener Erde, nicht wie die anderen Prager Kinos unterirdisch. An einer
Seite des Saales sind 3 große Tore, die auf einen Hof führen, auf den sich in normalen
Zeiten die Kinobesucher in den Pausen begeben konnten. Wir wurden in diesen Hof getrieben
und mußten uns mit erhobenen Armen aufstellen. So ließ man uns lange stehen. Dann kamen
wir in den Kinosaal und mußten uns in die Reihen setzen. Wir wurden von einigen
R.K.-Schwestern und 2 Ärzten, Dr. Günther und Dr. Lacher und einer Ärztin, Dr. Lang
empfangen. Sie alle waren Deutsche und Gefangene wie wir. Unsere zerschundenen Knie und
Fußsohlen wurden gewaschen und mit irgend einem antiseptischen Mittel bestrichen, auch
wurde Trinkwasser herumgereicht, das war alles, was sie für uns tun konnten, denn sie
hatten fast gar keine Medikamente oder andere Hilfsmittel, außerdem wurden sie selbst
sehr streng gehalten und durften nur die allerschlimmsten Fälle behandeln.
Wir hatten nur eine große Sorge. Man möchte uns nicht vor der Dunkelheit nach Hause
schicken, da wir uns vor der Bevölkerung fürchteten. Mit unseren zerschlagenen Gliedern,
unseren blutigen Füßen, unseren verschnittenen Haaren und unseren schmutzigen, vor
Nässe triefenden, zerrissenen Kleidern wären wir sofort als Deutsche erkannt worden und
das ganze Grauen hätte von Neuem begonnen. Diese Sorge war jedoch recht überflüssig.
Als keinerlei Anstalten gemacht wurden, uns nach Hause zu entlassen, dachten wir, man
wolle uns einen Propagandafilm vorführen. Es wurde jedoch Abend, es wurde Nacht, wir
bebten vor Kälte in unseren nassen Kleidern, mit den bloßen Füßen, in diesem dumpfen,
kalten Kinosaal. Nun hatten wir begriffen: wir waren gefangen, wir waren im
Konzentrationslager. Zu essen bekamen wir an diesem Tage nichts, dafür aber umsomehr
Wasser.
Auf der Bühne vor der Leinwand saß ein Rotgardist, den Lauf seines Revolvers
ununterbrochen drohend auf uns gerichtet. Wir durften weder nach links noch nach rechts
schauen, immer nur still sitzen, den Blick geradeaus auf die Leinwand gerichtet. Da begann
der unheimliche Geselle in einem monotonen, aber darum um so grausigeren Tonfall und mit
halblauter zischender Stimme die fürchterlichsten Drohungen gegen uns auszustoßen. Es
gibt kein Verbrechen, dessen wir nicht angeklagt, keine Folter, die uns nicht angekündigt
wurde. Er unterbrach sich nur einigemale, um von der Bühne zu springen und einen
Unseligen, der es gewagt hatte, sich nach einem Nachbarn umzuwenden, von seinem Sitze zu
zerren und zu beschimpfen und zu mißhandeln. Dann ging die furchtbare Predigt weiter, bis
ein neuer Peiniger zur Ablösung erschien; der machte es genau so wie sein Vorgänger,
sodaß die Absicht und das Vorgehen unverkennbar war. Das dauerte die halbe Nacht. Ich
bekam Gänsehaut vor Entsetzen. Das mußte unfehlbar zum Irrsinn führen. Tatsächlich,
schon nach 2 Tagen dieser Behandlung, im Verein mit dem Hunger, hatten wir die ersten
Fälle von Irrsinn. Meine Wohnungsnachbarin, die ich hier wiederfand, eine schwache, etwas
hysterische Frau, war die erste. Sechs oder sieben andere kamen bald dazu. Sie stand auf
und begann irre Reden zu führen, indem sie den Aufsehern drohte, sie würden uns nicht
mehr lange peinigen, wir bekämen Hilfe von den Amerikanern, dann wehe ihnen usw. Eine
andere sprang auf ihren Sitz und schaute mit irren Augen um sich. Eine allgemeine Panik
brach aus, viele schrien, andere warfen sich auf den Boden, denn die Aufseher machten
Miene zu schießen. Da sprangen zwei Besonnenere von ihnen auf die beiden Frauen zu,
zerrten sie in den Vorraum und schleuderten die noch immer Redenden und Schreienden aus
einem Winkel in den anderen, solange bis sie verstummten. Niemand hat die beiden je wieder
gesehen.
Ich komme auf jene erste Nacht zurück. Endlich ließ man uns in Ruhe, aber nach einem
Nachtlager sahen wir uns vergebens um. Wir mußten den Rest der Nacht auf den Klappsesseln
zubringen oder auch darunter, denn wir sanken vor Erschöpfung von den Sitzen und durften
dann dort liegen bleiben, in dem Schmutz und den Abfällen von der letzten
Kinovorstellung, soweit von einem Liegen zwischen dem Gestänge der Sitze und den Füßen
der Sitzenden die Rede sein konnte.
