Die Urheimat der Urkunde

Deutsch-polnische Archivalienprobleme

Als 1945 die deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße durch das Potsdamer Abkommen unter polnische bzw. sowjetische Verwaltung gestellt worden waren, erhob Polen sogleich Ansprüche auf Archivbestände aus ehemaligen deutschen bzw. preußischen Staatsarchiven in diesen Gebieten, die sich infolge der während des Zweiten Weltkrieges von der preußischen Archivverwaltung verfügten Auslagerungen im westlichen Teil Deutschlands, in westalliierter Verfügungsgewalt, befanden. Die englische Besatzungsverwaltung gab 1947 einem Teil der polnischen Forderungen statt und verfügte die Abgabe der aus dem Staatsarchiv Danzig stammenden Archivalien, lehnte aber die Forderungen in bezug auf das Staatsarchiv Königsberg im Hinblick auf die Zuordnung des nördlichen Ostpreußen zur Sowjetunion ab. Die politische Entwicklung verhinderte die weitere Erörterung des Themas auf der politischen Ebene.
Die polnische Archivwissenschaft und die Generaldirektion der polnischen Staatsarchive haben seither in einer Vielzahl von Publikationen und offiziellen Stellungnahmen unverändert an dem polnischen Standpunkt von 1946/47 festgehalten, gegenüber der DDR konnten sie diesen – in allerdings begrenztem Maße – durchsetzen und teilweise die Abgabe von Archivalien aus den ehemaligen Preußischen Staatsarchiven in Stettin und Breslau erreichen. Die Bundesrepublik Deutschland übertrug durch das Gesetz über die Errichtung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz von 1957 und durch das Rechtsträgerabwicklungsgesetz von 1965 bewegliche Kulturgüter aus den deutschen Ostgebieten worunter auch Archivalien fielen in das Eigentum (im Falle von staatlichen Kulturgütern) beziehungsweise in die Treuhänderschaft (im Falle von nichtstaatlichen, vor allem kommunalen Kulturgütern) dieser Stiftung.
Die bundesrepublikanische Archivwissenschaft und die Archivverwaltungen standen in den zurückliegenden Jahrzehnten auf dem Standpunkt, daß die Archivalien zu den Menschen gehören. um derentwillen sie einstmals entstanden sind, und daß durch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Ostgebieten die Zugehörigkeit von Archivalien zu einem bestimmten Gebiet aufgelöst worden ist.

Die im Herbst 2000 auf Expertenebene von Vertretern deutscher und polnischer Archive und Archivverwaltungen geführten Gespräche belegen, daß Polen in bezug auf die Archivalien aus den historischen deutschen Ostgebieten im Kern unverändert an seinen Positionen von 1946/47 festhält. Es verlangt unter Berufung auf die deutschen Gebietsabtretungen und die angeblich aus internationalem Recht abgeleiteten Folgen der Staatensukzession in einer umfangreichen, 35seitigen Liste alle Archivbestände, die in den preußischen Provinzen Ost- und Westpreußen. Pommern, Posen, Brandenburg und Schlesien entstanden sind, soweit diese Provinzen durch die Grenzziehung von 1945 an Polen gefallen sind. Die polnischen Archivare haben dabei zwei Argumentationen vorgetragen:
1. Die Archivalien gehören an den Ort, an dem sie entstanden sind (beziehungsweise in das polnische Staatsarchiv, das heute für diesen ehemaligen Behördensitz zuständig ist).
2. Im Falle des Preußischen Staatsarchivs Königsberg verweisen sie darauf, daß Polen die Provinz Ostpreußen durch die Regelung von 1945 zum größeren Teil, etwa zu drei Fünfteln, erhalten habe. Daher stünden Polen nicht nur (nach Belegenheitsprinzip) die Archivalien der Behörden mit Sitz im südlichen Ostpreußen zu, sondern darüber hinaus die Archivalien aus den obersten und oberen Verwaltungsbehörden Ostpreußens mit Sitz in Königsberg oder einer anderen Stadt im nördlichen Ostpreußen.

Es ist offensichtlich, daß die erste und die zweite Argumentationslinie sich logisch nicht miteinander vertragen, weil sie von verschiedenen Voraussetzungen ausgehen und zu entgegengesetzten Schlußfolgerungen kommen. Nach dem Belegenheitsprinzip (Argumentation 1) wären die in Königsberg entstandenen Archivalien nach Königsberg/Kaliningrad an die Russische Föderation abzugeben, nach dem Anteilsprinzip (Argumentation 2) aber nach Allenstein an Polen. Die beiden Prinzipien ergänzen einander nicht, sondern widersprechen einander, und für ihre jeweilige Anwendung sind die Voraussetzungen nicht konsequent festgelegt. Sie sind offensichtlich danach formuliert, daß auf ihrer Grundlage Polen gegenüber Deutschland ein Maximum an archivalischen Abgabeforderungen geltend zu machen vermag.

Deutschland und Polen verhandeln seit dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 über „kriegsbedingt verlagerte Kulturgüter“. Polen legt dabei im Bereich des Archivgutes diese Begrifflichkeit ganz anders aus, als sie von deutscher Seite aufgefaßt wird.

Geht man, wie es einem Archivar und Historiker angemessen ist, von den geschichtlichen Entstehungsumständen aus, so ist schlichtweg festzustellen, daß die Urkunden und Akten im Rahmen einer preußisch-deutschen Verwaltungsorganisation erstellt worden sind und daß ihr oberster Bezugspunkt innerhalb der hierarchischen Behördenorganisation die preußischen Zentralbehörden in Berlin gewesen sind. Die von Polen geforderten Archivalien haben ihren Ursprung nicht innerhalb einer polnischen Verwaltungsorganisation.

