Nationale Autonomie im Vielvölkerstaat - Der Mährische Ausgleich
Herausgegeben von der
Sudetendeutschen Stiftung, Am Lilienberg 1, 8000 München 80,
als Heft 1 der Schriftenreihe der Sudetendeutschen Stiftung.
Ein unveränderter Nachdruck ist zu beziehen von der Sudetendeutschen
Landsmannschaft, Schuster@Sudeten.de
Landtagsbeschluß unter militärischen Schutz
Die Mehrheitsverhältnisse im mährischen Landtag
Auswirkungen auf das Nationalitätenrecht
Nationale Autonomie und Volksgruppenrecht nach dem Zweiten Weltkrieg
Texte bzw. Textauszüge der vier mährischen Landesgesetze aus dem Jahre 1905:
Vorwort
Die Sudetendeutsche Stiftung in Bayern hat nicht nur die Aufgabe, kulturfördernd in
allen Bereichen der sudetendeutschen Volksgruppe tätig zu sein. Es ist ihr Auftrag, dort
selbst tätig zu werden, wo ein Träger fehlt bzw. die Notwendigkeit für Tätigwerden auf
die Stiftung zukommt.
So soll es auch verstanden werden, wenn die Sudetendeutsche Stiftung mit diesem Heft beginnt, in unregelmäßigen Abständen bei Bedarf Publikationen herauszubringen. Diese Publikationen sollen im Rahmen des Stiftungszwecks erfolgen und alle mit dem Schicksal und den Zielen der sudetendeutschen Volksgruppe zusammenhängenden Fragen behandeln.
Mit diesem nun vorliegenden ersten Heft der Schriftenreihe will die Sudetendeutsche Stiftung dazu beitragen, daß über den Mährischen Ausgleich vom Jahre 1905 breiteres Wissen innerhalb und außerhalb der sudetendeutschen Volksgruppe vermittelt wird. Der Mährische Ausgleich war ein systematisch und großangelegter verfassungsrechtlicher Versuch in einem Vielvölkerstaat, ein geordnetes Zusammenleben mehrerer Volksgruppen unter Wahrung ihrer Identität zu gewährleisten.
Unsere Zeit lehrt uns, daß die meisten Konflikte aus dem ungeregelten Nebeneinander von Volksgruppen entstehen. Machtbesessene und Ideologien nutzen die berechtigten Anliegen einzelner Volksgruppen, um Kriege zu entfesseln. Ein international kodifiziertes Volksgruppenrecht würde ihnen zumindest einen Teil der Möglichkeiten des Mißbrauchs der Anliegen von Volksgruppen nehmen.
Die vorliegende Arbeit soll darstellen, was der Mährische Ausgleich war. Auch soll das Fortwirken seiner Idee in unsere Zeit hinein dargestellt werden.
Die Sudetendeutsche Stiftung weiß Herrn Privatdozenten Dr. Horst Glassl besonderen Dank, daß er sich als Wissenschaftler zur Verfügung gestellt hat, eine auch für den historisch nicht so belesenen Interessierten leicht faßliche Darstellung des Mährischen Ausgleichs in diesem Heft zu geben. Herr Dr. Glassl ist der Verfasser der wohl umfangreichsten und fundiertesten Monographie über den Mährischen Ausgleich, einer Arbeit, die 1967 erschienen ist und sehr viel Beachtung gefunden hat.
München, im Juli 1977
Dr. Fritz Wittmann, MdB
Vorsitzender des Vorstandes der Sudetendeutschen Stiftung
Horst Glassl:
Nationale Autonomie im Vielvölkerstaat
Der Mährische Ausgleich
Landtagsbeschluß unter militärischen Schutz
Es war am 16. November 1905, an einem kalten und unfreundlichen Wintertag, als früh am Morgen durch die gefrorenen Straßen der Landesmetropole Brünn die mährischen Landtagsabgeordneten zum Landhaus zogen. Die Stadt selber war von Militäreinheiten besetzt und um das Landhaus stand ein starkes Aufgebot staatlicher Polizei. Nur Personen mit Passierscheinen durften in das Gebäude. Die Straßen und Plätze der Stadt in der Umgebung des Landtagsgebäudes boten bis zum späten Nachmittag das Bild einer Stadt, die sich im Belagerungszustand befand. Es handelte sich um Abteilungen von drei Infanterieregimentern, die den Sicherheitsdienst übernommen hatten. Ihre Aufgabe war es, das Landhaus vor eventuellen politischen Demonstranten zu schützen, die die Verabschiedung von zwei wichtigen Landesgesetzen verhindern wollten, mit denen mehrere politische Gruppen im Lande nicht einverstanden waren. 1)
Die erste abschließend zu behandelnde Gesetzesvorlage betraf eine grundsätzliche Änderung der Landesordnung (Landesverfassung), die zweite eine neue Landtagswahlordnung. Diese zwei Gesetze gehörten zu einem Bündel von vier Gesetzen, welche die politischen den ethnographischen Verhältnissen des Landes anpassen wollten und daher als nationaler Ausgleich bezeichnet wurden. Dieses Gesetzeswerk wurde von einer Gruppe tschechischer und deutscher Landtagsabgeordneten mit dem Ziel ausgehandelt, die Mehrheitsverhältnisse im Landtag, bei den Landes- und Schulbehörden zu ändern. Zu diesem nationalen Ausgleich gehörten also außerdem noch ein Schulgesetz und ein Sprachengesetz für die Schulen und Behörden des Landes.
Neun Jahre lang, unterbrochen durch kürzere und längere Pausen, hatten die Landtagsausschüsse, in denen deutsche und tschechische Abgeordnete saßen, über diese Gesetze verhandelt. Allerdings hatten die deutschen Abgeordneten in diesen Landtagsgremien die absolute Mehrheit, obwohl der deutsche Bevölkerungsanteil im Lande nur etwas über 27% lag.
Die Reformgesetze kamen deswegen solange nicht zum Abschluß, weil die Ziele einer
solchen Reform in beiden nationalen Lagern in einer anderen Richtung lagen und man sich
neun Jahre hindurch nicht auf einen Kompromiß einigen konnte. Die Standpunkte beider
nationalen Gruppen waren so festgefahren, daß es geradezu überraschend war, als
plötzlich, obwohl die Verhandlungen über diese Materie erst vor einem Monat wieder
intensiv aufgenommen worden waren, eine Einigung zustande kam. Selbst die Bekanntgabe
eines positiven Vergleichs in den entsprechenden Landtagsausschüssen, der endgültig
einige Tage vor dem 16. November 1905 zwischen einem Teil der tschechischen und deutschen
Parteien zustandegekommen war, wurde bis zum Beginn der Landtagssitzung geheimgehalten.
Nur am Tag vorher waren darüber Meldungen in der tschechischen Tagespresse zu lesen.2)
Diese Geheimhaltung schien der autonomen mährischen Landesverwaltung und der k. k.
Statthalterei als notwendig, um ein radikales Eingreifen verschiedener Gruppen aus den
beiden nationalen Lagern und aus der sozialistischen Partei zu verhindern. Neben Exzessen
aus nationalen Kreisen fürchtete man auf Seiten der Regierung auch Übergriffe der
organisierten Arbeiterschaft. Denn das russische Beispiel einer Arbeiterrevolution im
Jahre 1905 schien Schule zu machen.