Es ist selbstverständlich, daß an ein Auskleiden nicht zu denken war. Ich habe mein
Kleid 5 Wochen nicht ausgezogen.
Am nächsten Tage und an den folgenden Tagen bekamen wir etwas bitteren, schwarzen Kaffee
und einige Scheiben Brot, weiter nichts. Etwas später kam ein wenig Suppe dazu, eine
kleine Kaffeetasse voll mit einer Scheibe Brot. Dabei blieb es schon für immer. Nie haben
wir außer dem bißchen Brot etwas Festes zu essen bekommen. Diese Suppe bestand
anscheinend aus den von den Tellern der Soldaten und Aufseher abgekratzten Resten, denn es
fand sich darin das Unvereinbarste zusammen. Gleichwohl versuchten wir uns durch alle
möglichen Listen eine zweite Portion zu erschleichen. Die Suppentasse wurde
herumgereicht, es waren deren vielleicht 5-6 im Ganzen vorhanden, sodaß mindestens 100
Menschen aus derselben Tasse schlürfen mußten, die natürlich nicht gewaschen wurde.
Wir waren mindestens 500, vielleicht mehr, keinesfalls weniger Personen. Das Kino hatte
jedoch nur ein einziges W.C., 2 Kabinen für Männer und 2 für Frauen, vor denen immer
lange Schlangen standen, umsomehr als bald viele an schweren Durchfällen litten, die
nicht behandelt wurden. Täglich wurden dort neue Selbstmorde verübt. Obzwar niemand mehr
eine Waffe besaß, so war doch mancher noch im Besitz einer Rasierklinge oder einer
kleinen Schere, mit der er sich die Pulsadern durchschnitt. Bald nahm die Sache so
überhand, daß man sich veranlaßt sah, die Türen auszuhängen, denn diese Art von
Selbsthilfe war nicht im Sinne der Lagerleitung. Nun gab es endlich kein einziges
Fleckchen mehr, wo man auch nur 2 Minuten mit sich allein gewesen wäre.
Die schrecklichsten Mißhandlungen, der Hunger, die Überfülle grauenvoller, sich
überstürzender Eindrücke, mein qualvoller, schon erwähnter Zustand als Folge des
Schlages auf den Hinterkopf, das alles hatte bei mir einen seltsamen Zustand
hervorgebracht. Ich schlief nie wirklich und war auch nie wirklich wach. Ich nahm alles
wahr wie aus weiter Ferne und doch ganz deutlich. Es schien mir wie ein Traum aus der
Hölle. Ich fiel oft in Ohnmacht, was mir in meinem ganzen Leben sonst nie passiert war.
So entsinne ich mich, wie ich einmal gefallen sein mußte, als ich mit anderen den Saal
kehrte. Man hatte anscheinend eine von unseren RK.-Schwestern geholt, denn ich erwachte
von ihren Bemühungen, meine krampfhaft geschlossene Hand zu öffnen, mit der ich eine im
Kehrricht gefundene Brotkruste umklammerte, die ich mir auf keinen Fall nehmen lassen
wollte. Ein anderesmal hatte ich ein besonderes Glück. Ich fand ein Stück einer
Speckschwarte, die ich mir mit dem Kleide reinigte ein Taschentuch oder sonst etwas
besaß ich ja nicht und dann stundenlang im Munde behielt. Es verschaffte mir die
Illusion gegessen zu haben.
Jeden Morgen wurden wir zur Arbeit geholt. Wir Frauen mußten Straßen pflastern und den
Schutt von ausgebombten Häusern fortschaffen, dabei immer von den Aufsehern geschlagen
und beschimpft, wenn es ihnen nicht schnell genug ging, von der Bevölkerung verhöhnt,
weh dem, der auf dem Weg zur Arbeit es wagte, den Fuß auf den Gehsteig zu setzen. Die
Ungeheuerlichkeit passierte mir auch einmal. Ich wurde von einer brutalen Hand
heruntergezerrt und in die Mitte der Straße geschleudert. Deutsche Sau, du wagst
es, den Gehsteig zu betreten, wie ein normaler Mensch. Jeder Tscheche, der
irgendeine Arbeitskraft brauchte, konnte sich im Lager Deutsche für diese Arbeit holen.
In jenen Revolutionstagen kam Prag nicht aus den Feiern heraus und am nächsten Morgen
mußten dann die Spuren davon wieder beseitigt werden. Es müssen manchmal die
unbeschreiblichsten Orgien gewesen sein, nach dem was unseren Frauen an ekelhaften
Reinigungsarbeiten zugemutet wurde.
