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Richard Szklorz
Das Weitra-Gebiet – ein düsteres Kapitel der Vertreibung
Opfer unter allen Regimen

Jan Mlynarik, ehemaliger Dissident, später Professor an der Karls-Universität, ein Prager slowakischer Herkunft, initiierte bereits 1978 unter dem Pseudonym „Danubius“ in der in Paris erscheinenden tschechoslowakischen Exilzeitschrift „Svedectví“ eine inzwischen legendäre, kontrovers geführte Debatte über die Vertreibung der Sudetendeutschen. Nun meldet er sich mit einer umfangreichen Studie zu Wort, die eine auch in Tschechien weithin unbekannte „Episode“ der Nachkriegszeit zum Gegenstand hat – das tragische Schicksal der Bewohner des Weitra-Gebiets.

Diesen kleinen Landstrich im südböhmisch-österreichischen Grenzstreifen hatte die 1918 gegründete Tschechoslowakei ihrem österreichischen Nachbarn abgerungen, um die dort siedelnden Tschechen „heimzuholen“. Viele Weitraer fanden sich im neuen Staat jedoch nicht zurecht, fühlten sich von den Behörden vernachlässigt und ließen es am eingeforderten tschechischen Nationalbewußtsein fehlen.

Mit der Abtretung der Sudetengebiete an Deutschland im Herbst 1938 wurden die ärmlichen, katholisch und bäuerlich geprägten Dörfer ihrem früheren Gmünder Umland zugeschlagen – ein Schritt, den die Bewohner begrüßten. Obwohl dies letztlich eine Entscheidung für Hitler war (Österreich war ein halbes Jahr davor in der „Ostmark“ aufgegangen), will Mlynárik darin keinen Sündenfall sehen, sondern eher Ausdruck der lokalen Ausrichtung einer von der großen Politik fernen, ländlichen Bevölkerung.

Nach Kriegsende wurde die Weitra-Gegend Ziel einer gnadenlosen Strafaktion selbsternannter Revolutionsgarden. Es gab unter ihnen Rächer, die während der Nazizeit politisch verfolgt wurden, Glücksritter, die auf leichte Beute aus waren, oder Opportunisten, die sich nun mit einem überspannten Nationalismus und besonderer Grausamkeit ein Alibi für ihr früheres Stillhalten oder gar ihre Kollaboration zu schaffen suchten. Mit gut recherchiertem Material rekonstruiert Mlynárik den Massenmord an 14 Bewohnern des Dorfes Schwarzbach und die zeitgleiche Vertreibung von mehreren Tausend Weitraern.

Da es sich bei den Betroffenen aber eindeutig um Tschechen handelte (von denen etliche nicht einmal deutsch sprachen) und das Weitra-Gebiet doch einzig und allein wegen der Ethnizität dieser Bevölkerung 1918 Österreich entrissen worden war, drohte sich die Angelegenheit für die Beneš-Regierung zu einer internationalen Affäre auszuweiten, was letztlich den Ausschlag dafür gab, daß die Betroffenen nach Monaten des Vegetierens in grenznahen Wäldern in ihre ausgeplünderten Häuser zurückkehren durften.

Nach dem kommunistischen Putsch im Februar 1948 gerieten die „unzuverlässigen“ Bewohner erneut ins Visier der Obrigkeit, da ihre Dörfer im erweiterten Sicherungsbereich des neuen Grenzregimes lagen. Im Jahre 1953 wurden sie, diesmal selektiver, von einer neuen Vertreibungsaktion heimgesucht, in einer Nacht- und Nebelaktion zu Hunderten auf Lastwagen verfrachtet und in ihnen zugewiesene Orte im Landesinneren gebracht. Über viele Jahre war es ihnen untersagt, ihre engere Heimat zu besuchen.

Jan Mlynárik ist nicht nur Historiker. Als streitbarer Zeitgenosse will er mit seinem Buch den geschundenen Weitrabewohnern Gerechtigkeit widerfahren lassen. Seine Arbeit konnte bislang nicht auf Tschechisch erscheinen. Auch die Hilfe des „Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds“, der ansonsten Buchprojekte fördert, blieb dem Autor versagt. Das Buch behandelt ein heikles Thema mit aktuellem Bezug. Es gibt betroffene Familien auf der Opferseite und einen immer noch lebenden Akteur auf Seiten der Täter, Frantisek Ríha, der an der Massenerschießung von Schwarzbach beteiligt war. Bemühungen von Ferdinand Korbel, dessen Vater einer der Erschossenen war, Ríha wegen Völkermords zur Verantwortung zu ziehen, sind am Tschechischen Verfassungsgericht gescheitert.

Obwohl das Buch eine lokale Begebenheit behandelt, sind die in ihm geschilderten Ereignisse beispielhaft für den brutalen Mechanismus des damaligen Umbruchs. Zu einem besseren Verständnis müßte aber zweifellos eine Abwägung der davor liegenden sechs Jahre der deutschen Besetzung gehören – mit ihrer Mißachtung rechtsstaatlicher Normen, der Menschenwürde, ja des Rechts auf das Leben selbst. Daß diese Zeit bei Mlynarik nicht allzu sehr wiegt, verwundert. Das Fehlen mag dem innertschechischen Diskurs geschuldet sein, in dem der Hinweis auf Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht häufig als generelle Entlastungsformel dient, mit der die große Sünde der Vertreibung exkulpiert oder bagatellisiert wird.

Da im Buch fast ausschließlich alte deutsche Namen der böhmischen Orte verwendet werden, ist es bedauerlich, daß die Kapazitäten des Verlages nicht mehr für eine vollständige deutsch-tschechische Konkordanz ausreichten. Das erschwert die Orientierung in diesem ansonsten wichtigen Beitrag zur europäischen Regionalgeschichte und zur gegenwärtigen Vertreibungsdebatte.
Richard Szklorz

Jan Mlynarik

Fortgesetzte Vertreibung. Vorgänge im tschechischen Grenzgebiet 1945 – 1953.
F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 2003;
480 S., 39,90 Euro

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