In ganz Europa sah die organisierte Arbeiterschaft in den Vorgängen in Rußland ein
Signal zum harten Kampf, um ihre politischen und sozialen Forderungen durchzusetzen. Auch
im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn fehlte es nicht an derartigen Versuchen der
politisch organisierten Arbeiterschaft. Hauptziel der Sozialdemokraten in der
Donaumonarchie war es, die Einführung allgemeiner, gleicher, geheimer und freier Wahlen
in allen Bereichen des Staates durchzusetzen. Dazu gehörten in Österreich-Ungarn die
Volksvertretungskörper der Gemeinden, die Landtage, der österreichische Reichsrat und
der ungarische Reichstag. Die Durchsetzung dieser Forderung nach derartigen Wahlen hätte
die Mehrheiten in den Parlamenten des Habsburgerreiches grundlegend verändert.
Im Wesentlichen verfochten die tschechischen Parteien, vor allem die Jungtschechen, die gleiche politische Forderung. Ihr Ziel war aber in erster Linie darauf gerichtet, die nationale Zusammensetzung der Parlamente und der Exekutive den Mehrheitsverhältnissen in der Bevölkerung anzupassen.
Ablehnend standen einem nationalen Ausgleich in Mähren auch verschiedene radikale deutsche Parteien und Verbände gegenüber, weil durch eine derartige Reform die historisch gewachsenen Privilegien der Deutschmährer, die in der Legislative und Exekutive des Landes immer noch knapp die Mehrheit behaupteten, weitgehend abgebaut werden mußten. Sie sahen in Gesetzen, welche diese deutsche Mehrheit verschwinden ließen, eine Bedrohung, ja sogar den Untergang des deutschen Elements in Mähren. Ihre Forderungen liefen darauf hinaus, die bestehenden Zustände zu konservieren oder sogar noch zu verstärken.
Aus Furcht, daß diese verschiedenen politischen und nationalen Gruppen, den
Landtag hindern könnten, den soeben in den Landtagsausschüssen erzielten Kompromiß zur
Änderung der Landesverfassung zu verabschieden, sah sich der umsichtige Landeshauptmann
(Chef der Landesregierung) von Mähren, der Graf Vetter von der Lilie gezwungen, im
Einvernehmen mit dem k. k. Statthalter (Vertreter des Kaisers und der Wiener
Zentralregierung) Graf Karl Zierotin Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine freie
Diskussion und Beschlußfassung über die Reformgesetze im Landtagsplenum ermöglichten.
Trotz der gespannten Atmosphäre, infolge der polizeilichen und militärischen
Vorkehrungen, waren die Abgeordneten vollzählig zur Landtagssitzung erschienen. Dies war
auch unbedingt erforderlich, denn zur Änderung der Landesordnung (Landesverfassung) der
Markgrafschaft Mähren war neben dem kaiserlichen Placet (Sanktion) die
Zustimmung von mindestens zwei Dritteln bei Anwesenheit von drei Vierteln der Abgeordneten
im mährischen Landtag erforderlich.3)
Allein das Fehlen von mehr als 25% der Abgeordneten hätte eine Änderung der
Landesordnung blockiert. Sowohl die tschechischen als auch die deutschen Parteien hätten
diese Sperrminorität besessen. Bis zum Beginn der Landtagssitzung fürchtete man auf
Seiten der Exekutive, daß eventuell die tschechischen Abgeordneten von diesem durch die
Landesordnung verbürgten Recht Gebrauch machen würden.
Nach Eröffnung der Sitzung erteilte der Landeshauptmann, der nach der
Landesordnung gleichzeitig als Präsident des Landtags fungierte, dem
Ausschußberichterstatter, dem Freiherrn Alfred von Skene, das Wort, der über die
Ergebnisse der Ausschußberatungen zur Änderung der Landesordnung berichten sollte.4)
Skene ging dabei zunächst auf die Geschichte der zur Beratung anstehenden
Gesetzesvorlage zur Änderung der Landesordnung ein, die den Landtag schon neun Jahre
hindurch beschäftigt hatte. Bei der Behandlung des Grundsätzlichen hob er hervor, daß
die jetzige Vorlage einen Kompromiß darstelle. Die neue Landtagswahlreform habe zwar
nicht das allgemeine Wahlrecht eingeführt, weil der Landtag hauptsächlich über
wirtschaftliche Belange zu entscheiden habe, und deswegen wäre eine wirtschaftliche
Interessenvertretung besser am Platze.
Dennoch sollten gegenüber dem alten Wahlgesetz nach der neuen Wahlordnung breitere
Bevölkerungsschichten im Landhaus vertreten sein als bisher. Die Militärischen
Maßnahmen vor dem Landhaus begründete Baron Skene als Schutz gegen den unorganisierten
Pöbel, der sich leicht von Schreiern und Scharfmachern aufputschen ließe. Der
Sozialdemokratie bescheinigte der Abgeordnete, daß sie bisher keine Gewalttätigkeiten
unternommen hätte, weil bei ihrer guten Organisation und durch ihre Disziplin
Gewalttätigkeiten einzelner leichter verhindert werden könnten. Er fand weitere lobende
Worte für die Sozialdemokraten, mit deren Führer er am Tag vorher noch verhandelt hatte
und deren stillschweigendes Einverständnis vorlag, daß sie am heutigen Tage nicht durch
Massendemonstrationen die Landtagssitzung sprengen würden.
Als Ziel des nationalen Ausgleichs stellte Skene heraus, daß die beiden großen Volksstämme der Markgrafschaft Mähren, Tschechen und Deutsche, sicher nebeneinander leben und in dieser wirtschaftlichen schwierigen Zeit friedlich miteinander für den wirtschaftlichen Fortschritt des Vaterlandes arbeiten könnten.
Mit diesen Gesetzen, so führte Skene aus, sei die Existenz der nationalen Minderheit der Deutschen in diesem Lande geschützt und dafür würden sie die Mehrheit im Landesparlament an das tschechische Volk abgeben und auf die politische Führung verzichten.
Die tschechische Minderheit im Landtag vertrat durch ihren Sprecher, den Abgeordneten Stránsky, in einer ausführlichen Rede die Meinung, daß allein nur das allgemeine Wahlrecht der Lage des Landes gerecht würde. Er glaube nicht so sehr, daß der nationale, sondern vielmehr der soziale Friede im Lande durch Zementierung des Klassenwahlrechts gefährdet sei, und daher stimme er gegen die Reform und empfehle den Abgeordneten die Annahme seines Antrages, der das allgemeine und gleiche Wahlrecht im Lande verlangte.
Nachdem noch verschiedene Abgeordnete, vor allem aus der Kurie des
Großgrundbesitzes, für die Reform gesprochen hatten, schritt man zur Abstimmung.5)
Mit qualifizierter Mehrheit wurden diese beiden Gesetze zur Änderung der
Landesordnung und Landtagswahlordnung durch den Landtag gegen die Stimmen der
tschechischen bürgerlichen Parteien angenommen, und wenige Tage darauf am 22. November
1905 wurden auch das Schulgesetz und das Gesetz über den Sprachgebrauch bei den automomen
Behörden vom Landtag ordnungsgemäß wiederum gegen die bürgerlichen tschechischen
Abgeordneten ohne Störaktionen verabschiedet. Somit war der nationale Ausgleich in
Mähren, da er kurz darauf durch den Kaiser sanktioniert wurde, in Kraft getreten.
Die bürgerlichen tschechischen Abgeordneten und einige radikale deutsche Mitglieder des Landtags, die dagegen stimmten, hätten durch ihren Auszug aus dem Landtag, da sie mehr als 1/4 der Mitglieder des Hauses ausmachten, die Ausgleichsaktion verhindern können. Durch ihr Verbleiben ermöglichten sie die Annahme dieser Gesetze und gaben zum Ausdruck, daß sie den nationalen Ausgleich in der vorliegenden Form tolerieren wollten.