Das Entsetzlichste war es immer, in den ersten Tagen, wenn der Befehl kam, 15, 20, 25
Männer zum Gräber graben. In jenen Tagen gab es tatsächlich in Prag noch eine Unmenge
unbeerdigter Toter von den letzten Kämpfen. Von diesen Männern fehlten jedoch bei der
Heimkehr immer einige, manchmal die Hälfte, manchmal noch mehr. Man hatte sie gleich
mitbeerdigt, zuweilen noch ehe sie ganz tot waren. So erzählten zumindest die
Heimkehrenden, fast irrsinnig vor Grauen.
Jeden Abend wurden einige Männer in den Vorraum geholt, dann wurden die Türen
geschlossen, niemand durfte während dieser Zeit auf das W.C. gehen. Nicht lange darauf
hörten wir gräßliche Schreie und dumpfe Schläge. Bald darauf brachte man die
Unglücklichen zurück. Es waren meist jüngere Männer, von gutem Aussehen und guter
Haltung. Was da zurückkam, das waren Bilder des Jammers, in einer Viertelstunde um 20
Jahre gealtert, die sich mit ihren verrenkten Gliedern und ihren von den Knochen
geschlagenen Muskeln mühsam schleppten. Wieviele diese Behandlung überlebt haben, weiß
ich nicht. Es dürften nicht sehr viele gewesen sein.
Mit der Zeit hatte sich die ganz starre Disziplin ein wenig gelockert und wir durften uns
manchmal auf dem Hofe aufhalten. Welche Erholung das aber war, kann man sich vorstellen,
wenn man bedenkt, daß wir 5-700 Personen waren und daß es sich um einen kleinen, rings
von hohen Häusern eingeschlossenen Großstadthof handelte. Des Nachts war dieser Hof der
Schauplatz von Tragödien, von denen wohl nie jemand etwas erfahren wird. Dann war es bei
Todesstrafe verboten, den Hof zu betreten. Jede Nacht gab es Schießereien auf dem Hofe.
Jeden Morgen fehlten einige von unseren Leuten. Es kamen aber täglich Neue und so fiel
das nicht weiter auf. Bei dem ungeheuren Gedränge und dem ewigen Durcheinanderwogen war
es nur den Zunächstsitzenden möglich, festzustellen, wenn wieder einer fehlte.
In der Reihe vor mir saß eine Frau, die unter ihrem Sitze ein Paar Gummistiefel stehen
hatte. Es waren ja nicht alle so ganz von allem entblößt, wie die Gruppe, mit der ich
hergekommen war. Manche hatten etwas mitnehmen können. Sie wurden aber ihre Sachen
später doch noch los. Da ich, wie schon erwähnt, bloßfüßig war, hatte mir diese Frau
manchmal ihre Gummistiefel geliehen, wenn ich zur Arbeit mußte. Eines Nachts wurde auch
sie geholt die meisten wurden nachts abgeholt und da es in einer solchen
Nacht war, wo auf dem Hof viel geschossen wurde, und da sie nicht wiederkam, waren wir
alle überzeugt, daß auch sie den Weg über den Hof genommen hatte. Die Gummistiefel habe
ich heute noch.
Da die Aufseher fast immer betrunken waren, waren wir in ständiger Lebensgefahr, denn sie
spielten dann wie Kinder mit ihren scharfgeladenen Waffen. Sie lachten wie toll und
wollten einen Extraspaß haben. Dazu holten sie sich, wenn es Abend war, unsere zu Tode
erschöpften Männer, die von schwerer Arbeit kamen und fast nichts gegessen hatten und
ließen sie auf dem Hofe Kniebeugen machen. Sie amüsierten sich köstlich, wenn die
Unglücklichen zusammenbrachen.
Eine Anzahl von Frauen aus meiner Nähe wurden jeden Tag in die ehemalige SS-Kaserne auf
dem Lobkowitzplatz befohlen, wo jetzt russische Soldaten hausten. Trotz ganz unerhörter
Arbeitslasten, die man diesen Frauen aufbürdete, wurden sie doch von uns allen beneidet,
da sie dort nicht zusätzlich gequält und gedemütigt wurden und vor allem, da sie dort
zu essen bekamen. Sie brachten auch meist etwas mit, das sie sich für uns aufgespart
hatten und wir warteten mit Ungeduld auf ihre Heimkehr am Abend. Da wir viele waren, die
zur unmittelbaren Umgebung dieser Vielbeneideten gehörten, so entfiel auf jeden von uns
nicht mehr als ein Löffel voll, doch selbst das bedeutete für uns schon eine
schätzenswerte Aufbesserung. Leider war man der Sache bald auf die Spur gekommen, die
Frauen wurden von nun ab jeden Abend bei ihrer Heimkehr untersucht und es wurde ihnen
weggenommen, was sie mitgebracht hatten.
