http://www.aktion-west-ost.de/neu/veranstaltungen/2001/novemesto/todesmarsch.html
Ein Auszug über den Bericht einer deutsch-polnisch-tschechischen Jugendbegegnung in Neustadt (Nové Mesto) im Sommer des Jahres 2001
http://www.aktion-west-ost.de/neu/veranstaltungen/2001/novemesto/index.html

aufgefischt auf Hinweis meines in Brünn geborenen Freundes Fritz J.
ML 2002-01-31

Diskussion mit Ondrej Liška zum heutigen Umgang mit dem Brünner Todesmarsch

Am lauen Sommerabend nach dem Besuch der Stadt Brünn fand auf der Terrasse mit interessierten Teilnehmern eine Diskussion zum Thema Todesmarsch statt. Gekommen sind trotz des heißen und langen Tages in Brünn über 30 Teilnehmer.

Besonders spannend entwickelte sich die Diskussion über den sogenannten Brünner Todesmarsch – die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Stadt Brünn, die von der Verwaltung der Stadt angeordnet worden war und zu 2.000 Toten und 20.0000 Vertriebenen führte. Geleitet wurde die Diskussion von Ondrej Liška. Der Politikstudent aus Brünn gehört zur Gruppe MIP (Mládež pro interkulturní porozumení), die im Sommer 2000 in einem Anschreiben den Brünner Stadtrat anläßlich des 50. Jahrestages des Todesmarsches zu einer offiziellen Entschuldigung aufgefordert hatte.

Ondrej berichtete, wie es zu dem Aufruf gekommen war. Das Ganze entwickelte sich als „verrückte Idee“ nach einem Kneipenbesuch. Der Aufruf, als eMail an den Stadtrat geschickt, sorgte für sofortigen Auffuhr im Brünner Rathaus. Ausschlaggebend war auch der Kontakt zu einem Augenzeugen des Todesmarsches, der überlebt hat. Im Magistrat war man verwirrt, wieso junge Leute plötzlich an alter Geschichte interessiert sind, und wie man darauf reagieren sollte. Diese Unsicherheit, altes Denken und Angst vorm Verlieren bequemer Posten führte bei manchen Politikern zu einem merkwürdigen Verhalten in der Öffentlichkeit, mit dem sie sich vom Thema entfernen wollten. Als Höhepunkt der Debatte können die Worte eines Politikers bei einer daraufhin anstehenden Pressekonferenz gekennzeichnet werden: „Man kann nicht genau sagen, ob es sich um eine gewaltsame Vertreibung gehandelt hat, aber man kann sagen, daß es schlecht organisiert war.“ (!)

Ondrej betonte jedoch immer wieder, daß es ihm nicht (in erster Linie) um die Generation der Vertriebenen geht, sondern um die heutige Bevölkerung Tschechiens und Brünns.
Er nimmt keine Einladungen mehr von Vertriebenenverbänden an, bei denen er sich für den Aufruf auf die Schulter klopfen lassen müßte, noch von Verbänden älterer Brünner Bürger, die ihn bei einer Diskussion einmal nahezu mit ihren Regenschirmen bedroht hätten...

Die Diskussion mit der Erlebnisgeneration zu führen, war gar nicht Intention des Aufrufs von MIP. Es geht vielmehr um die Gegenwart und Zukunft. Ondrej sagte, daß es um eine Auseinandersetzung in der heutigen tschechischen Gesellschaft gehe.

Die allermeisten Bewohner Brünns wußten vor dem Aufruf nichts oder nicht viel über den Todesmarsch. Ein wesentliches Ereignis in der jüngeren Geschichte der eigenen Stadt. Man kann nach Ondrejs Auffassung nur in einem demokratischen, bürgerlichen Staat leben, wenn die Vergangenheit bekannt, präsent und aufgearbeitet ist. Nur so läßt sich die junge Demokratie in Tschechien weiter aufbauen. Hier wurde, wie aus anderen Zusammenhängen auch bekannt, deutlich, daß in den meisten Ländern Osteuropas im Gegensatz zu Deutschland keine Aufarbeitung der NS-Zeit stattgefunden hat, diese jedoch zur Zeit beginnt (Stichwort: Jedwabne in Polen).

In diesem Zusammenhang haben wir thematisiert, daß es verschiedene Zugänge zur Schuldfrage in diesem Bereich geben kann. Auch wenn MIP den Aufruf zur Entschuldigung an den Stadtrat gerichtet haben, weil sie sie als unmittelbaren Rechtsnachfolger des Stadtrates aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges ansehen, bleibt die Frage offen, wer genau und warum heute jemand Schuld für Verbrechen aus der NS-Zeit trägt. Gibt es eine Kollektivschuld, die die Gesellschaft als Ganzes trägt, oder besteht so etwas wie eine „Intimschuld“, eine Art persönliche Schuld jedes einzelnen?

Für die Zukunft ist ein neues Projekt geplant. Ziel von MIP ist es, daß die vorhandenen Archive und Materialen in Bezug auf eine Rekonstruktion und Aufbereitung der Geschehnisse von 1945 gesichtet, ausgewertet und dokumentiert werden. Im Moment sind Mittel beantragt, um ein Buch über den Todesmarsch herauszugeben. Unter Beteiligung von Historikern sollen Augenzeugen und andere Berichte festgehalten werden, damit für die Zukunft die Geschehnisse unmittelbar dokumentiert bleiben.