Der Archivar hat für nationale und internationale Zuständigkeitsfragen gemäß dem international anerkannten Herkunftsprinzip in erster Linie auf die historisch-administrativen Zusammenhänge zu achten, in denen das Archivgut produziert worden ist. Beispielsweise befinden sich die Akten der alliierten Besatzungsverwaltungen in Deutschland aus der Zeit zwischen 1945 und 1949 selbstverständlich in den Zentralarchiven ihrer jeweiligen Heimatstaaten, denn sie unterstanden ihren Heimatregierungen; die Entstehungsorte in Deutschland spielen für die archivische Zuständigkeit der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion keinerlei Rolle.

Eine geschichtliche Betrachtung weist die von Polen beanspruchten Archivalien als Zeugnisse deutscher Verwaltung über eine deutsche Bevölkerung und damit als Zeugnisse deutscher Geschichte aus. Diese deutsche Bevölkerung, deren jahrhundertelanges historisches Schicksal in Ost- und Westpreußen, in Pommern, Ostbrandenburg und Schlesien die angesprochenen Archivalien widerspiegeln, ist 1945 aus ihren Heimatregionen vertrieben worden. Die Archivalien gehören zu ihrem kulturellen Erbe und damit zu ihrer historisch-kulturellen Identität. Es liegt eine andere Situation vor als etwa im Elsaß, dessen Zugehörigkeit zwischen Deutschland und Frankreich im Laufe der Geschichte mehrmals gewechselt hat, dessen Bevölkerung immer im Land geblieben ist und infolgedessen auch die archivalische Überlieferung in den eigenen Archiven verwahrt hat unabhängig davon, ob es gerade zu Deutschland oder zu Frankreich gehörte.
Selbst Polen hat den Bezug der Archivalien auf die deutsche Bevölkerung wenigstens in einem Punkt anerkannt, indem es nicht mehr die Abgabe der evangelischen und katholischen Kirchenbücher verlangt hier ist allzu deutlich, daß die Nachfahren der darin aufgeführten Personen nicht mehr in ihren Heimatorten östlich von Oder und Neiße leben, sondern ihre Existenz in den deutschen Nachkriegsgrenzen haben aufbauen müssen.

Die bisherige deutsch-polnische Archivaliendiskussion leidet darunter, daß sie von polnischer Seite fast ausschließlich auf der prinzipiellen Ebene geführt worden ist und ein Kompromiß und eine Einigung angesichts der einander entgegengesetzten Standpunkte kaum erreichbar erscheint, sofern nicht die deutsche Seite den polnischen Wünschen nachgibt. Es ist verständlich und berechtigt, daß sich Polen um die Geschichte der ehemaligen deutschen Ostgebiete und jetzigen polnischen Nord- und Westgebiete bemüht, mittlerweile unter Anerkennung der historischen Tatsache, daß es sich dabei um die Geschichte deutsch geprägter Landschaften handelt.

Die Masse der archivalischen Überlieferung ist trotz der Furien des Zweiten Weltkrieges im Land geblieben, natürlich auch für die deutsche Geschichtsforschung von größtem Interesse, die nur jahrzehntelang am Zugang gehindert war. Wenn man die berechtigten Anliegen beider Seiten berücksichtigen will, kann man für die Archivalien, die der jeweils anderen Seite in ihren Beständen fehlen, die moderne Technik einsetzen. Verfilmung und Digitalisierung von Archivgut sind längst vielfach erprobte Mittel auch zur Entschärfung und Schlichtung zwischenstaatlicher Streitigkeiten um Archivalien.

Der Internationale Archivrat, eine Unterorganisation der UNESCO, hat für die Behandlung von Archivgut, auf das infolge veränderter Grenzziehungen zwei oder mehrere Staaten Ansprüche erheben, die Konzeption des „gemeinsamen Erbes“ (joint heritage) entwickelt, nach der darauf verzichtet wird, vorrangig Archivalien im Original auszutauschen, und vorgezogen wird, der anderen Seite Mikrofilme zu überlassen und Zugangsrechte zu den Originalen zu garantieren. Der Internationale Archivrat betont dabei ausdrücklich, daß das gemeinsame Erbe in das nationale Erbe eines Staates integriert sei, aber dem anderen Staat besondere Zugangs- und Verfilmungsrechte einräume; er will damit erreichen, daß zwischen einstmals verfeindeten Völkern ein Klima gegenseitigen Verständnisses geschaffen wird.

Es dürfte sich von selbst verstehen, daß die gemeinsame Bearbeitung der Archivalien, die heutzutage in deutschen und polnischen Archiven die Geschichte der deutschen Ostgebiete bezeugen, von Wissenschaftlern beiderseits der Grenze verstärkt werden sollte. Dazu könnten bessere Voraussetzungen geschaffen werden, wenn sämtliche Archivalien, sei es im Original oder auf Film, in beiden Ländern vollständig und uneingeschränkt zur Verfügung gestellt würden. Ein solches Vorgehen wird man als Lösung im europäischen Geiste betrachten können, weil es nicht einer Seite die vollständige Aufgabe des kulturellen Erbes eines vertriebenen Bevölkerungsteiles zumutet, sondern dazu beiträgt, daß durch die beiderseitige Verbesserung der Zugangsbedingungen und Zugangsmöglichkeiten die alten Kontroversen durch eine wissenschaftlich fruchtbare und ertragreiche Zusammenarbeit überwunden werden.

Klaus Neitmann

Der Autor Dr. Klaus Neitmann ist Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam.

Aus der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ 1136 Seite 3ff, 2001-08-31