Eine Gruppe von Männern hatte einmal irgend eine Arbeit auf einem Neubau hinter einem
großen Gitter zu leisten. Draußen standen einige Gaffer und verhöhnten sie. Das brachte
den Aufseher auf die Idee, den Leuten eine Vorstellung zu geben. Die deutschen Männer
mußten einander gegenseitig anspucken, ohrfeigen, schließlich mußten sie Straßenkot
essen und dergleichen. Das wiederholte sich einige Tage lang mit verschiedenen Variationen
und es fand sich kein Tscheche, der gegen diese schmachvolle Schaustellung Protest erhoben
hätte.
Einmal kamen einige von unseren Frauen in maßloser Erregung von der Arbeit. Das Entsetzen
saß ihnen noch in den Gliedern und das Weinen schüttelte sie. Sie hatten in einem Depot
der deutschen Wehrmacht Pullover und dergleichen, die sich die Tschechen jetzt angeeignet
hatten, dutzendweise bündeln, aber auch gleichzeitig eine Menge blutgetränkter
Uniformstücke aussortieren müssen, die dort herumlagen. Dabei hatten sie buchstäblich
stellenweise im Blut gewatet und hatten auf hunderten von Eisernen Kreuzen und anderen
Distinktionen herumtrampeln müssen, die dort im Blute lagen. Wahrscheinlich hatte sich
dort einer dieser letzten Kämpfe abgespielt, eine dieser unheimlichen Tragödien, von
denen nie jemand erfahren wird. Man hatte den Unseligen die Uniformen ausgezogen und sie
selbst nackt, oft noch lebend, in die Massengräber geworfen. Dies ist nicht bloß meine
Vermutung, sondern es wurde allgemein behauptet und ist auch bestimmt geschehen. Wie
mancher, der vermißt ist, mag in einem Prager Massengrab erstickt sein.
Täglich wurde uns mit dem Erschießen gedroht. Diese Drohungen hörten plötzlich auf,
als wir flehentlich immer wieder baten, sie doch wahr zu machen und uns von diesem
Martyrium zu befreien. Eines Tages wurde bekanntgegeben, alle Österreicher möchten sich
melden, sie würden sofort freigelassen. Da war auch eine junge Frau, die sich sofort
meldete und sich vor Freude nicht zu fassen wußte. Als sie aus der Wohnung getrieben
worden war, war ihr sechsjähriges Töchterchen gerade nicht zuhause gewesen und die Arme
hatte die ganze Zeit um das Kind gebangt. Ihr Mann war gefallen, die Frau war also
reichlich heimgesucht und wir gönnten ihr die Befreiung. Es fehlten indessen noch einige
Dokumente, die sie natürlich nicht bei sich hatte und so wurde sie, von einer Wache
begleitet, in die Wohnung geschickt. Leider fand der Mann mehr als er gesucht hatte,
nämlich verschiedene Belege, daß sie in einer Kanzlei der Gestapo als
Maschinenschreiberin tätig gewesen war. Von da ab war ihr Schicksal besiegelt. Der Traum
von der Freilassung war natürlich ausgeträumt. Was die Unglückliche aber von diesem
Tage an zu erdulden hatte, war einfach unvorstellbar. Sie mußte entsetzlich verunreinigte
Latrinen reinigen, mit bloßen Händen, ohne irgendein Gerät, ohne Wasser, man sperrte
sie Tage und Nächte lang in einen finsteren Keller, ohne Nahrung, man schleuderte sie mit
dem Kopf gegen die Wand. Als wir endlich einige Wochen später unseren Todesmarsch zum
Bahnhof antraten von dem noch die Rede sein wird um nach Raudnitz zum
Sklavenmarkt geschafft zu werden, wollten wir sie retten, indem wir sie, die nur noch mit
Mühe gehen konnte, nach Möglichkeit in die Mitte nahmen. Jemand hatte ihr ein großes
Tuch geliehen damit sie sich unkenntlich machen konnte. Dennoch wurde sie von einem der
Henkersknechte erkannt und vor unseren Augen erschlagen.
Ich habe bereits von meinem sonderbaren halbwachen Zustand gesprochen. So erinnere ich
mich auch wie eines Traumbildes eines Winkels bei einem Tore, den wir den
Selbstmörderwinkel genannt hatten. Ich sehe vor mir ein großes Becken voll Wasser und
rund herum hockten eine ganze Anzahl Jammergestalten, wachsbleich im Gesicht, mit
schmerzverzerrten Zügen und irren Blicken, die Hände in das Becken getaucht. Es waren
die, die sich die Pulsadern geöffnet hatten. Man gab sich wirklich alle Mühe,
Selbstmorde zu verhindern. So weiß ich von einem Mann, der Gift genommen hatte. Er war in
einem fürchterlichen Zustande und es war keine Kleinigkeit, ihn wieder auf die Beine zu
bringen. Als es endlich so weit war, wurde er erschossen.
