Hanna Zakhari, geb. Rybnicky
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HZakhari@t-online.de

25. August 2003

 

An den Herrn Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Bundeskanzleramt Berlin

Offener Brief

Sachgerechte und faire Behandlung der Anliegen der Vertriebenen und Flüchtlinge des II. Weltkrieges im Zusammenhang mit Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin und Ihrem bevorstehenden Besuch in der Tschechischen Republik

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
aus der Presse habe ich erfahren, daß Sie für den 5. September eine Reise in die Tschechische Republik planen. Eine Reise, die Sie vor eineinhalb Jahren absagen mußten; aus Gründen, die in ihrer Folge zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussion des Schicksals ehemaliger deutscher Einwohner Mittel- und Osteuropas führten. Des Themas der Flucht und Vertreibung. Eine Diskussion, die innerhalb der Tschechischen Republik unter dem Überbegriff „Beneš-Dekrete“, die allgemein übliche Bezeichnung für das Nachkriegs-Gesetzeswerk, geführt wird.

Ebenso habe ich Ihren Standpunkt zum geplanten „Zentrum gegen Vertreibungen“, das in Berlin entstehen soll, aus den öffentlichen Medien kennen gelernt.

Der Standpunkt, daß die Vertreibung von Millionen von Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa nur im Kontext und innerhalb der zeitlichen Abfolge zu den davor liegenden Geschehnissen in Deutschland zu sehen ist, ist nicht neu. Im Gegenteil. Es ist eine über Jahrzehnte gepflegte Geisteshaltung. Eine, die die wirklichen Geschehnisse in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten relativierend wiedergibt. Ein Pauschalurteil Unbeteiligter und an wirklichen Geschehnissen Uninteressierter.
Eine Geisteshaltung, die unser Gewissen ruhig schlafen läßt. Sie impliziert den Gedanken, daß die Vertriebenen, und ich meine in der Tat – ausnahmsweise und diesmal ausschließlich – die deutschen Vertriebenen, ja irgendwie selbst schuld an ihrem Schicksal waren. Sie also nicht unbedingt zu bedauern seien und ihr Schicksal möglichst nicht in der Öffentlichkeit diskutiert werden soll. Und wenn, dann möglichst abseits und in aller gebotenen Stille.

Das wirklich Üble daran ist, daß es die Betroffenen selbst über Jahrzehnte so sahen. Über das eigene persönliche Schicksal kaum zu sprechen wagten. Geschweige denn ihr moralisches Anrecht auf Anerkennung ihrer Erlebnisse und da, wo berechtigt, ihrer Ansprüche.

Der überwiegende Teil der Vertriebenen und derjenigen, die aus Angst und Sorge vor nahender Rache flohen, waren Menschen, die an den Kriegsverbrechen unbeteiligt waren und sich damit nichts zuschulden kommen ließen. Frauen und Kinder, alte Menschen. Bekannte und unbekannte Schicksale, wie das der abenteuerlichen Flucht von Marion Gräfin Dönhoff, das Verfehlen der „Wilhelm Gustloff“ aus der Erzählung von Erika Steinbach, aber auch die Zeitzeugenberichte einfacher Bürger wie, nur beispielhaft, die der Überlebenden des Brünner Todesmarsches, hunderte von Zeugenschaften für die Geschehnisse der unmittelbaren Zeit des Kriegsendes, warnend und mahnend.

„Hitlers letzte Opfer“ benannte ARD seine Sendereihe über Vertreibung und Flucht vor einiger Zeit. Der Ausdruck ist treffend und widerspiegelt die Lage dieser Menschen.

Zumindest für die Tschechische Republik können diese Ereignisse nicht mit der zeitlichen Ablauffolge von Ereignissen erklärt oder gar verharmlost werden.

Historische Quellen sprechen von Visionen der Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung, die Edvard Beneš bereits seit Ende der 30-Jahre seiner Umgebung mitteilte und an denen er systematisch in seinem Londoner Exil arbeitete. Aus historischen Aufzeichnungen der Ansprachen Edvard Benešs ist sichtbar, daß er bewußt die Euphorie des Kriegsendes nutzte, um das Volk aufzuwiegeln und zu Racheakten zu bewegen. Das Gesetzeswerk, das nach ihm benannt wurde, die „Beneš-Dekrete“ entsprechen in ihren Maßgaben durchaus der menschenverachtenden Gesetzgebung der Jahre zuvor.

