Die NZZ Neue Zürcher Zeitung berichtete am 2. Mai 2001 (verbreitet durch den Heimatkreis Gerdauen):
Der Oberländische Kanal - eine technische Kuriosität

Per Schiff auf den Berg
Ein Kanal als technische Kuriosität in Nordpolen
ruh. Olsztyn, im April

Man traut seinen Augen nicht. Ein Schiff, das über eine saftige Wiese bergauf auf eine Anhöhe fährt? Eine Fata Morgana kann es nicht sein, denn die Szene spielt sich im eher kühlen polnischen Norden ab. Bei genauerem Hinsehen allerdings fährt das Schiff nicht auf dem Gras, sondern liegt auf einem Wagen, der mit Seilen eine Rampe hochgezogen wird. Und oben angekommen, taucht es mit dem Rumpf wieder in das ihm besser vertraute nasse Element ein.

Gleitbahnen als Attraktion
Ort der Handlung ist der Elblag-Ostroda-Kanal im nordpolnischen Ermland.
[Anmerk. Elblag = Elbing; Ostroda = Osterode/Ostpr.; im übrigen liegt der Kanal im OBERLAND und nicht im Ermland!]

Als das Bauwerk in der Mitte des 19. Jahrhunderts vom holländischen Ingenieur Georg Jakob Steenke entworfen und erstellt wurde, lautete sein Name indes Elbing-Osterode-Kanal oder auch Oberlandkanal. Denn damals war Ostpreußen deutsch; zu Polen gehört das Gebiet erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. [1945 wurde es unter polnische Verwaltung gestellt. Die Polen vertrieben fast die gesamte deutsche Bevölkerung bzw. hinderte die vor der Sowjetischen Front geflohenen Menschen an der Rückkehr in die Heimat. Ein völkerrechtmäßiger Vertrag über die Annexion kam nie zustande! ML]
Mit dem Oberland war das südliche Ostpreußen [südwestlichen Teil Ostpreußens, etwa die Kreise Preußisch Holland, Mohrungen und Osterode] gemeint, eine infrastrukturschwache, ländliche Gegend, die durch den Kanal besser erschlossen werden sollte.
Dabei galt es allerdings, ein großes Hindernis zu überwinden. Denn der Milomlyn-See [Liebemühl-See], der Scheitelpunkt der Wasserstraße, liegt fast hundert Meter höher als der Anfangspunkt des Kanals in Elblag, der sich auf Meeresniveau befindet.
Allein mit Schleusen war ein derartiger Höhenunterschied nicht zu bewältigen. Deshalb griff Steenke auf ein Prinzip zurück, das in England beim Kanalbau schon im 13. Jahrhundert angewendet worden war und in China sogar schon um das Jahr 1000 bekannt gewesen sein soll. Der Großteil des Höhenunterschieds sollte durch fünf mit Wasserkraft betriebene Gleitbahnen bewältigt werden. Diese waren zwischen 350 und 550 Metern lang und überwanden Höhenunterschiede von 13 bis 24,5 Metern. Die Gleitbahnen sind die einzigen in Europa und, wie von der Tourismusbehörde der Region Ermland und Masuren mit Stolz vermutet wird, vielleicht sogar der ganzen Welt, die bis heute mit ihrem ursprünglichen Antrieb in Betrieb stehen. Damit stellen sie ein einzigartiges Denkmal früherer Ingenieurskunst und nicht zuletzt auch eine touristische Attraktion dar.
Das Prinzip besteht darin, daß Wasser aus dem höheren Teil des Kanals auf ein Wasserrad geleitet wird, das über ein Getriebe die Drahtseile bewegt, an denen die Transportwagen für die Schiffe festgemacht sind. Diese funktionieren nach dem System einer Standseilbahn. Eine ausgeklügelte Konstruktion der Führungsschienen, auf denen die Wagen stehen, stellt am Anfangs- und Endpunkt der Gleitbahn sicher, daß das Schiff horizontal aus dem Wasser gehoben und wieder in den Kanal gelassen wird.
Auf die Transportwagen lassen sich dabei nicht nur die Ausflugschiffe laden, die auf dem Kanal verkehren, sondern auch ganze Gruppen von Kanutouristen, die dabei gleich in ihren Booten sitzen bleiben können.