Die österreichische Öffentlichkeit war über diese nationale Befriedungsaktion in Mähren überrascht. Gerade dort, so glaubte man, stünden die nationalen Interessen sich genau frontal gegenüber und man hielt eine Einigung geradezu für unmöglich. Worin bestand nun dieser nationale Ausgleich, der vor allem im böhmischen Landtag schon so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte und geradezu durch eine tragische Verkettung von Umständen nicht zustandegekommen war?
Die alte Landesordnung
Seit der Einführung der Schmerling'schen Verfassung durch das Februar-Patent des
Jahres 1861 besaß die Markgrafschaft Mähren einen Landtag, der aus 100 Abgeordneten
bestand, welche nach einem komplizierten Kurienwahlsystem bestimmt wurden.
Allein schon kraft ihres Amtes waren der Erzbischof von Olmütz und der Bischof von
Brünn Mitglieder der Landesvertretung (Virilstimmen).
An zweiter Stelle kam die Kurie der Großgrundbesitzer mit 30 Abgeordneten, die in
sich wieder in zwei Wahlkörper zerfiel.6)
Zu der ersten Gruppe gehörten 5 Abgeordnete, die von den wahlberechtigten
großjährigen Besitzern der mit der Fideikommißbande behafteten und in der Landtafel
eingetragenen Gütern gewählt wurden. Diese Güter durften nur innerhalb derselben
Familie, in der Regel an den erstgeborenen männlichen Nachkommen, oder innerhalb
derselben Korporation (Kloster, Orden) weitervererbt, nicht veräußert und nie durch
Hypothekenschulden belastet werden. Der jeweilige Besitzer solcher Güter konnte nur das
Nutzungsrecht wahrnehmen.
Der zweite Wahlkörper des Großgrundbesitzes bestand aus 25 Abgeordneten. In
dieser Kurie waren die großjährigen Besitzer landtäflicher Güter wahlberechtigt, die
mehr als 250 Gulden landesfürstliche Steuern bezahlten.
Für die beiden Wahlkörper des Großgrundbesitzes war das ganze Land je in einem
einzigen Wahlkreis eingeteilt und die Abgeordneten wurden in direkter Wahl in der
Landeshauptstadt Brünn bestimmt.
Innerhalb der Kurie des Großgrundbesitzes gab es drei Parteirichtungen: eine
rekrutierte sich aus dem konservativen Adel und der hohen Geistlichkeit. Sie lehnten die
zentralistische Schmerling'sche Reichsverfassung ab und traten in gemäßigter Form oder,
besser gesagt, in mährischer Form für das historische Recht der böhmischen Krone ein.
In nationalen Belangen stimmten sie mit den tschechischen Abgeordneten des Landtages.
Diese Gruppe blieb meist unverändert, und sie hatte, abgesehen von einzelnen
Schwankungen in den 70iger Jahren des 19. Jahrhunderts, 7 Vertreter im Landtag.
Die zweite Gruppe wurde als sogenannter verfassungstreuer Großgrundbesitz
bezeichnet, weil sie sich zur Schmerling'schen Reichsverfassung bekannte. In nationalen
Angelegenheiten unterstützte sie die Belange der deutschen Parteien. Diese Gruppe besaß
meist 18 bis 20 Mitglieder im Landtag.
Außerdem gab es im mährischen Großgrundbesitz noch eine kleine Anzahl von Abgeordneten als dritte Gruppe, die sich als Mittelpartei bezeichneten und sich ihrer Herkunft nach zum Deutschtum bekannten, aber bei der Behandlung von nationalen Fragen im Landtag ausgleichend wirkten, und einmal für diese und das andere Mal für jene nationale Gruppe stimmten. Diese Mittelpartei besaß drei bis sechs Vertreter im Landtag. Zu ihr gehörten meist deutsche Großgrundbesitzer oder Unternehmer, deren Güter oder Industrieanlagen in rein tschechisch besiedelten Gebieten des Landes lagen, und deren Besitz daher bei nationalen Unruhen am meisten bedroht war. Ihr Interesse bestand darin, die nationalen Angelegenheiten zur Zufriedenheit beider Volksstämme zu lösen, um Exzesse auf beiden Seiten zu vermeiden7).
Die zweite Kurie des Landtages war die der Städte und der
Handelskammern. Direkt gewählt wurde nach dem Mehrheitswahlrecht in 31 städtischen
Wahlkreisen je ein Abgeordneter. Das Wahlrecht in den Städten besaßen aber nur Bürger,
die jährlich mindestens 10 Gulden direkte Steuern zahlten. In Brünn wurde sogar ein
Wahlzensus von 20 Gulden gefordert. Ehrenbürger der Städte, und andere Personen, die
durch überdurchschnittliche Bildung hervorstachen, wie z.B. Lehrer, Pfarrer, Richter und
Notare, die bereits für die Gemeindevertretungen das Wahlrecht hatten, konnten auch zum
Landtag wählen.
Sechs Mitglieder dieser Landtagskurie wurden aus den Reihen der Handels- und
Gewerbekammernmitglieder gewählt. Davon kamen drei aus Brünn und drei aus Olmütz. Sie
wurden nach den Regeln des Mehrheitswahlsystems bestimmt und dabei wurden, da die
deutschen Vertreter die absolute Mehrheit besaßen, tschechische Bewerber ausgeschaltet.
Die dritte Kurie zur Landtagswahl bildeten die Landgemeinden. Hier wurde je ein Abgeordneter in 31 ländlichen Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt. Wahlberechtigt waren alle großjährigen männlichen Bewohner einer Landgemeinde, die mindestens 5 Gulden direkte Steuern zahlten. Die Wahl der Landtagsabgeordneten in den Landgemeinden war eine mittelbare Wahl durch Wahlmänner. Die Wahlmänner wurden in offener Wahl, oft durch einfaches Handzeichen oder per Akklamation bestimmt. Durch diesen Wahlmodus kam es häufig zu Unregelmäßigkeiten, weil eine freie Meinungsbildung nicht möglich war. Reiche Grundbesitzer oder andere Dorfhonorationen bestimmten, wer als Wahlmann in der Dorfschänke gewählt wurde. Dieses Wahlverfahren bildete einen Stein des Anstoßes in beiden nationalen Lagern und wurde durch die Landtagswahlreform beseitigt8).
Die Listen der Wahlberechtigten wurden von den Gemeinde- und Stadtverwaltungen
angefertigt. Im großen Grundbesitz war es der Statthalter selbst, der das
Wählerverzeichnis anlegte. Der Statthalter nahm auch Reklamationen gegen Wählerlisten
entgegen.
Die Legislaturdauer des Landtags war in der Landesordnung auf 6 Jahre festgelegt.
Die Kompetenzen des Landtags und der autonomen Landesverwaltung waren durch das Februar-Patent von 1861 und die Dezember-Verfassung des Jahres 1867 genau festgelegt. Als Landesangelegenheiten galten die Landesfinanzen, landwirtschaftliche Angelegenheiten, Gemeindeangelegenheiten, Kirchen- und Schulangelegenheiten, zu denen die cisleithanische Reichshälfte Rahmengesetze gab. Es gab also wenig Raum für die autonome Verwaltung. Österreich war damals in seiner Struktur mehr zentralistisch als föderalistisch.