Jede Nacht gab es eine andere Aufregung, ich entsinne mich nicht einer einzigen ruhigen
Nacht. Nach Mitternacht kamen gewöhnlich einige Delegierte , um junge Frauen
und Mädchen für die Offiziere zu holen. Wir versuchten sie nach Möglichkeit zu
verstecken, aber es half wenig. Was überhaupt in dieser Beziehung alles geschah, fällt
mir schwer zu erzählen. Man stelle sich das Schlimmste vor und es bleibt bestimmt noch
weit hinter der Wahrheit zurück.
Eine beliebte Unterhaltung waren auch die nächtlichen Plünderungen. Ich und die mit mir
Gekommenen hatten diesbezüglich nichts zu befürchten, da wir nichts besaßen, die
anderen aber mußten jeden Augenblick gefaßt sein, daß ihnen das wenige genommen wurde,
das ihnen noch verblieben war. Das erste, was ausnahmslos allen gestohlen wurde, waren die
Uhren. Am beliebtesten waren die Armbanduhren. Ein Asiate hatte deren ungefähr 20 um den
Arm. Mit einer bestialischen Grimasse entriß er den hilflos Daliegenden ihr letztes
Stück.
Schrecklich anzusehen waren die Leiden der Kranken, die in Behandlung gewesen waren und
jetzt ohne ihre gewohnten Medikamente und ihre Diät hier elend zugrunde gehen mußten.
Man hatte ja sogar die meisten deutschen Kranken aus den Spitalbetten gejagt.
Ein ganz besonderes Vergnügen fanden unsere sadistischen Peiniger darin, uns stundenlang
anstellen zu lassen, sei es, um uns zur Arbeit zu führen, sei es, um uns ganz einfach
nach einigen Stunden wieder in den Saal zu jagen. Ob es regnete, ob die Sonne brannte, wir
durften uns dann nicht von der Stelle bewegen, nicht umdrehen, nicht sprechen. Von der
eigenen Qual abgesehen, mußte ich dann manchmal meine ganze Vernunft zu Hilfe rufen und
mich beherrschen, um nicht so einem Untier an die Gurgel zu springen, wenn wir zusehen
mußten, wie es einen armen kranken, alten Mann schlug, an den Haaren zerrte oder ihn zu
irgend einer lächerliche Pose zwang, weil dieser vielleicht nach rechts geschaut hatte
anstatt nach links.
Eines Tages verbreitete sich die Nachricht, daß wir in ein anderes Lager kommen sollten.
Ein lähmendes Entsetzen erfaßte uns, denn so jammervoll unser Dasein in diesem Lager
war, so kannten wir unser Elend schon, wir wußten ungefähr, welches Maß an Qualen jeder
Tag uns brachte. Wo anders war es womöglich noch schlimmer, vielleicht war es der sichere
Tod. Warum ließ man uns nicht gleich hier verhungern? Denn daß wir langsam verhungern
mußten, daran zweifelten wir nicht.
Theresienstadt wurde genannt, dann war die Rede von einem GPU Lager im Reich, aber etwas
Genaues wußte niemand. Endlich, eines Tages wurde es Ernst, es begann wie immer, nämlich
mit einem stundenlangen Anstehen, diesmal auf der Treppe, dann ging es endlich ein
Stockwerk tiefer, dann wieder zwei Stockwerke höher, schließlich waren wir wieder auf
dem riesigen Hofe, wo wir uns in vier bis sechs Reihen hintereinander, mit dem Gesicht
gegen die Wand anstellen mußten, um nicht zu sehen, was sich hinter uns abspielte,
zeitweilig auch mit erhobenen Armen. Endlich nach mehreren qualvollen Stunden kam auch die
Reihe an mich und die mir zunächst Stehenden. Wir durften uns umwenden und da sahen wir
einige Tische, die man im Hofe aufgestellt hatte, hinter denen junge Mädchen saßen. Auf
den Tischen befanden sich offene Kästchen und Schachteln, die einen gefüllt mit
Markscheinen, die anderen mit Eheringen, wieder andere enthielten Dokumente. Man hatte
anscheinend inzwischen erfahren, daß die Mark nicht außer Kurs gesetzt war und ihren
Wert behalten hatte, daher hatte man beschlossen, die ausgeteilten Mark wieder
abzufordern. Bei jener oben erwähnten Plünderung hatte man in einigen Zimmern noch die
Eheringe respektiert. Auch dieses Versäumnis wurde jetzt nachgeholt. Auch eventuell noch
vorhandene Personaldokumente wurden abgenommen. Nun hatten die meisten nichts mehr, wie
ich schon lange nichts hatte.