Die Vertreibung war ein kühl kalkulierter politischer Akt, für dessen Zustandekommen es eine Reihe von Gründen gab. Emotionen aufzuwiegeln und Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den wirklichen Geschehnissen abzulenken. Der Machtübernahme durch die Kommunistische Partei, den Verstaatlichungen, dem Unterschlupf der wirklichen Verbrecher des zweiten Weltkriegs, sei es im Ausland durch die Hilfe großer Organisationen, sei es durch eine wundersame Verwandlung in echte Patrioten und Widerstandskämpfer – durch die Annahme der Mitgliedschaft in der KP und andere.

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Bewußt möchte ich in diesem Kontext klarstellen, daß ich zu der Nachkriegsgeneration gehöre, aus einer seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts sozialdemokratisch geprägten Familie in Europa stamme und mich als Europäerin fühle. Ich habe, um allen Mißverständnissen vorzubeugen, keine nationalistisch geprägte gesellschaftliche Einstellung. Das Thema Vertreibung und Flucht, wie überhaupt die Einwirkung der Geschehnisse um den zweiten Weltkrieg beschäftigen mich erst seit den unglaublichen Worten Premiers Zeman von eineinhalb Jahren, die auch Grund waren für die Absage Ihrer damals geplanten Reise nach Prag.
Worte, die die Diskussion um die Geschehnisse der Kriegsauswirkung auf die Bürger Ost- und Mitteleuropas in Gang gebracht haben. Historie, die Menschen, Nachkriegsgenerationen wie mich und auch Jüngere sehr zu interessieren beginnt und zum Nachdenken und Engagement bewegt. In virtuellen oder Live-Diskussionsrunden, in Diplom-Arbeiten, in Seminaren und Tagungen. Sowohl in Deutschland, als auch in der Tschechischen Republik und in Österreich.

Und selbstverständlich auch zum Beobachten und Bewerten der Stellungnahmen führender Politiker zu diesen Themen und ihres Handelns innerhalb dieser Zusammenhänge. Dieses wird allmählich für mich und viele andere mit eines der wichtigen Entscheidungskriterien im Wahlverhalten.

Ich habe nicht den Eindruck, daß die nachfragende Nachkriegsgeneration die Vertreibung und Flucht der deutschsprachigen Bevölkerung alleine als ein Ergebnis der zeitlichen Abfolge sieht. Im Gegenteil. Sie sieht vielmehr klar ihre eigene Verantwortung für die Aufarbeitung der Geschichte und die Klärung und Dokumentation der Fakten, so unangenehm sie auch sein sollten.

Aber sie sieht auch die Verantwortung der Regierungen für die Notwendigkeit, heute aus eigenem Antrieb und eigenen Mitteln eine moralische Entschuldigung und Wiedergutmachung zu leisten. Selbst die Diskussion einer materiellen Entschädigung sehen, als Beispiel, sehr viele der tschechischen Bürger der Nachkriegsgeneration vielfach als erforderlich und notwendig an.

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Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, von Ihnen als dem gewählten Repräsentanten der Bürger dieses Landes wird erwartet, daß Sie richtungweisend und beispielhaft historische Fakten zu moralischen Grundsätzen und Wertvorstellungen umwandeln. Und in diesem Sinne die berechtigten Ansinnen der Bürger Ihres Landes vertreten.

Dazu gehört zum einen das Anliegen, die Abläufe und Hintergründe der Vertreibung und Flucht der deutschsprachigen Bevölkerung umfassend und ausführlich in einem Dokumentationszentrum, an zentralem Standort, festzuhalten.

Zum anderen das Anliegen, den heutigen Repräsentanten der Tschechischen Republik ihre moralische Verpflichtung anläßlich Ihrer bevorstehenden Reise in die Tschechische Republik unmißverständlich nahezulegen, die Geschehnisse, die unter dem Mäntelchen der legalen Gesetzgebung an Unschuldigen begangen wurden, offenzulegen und zu bereinigen. Sie zu einer unmißverständlichen Ungültigkeitserklärung des Gesetzeswerkes, bekannt unter dem Namen „Beneš-Dekrete“ aufzufordern, als auch zur Entschuldigung und Wiedergutmachung an Unschuldige.

Das Entschädigen der verbliebenen deutschen Minderheit in der Tschechischen Republik für die erlittenen Diskriminierungen wäre der erste Schritt. Allerdings nur dann, wenn die Entschädigung aus eigenen Mitteln geschieht und nicht, wie berichtet, aus den Mitteln des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds.

Ich bitte Sie eindringlich, diesem Auftrag der Bürger, Ihrer Wähler, zu entsprechen und wünsche Ihnen einen erfolgreichen Staatsbesuch.

Mit freundlichen Grüßen

Hanna Zakhari, geb. Rybnicky

Anlage:
Wahlliste der Sozialdemokratischen Partei in Brünn (Tschechoslowakei) aus dem Wahljahr 1924
(den Namen meines Vaters finden Sie auf Position 55)

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