Die
Mehrheitsverhältnisse im mährischen Landtag
In der fünften Landtagsperiode von 1871 1877 hatten die
tschechischen Parteien fünf Mandate in den Städten und 23 in den Landgemeinden, also
zusammen 28 Mandate von den insgesamt 68 Mandaten, die in diesen beiden Kurien gewählt
wurden.
In der 7. Landtagsperiode veränderte sich schlagartig die Sitzverteilung
zugunsten der tschechischen Abgeordneten. Sie errangen in den Städten und Landgemeinden
36 von 68 Sitzen. Damit hatten sie also in beiden Kurien zusammen bereits die absolute
Mehrheit. Die deutschen Parteien dagegen hatten in beiden Kurien nur 32 Vertreter in den
Landtag entsenden können. Zur Mehrheitsbildung im Landtag waren bei insgesamt 100
Abgeordneten mindestens 51 Stimmen erforderlich. Die deutschen Vertreter waren also auf
die Zustimmung des verfassungstreuen Großgrundbesitzes, der meist an die 20 Abgeordnete
besaß, angewiesen.
Die Hoffnung der tschechischen Parteien ging dahin, nach und nach den deutschen
Parteien ein Städtemandat um das andere abzujagen. Man rechnete auf tschechischer Seite
auch damit, im Laufe der Zeit in den Handels- und Gewerbekammergremien die Mehrheit zu
erlangen, um dort die jetzt deutschen Abgeordneten durch Tschechen zu ersetzen. Diese
Entwicklung zeichnete sich bereits bei den einzelnen Landtagswahlen ab. Infolge der
wirtschaftlichen Emanzipation der tschechischen Bevölkerung und des Übertrittes
zahlreicher jüdischer Bevölkerungsteile sowie einer zweisprachigen städtischen
Bürgerschicht zum Tschechentum verloren die deutschen Parteien immer mehr Mandate in den
Städten9).
Der zweite Weg der tschechischen Parteien, die Einführung des allgemeinen
Wahlrechtes, die am weitestengehende tschechische Forderung, welche die jungtschechische
Partei beharrlich anstrebte, hätte sowieso die nationalen Mehrheitsverhältnisse
grundlegend verändert. Denn nach der Volkszählung des Jahres 1900 bedienten sich ca. 72%
der Bewohner des Landes der tschechischen und 27% der deutschen Umgangssprache. Die
tschechischen Parteien hätten dadurch eine Zweidrittelmehrheit im Landtag erreicht.
Durch das Mehrheitswahlrecht wäre die tschechische Mehrheit in den Städten und
in den Gebieten mit kleinen deutschen Sprachinseln noch stärker hervorgetreten, weil die
deutsche Minorität restlos überstimmt worden wäre.
Für die deutsch-mährischen Politiker, die bisher das Landesregiment in den Händen
hielten, wurde es immer schwieriger, eine Landtagsmehrheit für ihre Politik zu erhalten.
Ohne die Zustimmung des verfassungstreuen Großgrundbesitzes konnten sie ihre politischen
Forderungen schon längst nicht mehr durchsetzen. Im Gegenteil, sie konnten sich sogar die
Zeit ausrechnen, in der sie noch mehr städtische Mandate verlieren würden, und dann
selbst mit Hilfe des verfassungstreuen Großgrundbesitzes keine Mehrheit mehr im Landtag
besäßen. Daher waren die deutsch-mährischen Politiker bereit, auf die deutsche
Landtagsmehrheit in Brünn freiwillig zu verzichten, wenn ihrerseits ihnen von
tschechischer Seite verfassungsrechtlich verbrieft wurde, daß sie ihre nationalen Belange
selber ohne tschechische Einmischung oder Unterstützung erledigen konnten.
Die konservativen tschechischen Politiker waren bereit, den Deutschen derartige
Zugeständnisse zu machen. Die radikalen jungtschechischen Abgeordneten dagegen glaubten,
die Zeit kommen zu sehen, daß man ohne derartige Zugeständnisse an die deutschen
Parteien im mährischen Landtag nach eigenem Gutdünken verfahren könnte. Solange die
deutschen Vertreter im Landtag noch ihre Mehrheit hatten, ernannte auch Kaiser Franz
Joseph den Landeshauptmann, den Chef der autonomen Landesverwaltung, aus den Reihen des
verfassungstreuen Großgrundbesitzes.
Von den 6 Beisitzern im Landesausschuß, der also einer Landesregierung
gleichgestellt werden konnte, standen 3 deutsche 2 tschechischen Vertretern gegenüber.
Das hätte sich schlagartig bei der Änderung der Sitzverteilung im Landtag geändert.
Das Ausgleichswerk
Modelle und Vorbilder zum Schutz der nationalen Angelegenheiten, um in
den Landesregierungen und Landesparlamenten zufriedenstellend zu lösen, gab es für die
Markgrafschaft Mähren vor allem in Böhmen. Dort waren mehrere nationale
Ausgleichsversuche fast gelungen. Sie wurden immer in letzter Minute durch Parteiintrigen
im Landtagsplenum, wo die tschechischen Parteien über die absolute Mehrheit verfügten,
verhindert10). Teilweise waren die Ergebnisse, die in Böhmen z. B.
1871 zwischen den beiden nationalen Lagern erzielt wurden und denen die tschechische
Mehrheit in den Landtagsausschüssen zu stimmten, den deutschen Vorstellungen weit näher
gekommen, als bei dem Mährischen Kompromiß Ende 1905.
In Mähren hatte man mit Pausen neun Jahre hindurch verhandelt, bis diese vier
Gesetze verabschiedet wurden. Es gab dabei Zeiten, in denen man auf beiden Seiten, wegen
bestimmter politischer Vorfälle, die Verhandlungen und das Gespräch darüber abbrach.
Durch die 1905 verabschiedeten Gesetze waren zwar die nationalen Streitigkeiten zum
Großteil noch nicht beseitigt, aber es wurde ein Weg beschritten, der zumindest einen
Ausweg zeigte, wie man in nationalen Fragen einer Lösung näher kam.
Da das gesamte Ausgleichswerk ein Kompromiß war, enthielten die vier mährischen
Ausgleichsgesetze komplizierte Bestimmungen, deren Durchführbarkeit sich erst in der
Praxis zeigen mußte. Manche Bestimmungen mußten innerhalb kürzester Zeit wieder zu
nationalen und sozialen Konflikten führen, wenn sie nicht rechtzeitig revidiert und
reformiert wurden. Die Kompliziertheit des Landtagswahlgesetzes fußte auf dem
Kurienwahlrecht der Schmerling'schen Reichsverfassung von 1861, die sich auf ein
Zensuswahlrecht und eine Privilegierung des großen Grundbesitzes stützte, eine breite
Bevölkerungsschicht bei den Wahlen ausschloß, und die mit der Gleichheit aller
Staatsbürger nicht vereinbar war.
Richtungsweisend für die Zukunft war in den mährischen Ausgleichsgesetzen der
Gedanke der nationalen Autonomie, der nationalen Selbstverwaltung und der nationalen
Gleichberechtigung11).
Doch auch hier gab es eine einschneidende Einschränkung, indem man den beiden
großen Nationalitäten des Landes hinsichtlich der Budgetgesetzgebung kein Vetorecht und
kein eigenes Besteuerungsrecht einräumte, das selbst bei seiner Verwirklichung zu einer
schweren Belastung für den gesamten Staatsapparat des Landes geführt hätte.