Über all diesen abstoßenden Vorgängen war schließlich der Abend herangekommen. Zu
essen hatten wir an diesem Tage nichts bekommen, denn eigentlich hätten wir längst fort
sein sollen. Angeblich hatte man nichts mehr für uns gefaßt. Nun war es zu spät zur
Abreise und man begnügte sich nach dieser, wie wir meinten, letzten Plünderung, uns
wieder hinaufzutreiben. Die oberen Räume waren inzwischen schon abgesperrt worden und wir
mußten uns auf noch engerem Raum im I. Stock zusammendrängen. Plötzlich erschien einer
der Aufseher, es war der, den wir alle am meisten fürchteten. Ich habe ihn nie anders als
brüllend, wütend und betrunken gesehen. Er hatte aus irgend einem Grunde die Plünderung
verpaßt, er kam zu spät, was seine Wut noch erhöhte. Er hoffte gleichwohl, daß noch
hin und wieder ein Ring übersehen worden war und brüllte Pfoten zeigen
indem er uns mit einem eigens zu diesem Zwecke mitgebrachten Stock dermaßen über die
Finger schlug, daß einem Hören und Sehen verging. Da er nichts mehr fand, brüllte er
immer mehr, sämtliche Kinder begannen vor Angst zu schreien, das steigerte noch seine Wut
und er brüllte sie an, wie ich noch nie einen Menschen habe brüllen hören. Ich glaubte,
das Trommelfell müsse mir zerspringen in dem Höllenlärm.
Endlich, als er fort war, brachte man uns noch etwas Knäckebrot, 2 Scheiben für jeden
mit der Bemerkung, nicht alles auf einmal zu essen, da wir morgen nichts mehr bekämen und
den ganzen Tag auf der Reise sein würden.
Endlich wollten wir uns zur Ruhe begeben, so gut das in diesem Gedränge möglich war, da
hörten wir plötzlich einen ganz eigenartigen, beängstigenden Lärm, der immer anschwoll
und sich immer mehr näherte. Im Hause begann ein Rufen, ein Rennen, Kommandos ertönten,
es war eine ganz außergewöhnliche Aufregung zu spüren. Da schrie plötzlich jemand, der
am Fenster gestanden hatte, um Gottes Willen . Wir stürzten hin und
erblickten in der beginnenden Dämmerung eine unabsehbare Menschenmenge, die näher und
näher kam und die wild mit Stöcken und Knüppeln herumgestikulierte und drohende Rufe
ausstieß. Das galt uns. Man hatte erfahren, daß wir am nächsten Morgen Prag verlassen
und somit ihrem Machtbereich entrückt werden sollten und so kamen sie, um sich noch
schnell ihr Mütchen an uns zu kühlen. Man wollte uns ganz einfach lynchen. Ich glaubte,
mein Herz stehe still vor Entsetzen. Eine unbeschreibliche Panik brach aus. Einige heulten
auf wie wilde Tiere, manche schmiegten sich eng aneinander, wie um sich gegenseitig zu
schützen, wieder andere standen stumm, zu Bildsäulen erstarrt, blaß wie die Wand und
zitterten heftig an allen Gliedern. Es war eine der gräßlichsten Szenen, die ich je
erlebt habe. Wir waren uns klar darüber, daß wir rettungslos verloren waren. Was hätten
wir Unseligen, von Hunger und Mißhandlung zu Tode geschwächt, ohne Waffen vermocht,
gegen die rasende, aufgehetzte Menge?
Es gab anscheinend Unterhandlungen zwischen den Aufsehern und den Rädelsführern, dadurch
ging wertvolle Zeit verloren und inzwischen geschah ein Wunder, ein wirkliches,
wahrhaftiges Wunder. Niemandem war es aufgefallen, daß sich etwa ein besonderes Unwetter
vorbereitete und doch war es plötzlich da. Mit einem Schlage brach ein Wolkenbruch los,
mit Sturm und Hagel, Blitz und Donner folgten einander Schlag auf Schlag. Da verzog sich
der Mob schreiend und rennend, einer von den vernünftigeren unter unseren Wächtern hatte
schnell alle Tore verschlossen, wir waren gerettet.
Am nächsten Morgen oder besser Mittag, wieder nach stundenlangem Anstellen in Treppen und
Gängen, als wir vor Hunger schon fast ohnmächtig waren, denn jeder hatte
selbstverständlich sein Scheibchen Knäckebrot schon längst verzehrt, gegen Mittag also
begann der Abmarsch, jener grauenhafte Todesmarsch . Auch die Rotgardisten,
unsere Aufseher, wußten, daß dies endgültig die letzte Gelegenheit war, ihre
sadistischen Gelüste an uns auszulassen und sie hatten sich anscheinend das Wort gegeben,
diese Gelegenheit noch ein letztes Mal bis auf die Neige auszukosten.
