Zeitgeschehen
Ein geteiltes Deutschland
In der Frage der Benes-Dekrete war Prag noch nie so stark wie jetzt
von Karl-Peter Schwarz
PRAG, 24. Juni [2003]
Von Prag aus gesehen ist Deutschland ein geteiltes Land. Das „neue Deutschland“, das die kommunistischen Staats- und Parteiführer von Gottwald bis Husak idealtypisch in der DDR verkörpert sahen, ist zwar entschwunden, aber in der tschechischen Wahrnehmung ist dem vereinigten Deutschland die Dichotomie zwischen „Demokratie“ und „Revanchismus“ erhalten geblieben. Nur der ideologische Überbau, der diese Teilung einst verbrämte, wurde 1989 über Bord geworfen. Seither verläuft die Scheidelinie in der Beurteilung der Deutschen nicht mehr zwischen „rechts“ und „links“, sondern schlicht zwischen jenen, die die Vertreibung der Deutschen und der Ungarn aus der Tschechoslowakei für ein Verbrechen halten und daher die Aufhebung der noch rechtswirksamen Benes-Dekrete fordern, und denen, die das nicht (mehr) tun.

Die, die das nicht tun, haben die Sympathie aller tschechischen Parteien, ungeachtet ihrer sonstigen politischen und oder ideologischen Ausrichtung. Ob jemand ein Liberaler, ein Kommunist, ein Sozialdemokrat oder ein christlicher Demokrat ist, mag sich in der Tschechischen Republik gelegentlich auf anderen Gebieten zeigen, aber gewiß nicht, wenn die Beneš-Dekrete zur Diskussion stehen, die zu den Fundamenten der tschechischen Eigenstaatlichkeit gezählt werden. Die Einheit in dieser Frage, der sich alle Parlamentsparteien fügen, ist eisern und erinnert an das Regime der Nationalen Front von 1945 bis 1948. Im April vorigen Jahres, als die Diskussion um die Dekrete allmählich auch auf europäischer Ebene in Gang kam, sah sich das tschechische Parlament veranlaßt, eine Resolution zu verabschieden, die nach den Worten des damaligen Parlamentspräsidenten Klaus der Welt ein für allemal klarmachen sollte, daß „die tschechischen politischen Repräsentanten in diesen Grundsatzfragen, die die grundlegenden nationalen Interessen betreffen, einig sind“. Die Resolution, zu deren Ausarbeitung deshalb auch die Kommunisten eingeladen wurden, wandte sich gegen alle Bestrebungen, „Fragen aufzuwerfen, die mit dem Ende und den Folgen des Zweiten Weltkrieges zusammenhängen“, setzte die Beneš-Dekrete, auf deren Grundlage keine neuen Rechtsbeziehungen entstehen könnten, mit der Nachkriegsgesetzgebung anderer europäischer Länder gleich und bezeichnete ihre bisherigen Rechtsfolgen als unabänderlich.

Nach tschechischer Auffassung bestätigte sich das Bild vom geteilten Deutschland daher, als die Bundesregierung und der Bundesrat im Umfeld des griechischen EU-Gipfels zwei gegensätzliche Signale aussandten. Vorausgegangen war ihnen eine kurze Erklärung der Regierung Spidla zum positiven Ausgang des EU-Referendums, in der von „Ereignissen und Taten“ die Rede war, die „aus heutiger Sicht unannehmbar“ seien, die Gegenwart aber nicht belasten dürften. Da in dem Text weder die Zwangsaussiedlung noch die von Massakern an der Zivilbevölkerung begleitete sogenannte „wilde Vertreibung“ erwähnt wurden, blieb unklar, welche „Ereignisse und Taten“ die Regierung eigentlich meinte. Die tschechische Öffentlichkeit nahm von der Erklärung zunächst keine Notiz. Die darin verwendete Formulierung war weder neu, da sie Präsident Klaus bereits im März verwendet hatte, noch politische brisant. Sie fiel weit hinter die deutsch-tschechische Erklärung von 1997 zurück, in der Prag „den kollektiven Charakter der Schuldzuweisung“ an die Deutschen noch bedauert hatte und insbesondere auch die „Exzesse“, die „den damals geltenden rechtlichen Normen“ widersprochen hätten, aber „aufgrund des Gesetzes Nr. 115 vom 8. Mai 1946“ nicht als widerrechtlich angesehen wurden.

Ein starkes Echo hatte die Stellungnahme erst, als sie von der tschechischen Botschaft in Berlin in Deutschland verbreitet und vom deutschen Außenamt sofort als positiv bewertet wurde. Am gleichen Tag berichteten tschechische Medien über ein Journalisten-Gespräch mit Schröder, in dem er Stoiber vorgehalten habe, immer wieder auf die Vertreibung und die Beneš-Dekrete zurückzukommen, die doch bloß das Ergebnis des nationalsozialistischen Überfalls auf die Tschechoslowakei gewesen seien. Damit hatte Schröder die Übernahme der tschechischen Auffassung bekräftigt, an ihrem Nachkriegsschicksal seien die Deutschen in Böhmen und Mähren letzlich selbst schuld gewesen, während das tschechische Verhalten nichts anderes als der logische Schlußstrich unter das von Hitler eröffnete Kapitel gewesen sei. Das Bild vom „neuen Deutschland“ wurde vom Kanzler eindrucksvoll bekräftigt.

Der Bundesrat wiederum bestätigte den Tschechen ihr Bild vom „Revanchismus“, als er in einer Resolution zum Abschluß der Beitrittsverhandlungen nicht nur die Erklärung der Regierung in Prag begrüßte, sondern auch an die Aufforderung des Europäischen Parlamentes aus dem Jahr 1999 erinnerte, „fortbestehende Gesetze und Dekrete aus den Jahren 1945 und 1946 aufzuheben, soweit sie sich auf die Vertreibung einzelner Volksgruppen in der ehemaligen Tschechoslowakei beziehen“. Der Bundesrat erinnerte zudem „an den Nachbarschaftsvertrag von 1992 und die deutsch-tschechische Erklärung von 1997, in der sich beide Seiten zu ihrer historischen Verantwortung bekannt haben“. Präsident Klaus warf dem Bundesrat sofort Einmischung in tschechische Angelegenheiten vor. Es wäre eine „wichtige Information für die Wähler gewesen“, ließ er mitteilen, hätte der Bundesrat diese Entschließung schon vor dem tschechischen EU-Referendum gefaßt. Das vom christlichen Demokraten Cyril Svoboda geleitete Außenministerium brachte seine „Überraschung“ zum Ausdruck, daß der Bundesrat an die von späteren Rechtsgutachten der EU „überholten“ Forderungen des Europäischen Parlaments erinnert habe.

Tatsächlich steht der Beschluß des Bundesrates im Widerspruch zur Haltung der EU, die sich den tschechischen Standpunkt zur Gänze zu eigen macht. Das gilt mittlerweilen auch für das EU-Parlament, das seine Forderungen an die Tschechische Republik zurückgezogen hat. In der Frage der Benes-Dekrete war Prag noch nie so stark wie jetzt. Das erklärt, warum Svoboda die triviale Stellungnahme der tschechischen Regierung, die mehr zurücknimmt, als sie anbietet, als den „Schlußpunkt“ bezeichnen konnte, dem keine weiteren Schritte mehr folgen würden. Mit dem Beitritt der Tschechischen Republik zur EU scheint der deutsch-tschechische Dialog an seinem Ende angelangt zu sein.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung 2003-06-25