Im einzelnen enthielt der Ausgleichskompromiß an wichtigen Bestimmungen folgende
Veränderungen:
Die Abgeordnetenzahl des Landtags wurde von 100 auf 150 erhöht.
Im Prinzip blieb das Kurienwahlrecht nach einem Wahlzensus bestehen. Zu den bisher
bestehenden drei Wahlkurien (Großgrundbesitz, Städte und Handelskammern, Landgemeinden)
wurde eine vierte, eine allgemeine Kurie mit 20 Abgeordneten hinzugefügt, in der alle
Staatsbürger wahlberechtigt waren, die das 25. Lebensjahr vollendet hatten.
Die erste Wahlkurie, der große Grundbesitz, war nach der neuen Landtagswahlordnung
mit 32 Abgeordneten statt 31 wie bisher im Landtag vertreten.
Im einzelnen enthielt der Ausgleichskompromiß folgende wichtigen Bestimmungen12):
Innerhalb der Kurien der Städte, der Landgemeinden und in der allgemeinen Kurie
wurden gesonderte nationale Wahlbezirke geschaffen. Dort wählten die Wahlberechtigten
deutscher bzw. tschechischer Nationalität vollständig getrennt und unabhängig ihre
Abgeordneten.
Ein Vorbild für dieses System bestand in der Schulverwaltung des Königreichs Böhmen. Dort hatte man die Schulverwaltung in zwei nationale Sektionen getrennt. Die Schulbezirke wurden dabei ganz nach nationalen Gesichtspunkten gegliedert. Dabei waren aber z. B. deutsche Schulen eines überwiegend tschechischen Bezirks den deutschen Schulbehörden des nächsten deutschen Schulbezirks unterstellt worden, wenn sich wegen der geringen Anzahl der deutschen Schulen die Errichtung eines eigenen deutschen Bezirkschulrates in einem überwiegend tschechischen Bezirk nicht lohnte. Dadurch entstand ein System national gesonderter und geographisch sich überlagernder Schulbezirke von unterschiedlicher Gebietsgröße.
Dieses System wurde besonders auf Drängen der deutschen Landtagsabgeordneten in
Mähren übernommen.
Der Plan dazu war schon in früheren Anträgen und Vorschlägen aufgetaucht. Diese
Trennung der nationalen Lager wurde und sollte auf weitere politische und
gesellschaftliche Bereiche ausgedehnt werden, um die nationale Konfrontation zu
entschärfen. Nach dem neuen Landtagswahlgesetz wählte die allgemeine Wahlkurie von ihren
20 Abgeordneten 14 in tschechischen und 6 in deutschen Wahlkreisen.
Für die Kurie der Städte waren jetzt 40 Abgeordnete für das Landesparlament
vorgesehen, Davon sollte die eine Hälfte in deutschen, die andere Hälfte in
tschechischen Wahlkreisen gewählt werden.
Bei den Landgemeinden waren 39 Abgeordnete in tschechischen und 14 in deutschen
Wahlkreisen zu wählen.
Die Handelskammern wählten künftig nach dem neuen Gesetz nach dem
Verhältniswahlrecht.
Bei der Erstellung der Wählerlisten zur Landtagswahl brachte die Schaffung der beiden nationalen Kataster einen völlig neuen Gesichtspunkt zur Lösung des nationalen Problems. Die territoriale Einteilung der Wahlbezirke ordnete sich der nationalen Scheidung der Wählerschaft unter, indem jede Stadt oder jeder Gerichtsbezirk zugleich einen Wahlbezirk der beiden Nationalitäten bildete bzw. zu einem solchen gehörte. Dadurch hörte der Wahlkampf endlich auf, ein Kampf der beiden Volksstämme um die Mandate zu sein.
Allerdings blieb es ein schwieriges Problem, nach welchen Kriterien man die
Nationalität eines Wählers bestimmen sollte. Die Stadthalterei ordnete nach dem
Inkrafttreten der neuen Landtagswahlordnung die Aufnahme aller wahlberechtigten Bürger in
getrennte Nationalitätenlisten an.
Die erste Eintragung erfolgte durch die Gemeindebehörde nach Maßgabe der ihnen
bekannten Verhältnisse. Die Liste mußte eine bestimmte Frist, die von der Statthalterei
festgelegt wurde, zur öffentlichen Einsicht aufgelegt werden. Innerhalb dieser Zeit
konnte die Änderung der Eintragung vom Wähler persönlich oder von einer anderen Person
aufgrund einer Erklärung oder durch Feststellung von objektiven Merkmalen, die gegen die
ursprüngliche Eintragung sprachen, geändert werden.
Das führte zu zahlreichen Reklamationen, besonders als es darum ging, die
Nationalität eines Staatsbürgers nach objektiven Merkmalen zu bestimmen. Gerichte,
besonders das Reichsverwaltungsgericht der österreichischen Reichshälfte, hatten sich
oft mit solchen Feststellungsklagen zu beschäftigen.
Nach der neuen Landesordnung wurden für die Wahlen innerhalb des Landtages
folgende drei Kurien gebildet:
1. Die Kurie des Großgrundbesitzes mit zwei Untergruppen des Großgrundbesitzes.
2. Die Kurie der tschechischen Abgeordneten außerhalb des Großgrundbesitzes.
3. Die Kurie der deutschen Abgeordneten außerhalb des Großgrundbesitzes.
Der Beitritt zu einer der beiden nationalen Kurien war nur den 6 Abgeordneten der Handels- und Gewerbekammern freigestellt. Die übrigen Abgeordneten waren schon dadurch, daß sie in einem tschechischen oder einem deutschen Wahlbezirk oder im Großgrundbesitz gewählt wurden, festgelegt.
Der Landtag bestimmte den Landesausschuß und seine Ausschüsse nach einem in der
Landesordnung vorgesehenen Proporzsystem. Die 8 Mitglieder des Landesausschusses wurden
nach einem genau festgelegten Verfahren vom Landtag gewählt. Dabei konnte die
tschechische Kurie vier Posten besetzen, die deutsche und der Großgrundbesitz je zwei.
Zur Änderung der Landesordnung, der Landtagswahlordnung, der Gesetze über die
nationale Trennung der Schulbehörden, über den Landeskulturrat und des Sprachgebrauchs
bei den autonomen Behörden war die Anwesenheit von mindestens 121 Landtagsmitgliedern und
die Zustimmung von 2/3 der Anwesenden erforderlich.
Auch Beschlüsse über die Auflassung von Schulen, Änderung der Unterrichtssprache,
Entziehung oder Herabminderung bewilligter Beiträge oder Erhaltungskosten für Staats-,
Landes- und Privatunterrichtsanstalten sowie über Gesetze zur Vereinigung oder Trennung
von Gemeinden gegen deren Willen sollten nur mit der gleichen 2/3-Mehrheit bei der
Anwesenheit von mindestens 121 Abgeordneten rechtskräftig gefaßt werden können.
Zur Abänderung der Gemeindewahlordnung und der Wahlordnung der autonomen Städte war
die Zustimmung von 93 Abgeordneten ohne Rücksicht auf die Zahl der Anwesenden
erforderlich.
Gerade diese qualifizierten Mehrheiten waren von den deutschen Abgeordneten anstelle
eines grundsätzlichen Kurialvetos zur Erhaltung ihres nationalen Besitzstandes gefordert
worden. Diese Mehrheiten konnten nämlich ohne die Zustimmung der deutschen Volksvertreter
bzw. des Großgrundbesitzes nicht zustandekommen.