Wir mußten uns in Dreierreihen aufstellen, kaum aber war dies geschehen, behaupteten die
Aufseher, sie hätten befohlen, uns in Viererreihen aufzustellen und sie schlugen und
schlugen. Dann wieder sollten es Fünferreihen oder sogar Sechserreihen sein, dann
plötzlich wieder Dreierreihen und so ging es fort Es entstand ein unbeschreibliches
Durcheinander, umsomehr als jeder Aufseher in seinem Bereich andere Befehle erteilte. Man
kam kaum von der Stelle und die Aufseher brüllten und fluchten und schlugen und stießen
blind darauf los. Ich erhielt einen fürchterlichen Rippenstoß mit einem Gewehrkolben und
einen Hieb über die Schulter, weil ich bei dem Gewimmel plötzlich außer der Reihe
stand. Endlich hatten sie von diesem Spiel genug und um die verlorene Zeit einzubringen,
mußten wir nun rennen, immer schneller, immer schneller. Ich kann mich erinnern, daß ich
ein Stoßgebet zum Himmel sandte, ich möchte doch das Glück haben, tot niederzusinken,
um von dieser nicht mehr zu ertragenden Qual erlöst zu sein. Andere mögen es auch getan
haben. Es war das auch der letzte Tag unserer armen Österreicherin, von der ich weiter
oben gesprochen habe. Auch viele andere überlebten ihn nicht. Jeder Schritt barg eine
Lebensgefahr.
Ich glaube, daß auch ein ganzer Zug aus einem anderen Lager zu uns gestoßen war und da
gab es noch viele, die sich mit Koffern und dergl. abschleppten. Als nun dieses
fürchterliche Rennen begann, blieb den Armen nichts übrig, als das schwere, sie
behindernde Gepäck wegzuwerfen, um nicht erschlagen zu werden. Und andauernd, längs des
ganzen Weges, diese Beschimpfungen seitens der Bevölkerung, diese andauernden Drohungen.
Jeder versuchte in die Mitte zu gelangen, da die Gefahr am äußersten Rande am
schlimmsten war. Viele kamen zu Fall, was aus ihnen geworden ist, weiß ich natürlich
nicht, wir mußten weiter, immer schneller, immer schneller, über die Gestürzten hinweg.
Hätten wir uns ihrer angenommen, wären wir selbst erschlagen worden.
Endlich waren wir auf dem Hyberner-Bahnhof (jetzt wieder Masarykbahnhof) angelangt. Man
führte uns von rückwärts in das Bahnhofsgelände, von der Florenzerstraße, da wurde
plötzlich Halt geboten. Ein Aufseher rief in einem seltsam freundlichen Tone: Wir
suchen eine Frau mit höherer Bildung, Kenntnis fremder Sprachen und doppelter
Buchführung erwünscht. Wer meldet sich? Ein paar Bedauernswerte, die das Spiel
noch immer nicht begriffen hatten, meldeten sich. Sie glaubten wohl, sie könnten ihre
Lage verbessern und in Prag bleiben, vielleicht gar in einem Büro arbeiten. Da packte der
Aufseher eine davon am Kragen, riß sie aus der Reihe und brüllte: Also komm, du
Sau, du wirst jetzt alle Aborte des Bahnhofes reinigen. Die Arme mußte ihm folgen,
unter dem Geschrei, dem Gelächter und dem Beifallsklatschen der Menge, die draußen vor
dem Gitter, wodurch das Bahnhofsgelände abgeschlossen war, sich Kopf an Kopf drängte.
Der Befehl kam, den Kopf zu senken, nicht rechts und nicht links schauen und sich nicht zu
bewegen. Es ist zwecklos, beschreiben zu wollen, was sich hier abspielte, das kann man
einfach nicht beschreiben. Eine Kopfwendung um Haaresbreite konnte den Tod bedeuten und
hat ihn wohl auch für viele bedeutet. Unter der gesenkten Stirn hervorschielend, sah ich
dennoch, wie in entgegengesetzter Richtung ein Elendszug an uns vorüberzog, alle
blutüberströmt, unter ihnen auch unser Dr. Günther. Was man ihnen getan hatte, woher
sie kamen, weiß ich nicht. Dazwischen immer wieder ein Karren, auf dem ein Sterbender
oder ein Schwerverletzter lag, mehrere auch vom Herzschlag getroffen, wie ich annehme. Die
johlende Menge draußen verfolgte das Schauspiel mit steigendem Interesse und brach
jedesmal bei einem besonders gelungenen Streich in lauten Jubel aus, z. B. wenn einer fiel
und sich nicht mehr erhob. Mein Blickfeld war unter den geschilderten Umständen
natürlich sehr eingeschränkt und von all den Greueln, die dort geschahen, konnte ich
mehr ahnen als sehen. War ich doch selbst dem Tode näher als dem Leben. Ich entsinne mich
nur eines Höllenlärms, gemischt aus Gelächter, Gejohle, Beifallsklatschen, den
Schmerzschreien der Gepeinigten, dem Gewimmer der Sterbenden, dem Getrampel unzähliger
Füße.