Ausflugschiffe statt Lastkähne
Als das Kanalsystem, das neben dem rund 80 Kilometer langen Kernstück Elblag-Ostroda auch Seitenarme umfaßt und insgesamt mehr als 120 Kilometer lang ist, 1860 in Betrieb genommen wurde, war allerdings schon die Eisenbahn nach Ostpreußen gelangt. Dies beeinträchtigte die wirtschaftliche Bedeutung des Kanals; die Schifffahrt wurde aber dennoch aufgenommen. Bis 1912 waren es ausschließlich Warentransporte, namentlich von Holz sowie landwirtschaftlichen und industriellen Gütern. Später setzte dann die Ausflugschiffahrt ein, die während der Sommermonate bis heute betrieben wird. Die Reise von Elblag bis Ostroda dauert elf Stunden und führt durch ein landschaftlich reizvolles Gebiet.
Allerdings ist der Oberlandkanal nicht die einzige Wasserstraße von Bedeutung in der Region. Die masurische Seenplatte, zu welcher er am Westrand den Zugang von der Ostsee und dem Frischen Haff ermöglicht, ist ein einziges Geflecht von Seen, Teichen, natürlichen und künstlichen Wasserwegen. Heute sind deren Benützer neben der Ausflugschiffahrt vor allem Segler und Kanutouristen. Diese kommen in den Sommermonaten in Scharen nach Masuren, das zu den beliebtesten polnischen Feriengebieten gehört.

Schlußkommentar: So schön es auch ist, Berichte über Eigentümlichkeiten und besondere Anziehungspunkte ferner Länder zu lesen, so betrüblich ist es doch, wenn auf die Geschichte der Länder nicht eingegangen wird. Auch das (Ver-) Schweigen gehört zur Geschichtsfälschung! ML 2001-05-05

Ergänzende Angaben: von: hpkfuhlen@t-online.de
Georg Jakob Steenke wurde am 30. Juni 1801 in Königsberg/Pr. geboren. Sein Großvater Gottfried Steenke war Hafenlotse in Königsberg. Dessen Sohn, unseres St.s Vater, Johann Friedrich, hatte beruflich mit Seehandel und Schiffahrt zu tun. 1802 wurde er in Pillau Hafenmeister und Leiter der Hafenlotsen. Er ertrank 1818 bei der Rettung eines englischen Segelschiffes,
nachdem er 1817 dort den ersten (?) See-Rettungsdienst ins Leben gerufen hatte.
Unser Georg Jahkob Steenke studierte in Königsberg zunächst Jura, wandte sich später dem Wasser zu. (Seine Mutter übrigens eine geborene de Wulf). Im Memelgebiet baute er den Seckenburger Kanal und wurde 1836 zum "Inspekteur der Deiche und Dämme" in Elbing.
Dem Namen nach könnte Steenke durchaus niederländische Vorfahren haben – siedelten doch auch Tausende Niederländer in (Ost-)preußen. Schließlich gibt es auch im Oberland sogar die Stadt und den Kreis Preußisch Holland!
Jedenfalls wurde Steenke in der polnischen Literatur offenbar für einen Holländer gehalten, möglicherweise irrtümlich, möglicherweise auch bewußt – ich würde deswegen nicht zum Sturm blasen. Die ostpreußische Geschichte ist eh kompliziert. Sein Denkmal lag jedenfalls lange Jahre im Gras, bis endlich 1986 man so vernünftig wurde, den Stein wieder aufzustellen. Da man stur an der falschen Volkszugehörigkeit Steenkes festhielt, erschien er nun mit niederländischer Übersetzung. Übrigens gibt es noch einen Bezug zu Holland, denn die Idee, Schiffe zwischen den Kanälen auf Radwagen zu transportieren, soll es schon vor Jahrhunderten dort gegeben haben ("Overtoom"). Es ist nicht ausgeschlossen, daß Steenke von diesem Patent gehört hatte, zumal er auch eine Dienstreisen nach Holland unternahm.
Verwerflich ist nur, daß so ein Reporter  – zumal von der NZZ, die man für einigermaßen seriös halten sollte – solche Enten produziert, indem er der Anekdote nicht nachforscht. Wie gut, daß wir unser Ostpreußenforum im Netz haben.

Weitere Nachrichten sind zu finden in einer Broschüre über den Kanal,
die man wohl nur vor Ort kaufen kann:
"Der Oberländische Kanal" von Dariusz Barton (in deutscher Sprache),
Hrsg. Maria Wolska, PL-82-110 Sztutowo, ISBN 83-906095-7-6.

Schönen Gruß von der Weser von Peter Kalisch