Die Referate über die nur einer Nationalität dienenden Landesanstalten wurden
nach der neuen Landesordnung an Landesausschußmitglieder der betreffenden Nationalität
vergeben. Der deutschen Minorität war dadurch ein direkter Einfluß auf die Verwaltung
gesichert.
Durch die Landesordnung wurde die Anstellung einer bestimmten Anzahl von deutschen
Beamten garantiert.
Der Landesausschuß (Landesregierung) konnte nur bei Anwesenheit von mindestens 6
Beisitzern rechtskräftige Beschlüsse fassen. Die beiden deutschen Beisitzer konnten
zusammen mit einem Beisitzer des Großgrundbesitzes die Beschlußfähigkeit im
Landesausschuß unmöglich machen.
Die Schulgesetze, die einen wesentlichen Bestandteil des mährischen Ausgleichs bildeten, beruhten auf einer nationalen Trennung der Schulbehörden13). Gegen dieses Gesetz hatte man von deutscher Seite schwere Bedenken, weil es zwar jetzt in gemischtsprachigen Gemeinden zwei nationale Ortsschulräte gab, aber die gemischtnationale Gemeinde weiterhin die Trägerin des sachlichen Schulaufwandes blieb. So war z. B. für einen Schulhausbau die Zustimmung der ganzen Gemeinde erforderlich. Hier war die Entwicklung zur Schaffung einer nationalen Selbstverwaltung auf halbem Wege stehengeblieben. Volle Autonomie hätte man erreicht, wenn auch die nationalen Kurien das Besteuerungsrecht erhalten hätten, wie es bereits der Sozialdemokrat Karl Renner gefordert hatte. In dieser unzulänglichen Bestimmung lagen die Ursachen künftiger Konflikte, wenn z. B. ein mehrheitlich tschechischer Gemeinderat über die finanziellen Zuwendungen der ortsansässigen deutschen Schulen entscheiden mußte.
Das neue Schulgesetz konnte auch nur durch einen Kompromiß verabschiedet werden.
Auf Antrag des tschechischen Abgeordneten Perek (Lex Perek14)),
enthielt der § 20 Abs. 2 des Schulgesetzes eine Bestimmung, daß in der Regel Kinder in
eine Volksschule nur aufgenommen wurden, wenn sie der Unterrichtssprache dieser Schule
mächtig waren. Die deutschen Abgeordneten verweigerten jahrelang dieser Klausel ihre
Zustimmung unter dem Hinweis, daß sie alten mährischen Traditionen widerspräche. Es
geschah nämlich häufig, daß Kinder einer Nationalität aus verschiedenen Gründen,
worunter bei der Wahl der Schule auch die nationale Agitation eine nicht geringe Rolle
spielte, in die Schulen der anderen Nationalität aufgenommen wurden. Gab es am Wohnsitz
der Kinder Schulen beider Nationalitäten, so stand der Aufnahme des Kindes in irgend eine
Schule kein gesetzliches Hindernis entgegen. Zur Erlernung der zweiten Landessprache wurde
sogar empfohlen, die Schule der anderen Nationalität zu besuchen.
Ferner schickte man früher Kinder zum gleichen Zweck in eine vom anderen Volksstamm
besiedelte Gegend zu Familien auf Wechsel. Dort besuchten sie auch die Schule
mit der anderen Unterrichtssprache.
Gegen diese Tradition wandten sich die tschechischen Parteien, weil sie für die
betroffenen Kinder befürchteten, daß sie ihrem Volkstum entfremdet würden, wenn ihnen
unter Umständen mit der deutschen Sprache ein besseres berufliches Fortkommen ermöglicht
wurde.
Eine Ablehnung der Lex Perek durch die deutsche Landtagsmehrheit hätte
zu einer Ablehnung der gesamten Ausgleichsgesetzgebung durch die tschechischen
Abgeordneten geführt.
Das 4. Gesetz des mährischen Ausgleichs regelte den Gebrauch der beiden
Landessprachen. Es umfaßte 12 Paragraphen15).
Es behandelte in erster Linie den Sprachgebrauch bei den Gemeindevertretungen. Die
Geschäftssprache dieser kleinsten Verwaltungseinheiten sollten diese selbst bestimmen.
Die Gemeinde mußte aber auch die Eingaben in der anderen Landessprache annehmen, die
nicht Geschäftssprache war. Solche Eingaben konnte die Gemeinde kostenlos beim
Landesausschuß zur Übersetzung einreichen.
Der Gemeinde stand es in der Regel frei, die Eingaben in ihrer eigenen
Geschäftssprache oder in der Sprache der Eingabe zu erledigen. In Städten mit eigenem
Statut mußten alle Eingaben, die an sie als Behörde der Wiener Zentralregierung
gerichtet wurden, in jener Landessprache erledigt werden, in der sie eingereicht wurden.
Im eigenen Zuständigkeitsbereich mußten alle Gemeinden des Landes ihre Eingaben in
der Sprache des Antragstellers erledigen, wenn wenigstens 20% der Einwohnerzahl jene
Landessprache gebrauchte, die nicht Geschäftssprache der Gemeinde war. Dabei sollte es
aber auf alle Fälle jedem einzelnen Mitglied der Gemeindeverwaltung freistehen, die eine
oder die andere Landessprache zu gebrauchen.
Die Kundmachungen der Gemeinden hatten in deren Geschäftssprache zu erfolgen. Wenn
aber mindestens 20% der Gemeindebewohner die andere Landessprache brauchten, die nicht
Geschäftssprache der Gemeinde war, so hatte die Bekanntmachung in beiden Landessprachen
zu erfolgen. Im Landesausschuß und im Landtag waren beide Landessprachen
gleichberechtigte Amtssprachen. Beide hatten mit den Gemeindebehörden in deren
Amtssprache zu verkehren. Mit den Wiener Zentralbehörden sollten die Gemeinden in ihrer
Amts- und Geschäftssprache verkehren. Mit der Verabschiedung des Sprachengesetzes war das
Ausgleichswerk abgeschlossen.
Kritik am Ausgleich
Von der jungtschechischen Partei und der ihr nahestehenden Presse wurde besonders die
schnelle Verabschiedung der Ausgleichsgesetze heftig kritisiert. In diesen Kreisen war man
überzeugt, daß sich die mährisch-tschechischen Abgeordneten genau so überlisten
ließen wie die tschechischen Abgeordneten im Königreich Böhmen bei ihren Vereinbarungen
mit den Vertretern der deutschen Parteien im Jahre 1890. Damals wären aber die
Verhandlungsergebnisse der Landtagsausschüsse rechtzeitig der tschechischen
Öffentlichkeit zur Diskussion vorgelegt worden und konnten durch den Druck der
öffentlichen Meinung verhindert werden.
In Mähren wurden aber durch die rasche Verabschiedung Tatsachen geschaffen, die eine
natürliche Lösung der nationalen Fragen durch ein allgemeines Wahlrecht erschwerten oder
unmöglich machten. Nicht ein einziges nationales und soziales Unrecht sei durch diese
Wahlreform beseitigt worden. Vor allem besäßen die tschechischen Abgeordneten im Landtag
nur in Verbindung mit dem konservativen Großgrundbesitz die Majorität. Diese Gruppe
könne man aber nicht zum tschechischen Lager zählen, da sie eine Standespartei sei, der
es nur um ihre gesellschaftlichen Privilegien gehe.