Endlich trieb man uns, immer mit Kolbenhieben, über viele Schienen hinweg, einem
Eisenbahnwaggon zu, der für uns bestimmt war. Es sah aus, als ob die Aufseher Korn
mähten, mit ihren Gewehrkolben, denn sie hatten es diesmal auf die Beine der Laufenden
abgesehen, um sie zu Fall zu bringen. Ich hatte das Glück , daß gerade vor
mir eine Frau auf die Schienen stürzte und bevor er zum neuen Schlage ausgeholt hatte,
war ich durchgeschlüpft. Der Waggon war natürlich ein Kohlenwagen und wir mußten uns
auf den Boden hocken, den eine mehrere Zentimeter dicke Schicht von Kohlenstaub bedeckte.
Er war natürlich viel zu klein d. h. es waren deren mehrere, aber es wird wohl überall
dasselbe gewesen sein. In meinem seit Wochen nicht abgelegten Kleide drückte ich mich in
eine schmutzige Ecke, für den Augenblick froh, der unmittelbaren Todesgefahr entrückt zu
sein. Wir wurden hineingestopft wie Vieh oder irgend eine leblose Ware. Kaum aber waren
wir verladen, erschienen noch einmal die Rotgardisten, diesmal in Begleitung ihrer
Freundinnen und luden sie ein, sich zu bedienen, wenn ihnen etwas gefiele, was wir noch
auf dem Leibe hatten. Genier dich nicht, nimm dir was dir gefällt. Schau, dieser
Pullover ist doch ganz hübsch, usw. Die meisten Mädchen machten geringschätzige
Grimassen und beteuerten, daß ihnen nichts gefiele. Ich glaube jedoch, sie schämten
sich, uns die Kleider vom Leibe zu reißen und stellten sich deshalb so, als gefiele ihnen
nichts. Einige indessen waren weniger zartfühlend und so manche Wollweste, mancher
Pullover wurde seiner Besitzerin ausgezogen. Eine junge Frau trug ein Paar Männerhosen,
die einem der Aufseher in die Augen stachen. Sie mußte sie auf der Stelle ausziehen und
blieb in ihrer Unterwäsche zurück. Es war wirklich nichts mehr da, was man uns hätte
nehmen können, wenn man uns nicht nackt ausziehen wollte und so setzte sich der Zug
endlich in Bewegung. Eine Wache mit aufgepflanztem Bajonett saß auf einem erhöhten
Sitze. Uns war es strengstens verboten, uns zu erheben und so kauerten wir so gut es ging
in dem dicken Kohlenstaub. Wenn jemand sich nur ein einzigesmal aufzurichten versuchte um
sich ein wenig von der unbequemen Stellung zu erholen, fiel sofort ein Schuß in nächster
Nähe, ohne daß wir je den Schützen entdeckten. In einigen Stationen hielt der Zug, dann
erschienen immer ein paar asiatische Gesichter über der Wagenwand und fragten grinsend:
Wohin schaffst du das? Dorthin, wo sie hingehören, in die
Leibeigenschaft (do roboty) war die unabänderliche Antwort.
In meinem Besitz befand sich ein schmutziges zerrissenes Kleid, eine ebensolche Garnitur
Unterwäsche und ein Paar Gummistiefel, welche ich von einer Erschossenen geerbt hatte.
Sonst nichts!
Ich versichere an Eidesstatt, daß vorstehender Bericht in allen Punkten der Wahrheit
entspricht
Aus: Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen. Überlebende
kommen zu Wort.
Originalausgabe: Selbstverlag der Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung Sudetendeutscher
Interessen, 1951
Einleitung und Bearbeitung von Dr. Wilhelm Turnwald
Herr Löbl schreibt: Ich und viele meiner Freunde in Deutschland und Tschechien möchten die Schuldigen von Postelberg, Außig und Brünn vor Gericht sehen, wie den SS-Wärter von Theresienstadt in München, notfalls auch im Rollstuhl. Das ist man nicht nur den Opfern schuldig, sondern besonders der Jugend, die Ihren Glauben an das Rechtsgefüge nicht verlieren darf. Mord darf niemals unbestraft bleiben. Das hat nichts mit Rachegefühlen zu tun, sondern mit Sühne und Gerechtigkeit .