Auch im Lager der Alttschechen war man überzeugt, daß mit den Ausgleichsgesetzen
kein Idealzustand geschaffen worden ist. Dennoch sah man dort auch die Vorteile, die für
die nationale Entwicklung des tschechischen Volkes erzielt wurden. Der Haupterfolg für
die tschechische Seite bestand in der Tatsache, daß man in Wien Mähren nicht mehr als
eine Domäne des Deutschtums ansehen konnte. Von nun an mußte Wien den tschechischen
Charakter des Landes respektieren.16)
Auch die Sozialdemokratie war mit wichtigen Bestimmungen des Ausgleichs nicht
einverstanden.17)
Ihre Kritik richtete sich gegen das privilegierte Klassenwahlrecht, besonders gegen
das Wahlrecht des nicht nach nationalen Gesichtspunkten getrennten Großgrundbesitzes, der
jetzt außerdem noch in nationalen Belangen nach der Wahlreform zum Zünglein an der Waage
wurde. Neben ihren Forderungen nach allgemeinen, freien und geheimen Wahlen zu allen
öffentlichen Gremien, bekannte sie sich zum Recht des Einzelnen, seine Nationalität
selbst zu bestimmen. Auch dieses Postulat war in den Ausgleichsgesetzen nicht eindeutig
garantiert.
Von deutscher Seite polemisierte das radikal-nationale Lager heftig gegen die Ausgleichsgesetze. In einem Bericht des deutsch-radikalen Abgeordneten Dr. Freißler aus dem Jahre 1912 wurden dabei folgende Punkte hervorgehoben18):
1. Nachteilig für die Deutsch-Mährer sei, daß die Zahl der Mitglieder für die einzelnen Landtagsausschüsse nicht gesetzlich festgelegt wurde.
2. Die Konstituierung der Landtagsausschüsse, die Besetzung der Präsidentenstellen in den Landesanstalten war nicht gesetzlich festgelegt. Dadurch war die Minorität auf das Wohlwollen der Landtagsmehrheit angewiesen.
3. Es fehlten genaue gesetzliche Bestimmungen, nach welchem Schlüssel die Beamtenstellen zu besetzen waren.
4. Da der Landesausschuß ein gemischtnationales Exekutivorgan war, blieb die nationale Autonomie im Bereich der Landesverwaltung eine Utopie.
5. Zur Verwirklichung der nationalen Autonomie auf dem Wirtschaftssektor fehlte eine gesetzliche Regelung. Daher war die Verteilung der Subventionen und die Vergabe von öffentlichen Aufträgen des Landes an keine festen Vorschriften gebunden.
6. Die Landtagsmandate der Handelskammern, die zum festen deutschen Besitzstand gerechnet wurden, stellten keinen festen Besitz dar, weil sie nach dem Verhältniswahlrecht ermittelt wurden.
7. Die gesetzlichen Bestimmungen zur Bildung der nationalen Wählerverzeichnisse
enthielten keinerlei Vorschriften darüber, wie die nationale Zugehörigkeit zu ermitteln
sei. Die erste Aufstellung des nationalen Katasters wurde den Behörden übertragen. Nur
im Rahmen der Richtigstellung stand es jedermann frei, sich zu der einen oder zu der
anderen Nationalität zu bekennen.
Die Deutschradikalen forderten die Festlegung der Nationalität nach objektiven
Merkmalen. Sie wandten sich scharf gegen die Bestimmungen der mährischen
Landtagswahlordnung, die dem freien Bekenntnis zu einer Nation einen gewissen Vorrang
einräumte, entgegen den Grundsätzen des allgemeinen österreichischen
Verwaltungsgerichtshofes, der objektive Merkmale zur Festlegung der Nationalität
festgesetzt hatte.
Auswirkungen auf das
Nationalitätenrecht
Bis zum Ersten Weltkrieg wurde der mährische Ausgleich ein Vorbild für andere
cisleithanische Kronländer des Habsburgerreiches. Unter weitaus komplizierteren
Bedingungen wurde die Wählerschaft des Herzogtums Bukowina durch ein Gesetz vom 26. Mai
1910 in vier nationale Listen aufgeteilt. Neben einem rumänischen wurde ein ruthenisches,
deutsches und polnisches Wählerverzeichnis angelegt.
Für die Wahlen, die im Landtag durchzuführen waren, waren die Abgeordneten auf vier
nationale Kurien und die Kurie des Großgrundbesitzes aufgeteilt. Bei der ersten
Beschlußfassung über dieses Gesetz waren fünf nationale Kurien und fünf
Wählerverzeichnisse vorgesehen.
Der fünfte Kataster für die Juden wurde aber von der Wiener Zentralregierung
verworfen. So wurden Deutsche und Juden zu einem Kataster vereinigt. Durch das
Proportionalwahlsystem in diesem Kataster besaßen die deutschen Wähler und Abgeordneten
gegenüber der jüdischen Majorität einen ausreichenden Minderheitenschutz.19)
Im Jahre 1912 versuchte man in den Reichslanden Bosnien und Herzegowina und 1914
in Galizien die Prinzipien der nationalen Autonomie nach mährischem Vorbild zu
verwirklichen. Wegen des Kriegsausbruchs kamen dort die entsprechenden Gesetze nicht mehr
zur Ausführung.
Nach dem Krieg verschwanden auf dem Boden der Nachfolgestaaten der Donaumonarchie
alle nationalen Kataster und beinahe alle anderen Bestimmungen des mährischen Ausgleichs.
Auf dem Boden Mährens blieb in der Tschechoslowakischen Republik genau wie in Böhmen das
System der getrennten nationalen Schulverwaltung bestehen.
Die Idee einer nationalen Autonomie aufgrund eines nationalen Katasters wurde nach dem Weltkrieg in Ostgalizien, Griechenland und für kulturelle Belange in Estland zu verwirklichen versucht. In Ostgalizien war eine nationale Autonomie aufgrund einer Auflage der Entente im Gesetz vom 26. September 1922 über die Selbstverwaltung der drei Wojwodschaften Stanilau, Tarnopol und Lemberg vorgesehen. Diese Autonomie war nach dem Wortlaut des Gesetzes weitaus umfangreicher als in Mähren, wo sie nur eine beschränkte Kompetenz besaß. Die nationale Selbstverwaltung umfaßte nach dem ostgalizischen Autonomiestatut Religionsfragen im öffentlichen Unterricht, das öffentliche Wohlfahrtswesen, öffentliche Bauten, Agrarfragen, Gewerbeförderung, Handelsfragen sowie das Verordnungsrecht bei der Wasserregulierung, zur Gewinnung von Wasserkräften und zur Verwaltung bzw. Organisation von Gemeinden. In jeder der drei Wojwodschaften sollte ein selbständiger Landtag eingerichtet werden, der sich aus zwei nationalen Kammern zusammensetzen sollte (Ukrainer und Polen). Für jede der beiden Kammern war getrennte Beratung und Beschlußfassung vorgesehen. Nur in Angelegenheiten, die beide Nationalitäten betrafen, sollte eine Übereinstimmung in der Beschlußfassung beider Kammern herbeigeführt werden. Leider setzte die polnische Regierung dieses fortschrittliche Autonomiestatut nie in Kraft.
In Griechenland hingegen diente der nationale Kataster nur zu Wahlzwecken für das Parlament. Durch nationale Wählerlisten wurden der jüdischen und türkischen Minderheit im vornherein eine Parlamentsvertretung garantiert. Neben einem jüdischen Wahlkreis in Saloniki gab es in Trakien zwei türkische Wahlkreise. Gleichzeitig war dieses Gebiet in die griechische Wahlkreiseinteilung mit einbezogen.
Auf dem Gebiet des alten Österreichs, wo sich dieses moderne Nationalitätenrecht
entwickelt hatte, kam es nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie zu einer Schrumpfung
dieser modernen Entwicklung. Die Hauptursache für diese rückläufige Entwicklung des
Nationalitätenrechtes ist in der Verfassungsstruktur und in der geistigen Ausrichtung der
Nachfolgestaaten zu suchen.
Das alte Österreich hatte sich als übernationaler Vielvölkerstaat verstanden,
seine Rechtsnachfolger traten als Nationalstaaten auf, obwohl sie sich in ihrer nationalen
Zusammensetzung kaum von der alten Monarchie unterschieden. In ihrer Gesetzgebung setzte
sich allein der Wille der Staatsnation durch und nicht der Gedanke der nationalen
Gleichberechtigung und nationalen Selbstverwaltung.
Sicher konnten die mährischen Ausgleichsgesetze durch die Zementierung des Zensuswahlrechtes kein Vorbild für einen modernen Nationalitätenstaat sein, aber sie blieben dennoch ein Versuch, nationale Gegensätze, wenn auch mit unzureichenden Mitteln, zu beseitigen. Zumindest zeigte der mährische Ausgleich einen Weg, wie ein Nationalitätenstaat, in dem eine territoriale Abgrenzung nach nationalen Gesichtspunkten unmöglich war, dennoch nationale Autonomie verwirklichen konnte.
Nationale
Autonomie und Volksgruppenrecht nach dem zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es sowohl in den Nachfolgestaaten Monarchie als auch
in anderen Ländern der österreichisch-ungarischen Autonomie, ohne daß es aber generell
zu einer Klärung des Problems gekommen wäre. Allerdings aber wurden die Fragen und
Probleme der deutschen Minderheiten in den Ost- und südosteuropäischen Ländern meist
durch Vertreibung von über 10 Millionen deutscher Bevölkerung gewaltsam gelöst.
Dort, wo noch eine deutsche Restbevölkerung in diesen Ländern verblieb, wie z.B. in
Rumänien, Ungarn, der CSSR und in Polen, blieb sie ohne rechtlichen Schutz bezüglich
ihrer Nationalität und ihres Volkstums und muß bis heute noch schwerwiegende Nachteile
hinnehmen.
Der freie deutsche Staat, die Bundesrepublik Deutschland, hat keine rechtliche
Möglichkeiten gegenüber der dortigen Willkür der staatlichen kommunistischen Macht.
In Südosteuropa versuchte man aber durch die Schaffung der Sozialistischen Föderativen Republiken Jugoslawiens, die Nationalitätenfrage weitgehend zu entspannen. Nur die in der Batschka, im Banat und in Slowenien (Untersteiermark, Krain) beheimatete deutschstämmige Bevölkerung wurde am Kriegsende von Titos kommunistischen Partisanen verfolgt, getötet bzw. vertrieben. Die Deutsche Volksgruppe in Jugoslawien wurde ausgelöscht. Sie hatte die höchsten Vertreibungsverluste unter den Ostdeutschen zu beklagen.
Die einzelnen sozialistischen Republiken und autonomen Gebiete Jugoslawiens
erhielten aber durch die Umgestaltung der Staatsverfassung Staatsqualität mit
weitgehender staatsähnlicher Rechtstellung. Nach einer Verfassungsreform im Jahre 1971
wurde die Stellung der jugoslawischen Gliedrepubliken so verstärkt, daß es von
verfassungsrechtlicher Seite eine offene Frage bleibt, Jugoslawien als Bundesstaat oder
als Konföderation anzusehen.
Diese Entwicklung entsprang aus der Vielfalt der Völker Jugoslawiens (8 Millionen
Serben, 4 Millionen Kroaten, 1,5 Millionen Slowenen, 1 Million Mazedonier, 1 Million
Albaner, 500000 Montenegriner, 500000 Ungarn), die starke Unterschiede hinsichtlich ihrer
geschichtlichen, kulturellen und staatlichen Entwicklung aufweisen.
Im wesentlichen beruht die jugoslawische Föderalisierung auf dem reinen
Territorialprinzip. Da die einzelnen jugoslawischen Teilrepubliken sich wiederum in ihrer
Bevölkerung aus mehreren Nationalitäten zusammensetzen, sind die dort wohnenden
Völkerschaften besonders auf dem Gebiet der Amtssprache und auf dem Schulsektor
weitgehend autonom.
Bei der Besetzung von wichtigen Staats- und Verwaltungsposten, bei Spitzenpositionen
innerhalb der Kommunistischen Partei sowie in der Wirtschaft kommt es erneut zu
Rivalitäten der jugoslawischen Völker, die im Fall des serbisch-kroatischen Gegensatzes
solche Formen annahmen, daß sie zu einer ernsten Bedrohung des jugoslawischen
Staatsverbandes wurden.
Zu einer Weiterentwicklung der nationalen Autonomie kam es nach 1945 für die
250000 deutschen Südtiroler. Auf der Pariser Friedenskonferenz 1946 konnte sich zwar die
wiedererrichtete Republik Österreich mit ihrer Forderung auf Durchführung einer
Volksabstimmung im mehrheitlich deutschsprachigen Teil von Südtirol (Provinz Bozen) und
über eine Wiedervereinigung mit Nordtirol nicht durchsetzen. In den 1947 abgeschlossenen
Friedensvertrag der westlichen Alliierten mit Italien konnte lediglich das
Gruber-de-Gasperi-Abkommen vom 5. September 1946 aufgenommen werden, das der
deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols neben national-kulturellen Rechten auch
territoriale Gesetzgebungs- und Verwaltungsautonomie einräumte.
Die Ausführungsbestimmungen zu diesem Abkommen wurden in der italienischen
Verfassung (Artikel 116) und in einem Autonomiestatut vom 29. Januar 1948 verankert.
Doch widersprachen diese gesetzlichen Regelungen dem Geist und den Buchstaben des
Gruber-de-Gasperi-Abkommens, weil durch die Schaffung der Region Trentino Alto-Adige die
auf ihrem angestammten Siedlungsgebiet sitzende deutsche und ladinische Bevölkerung durch
die Einbeziehung des italienischen Trentino in die Minderheit versetzt wurde.
Alle wesentlichen Autonomierechte wurden der Region zugesprochen und nicht der Provinz Bozen, in deren Landtag die Südtiroler Volkspartei die Mehrheit besaß. Die Gleichberechtigung der deutschen Sprache gegenüber der italienischen sowie die rechtliche Gleichstellung der deutschsprachigen Bürger bei der Einstellung in den Staatsdienst wurde nicht erreicht. Ferner bildete die anhaltende ständige Zuwanderung von Italienern in die deutschen Täler Südtirols, vor allem in die Städte, eine substanzielle Bedrohung der deutschen Volksgruppe. Lediglich die Italienisierung der deutschen Familiennamen wurde wieder rückgängiggemacht und die deutsche Sprache als Unterrichtssprache in den Südtiroler Schulen eingeführt.
Aufgrund des Gruber-de-Gasperi-Abkommens intervenierte Wien wegen Nichterfüllung
des Autonomiestatus in Rom und konnte eine Internationalisierung des Südtirolproblems
erreichen. Nach langen Verhandlungen mit Österreich gewährte Italien der deutschen und
ladinischen Volksgruppe in der Provinz Bozen eine Reihe von Zugeständnissen
(Paket). Dadurch erhielt ausschließlich die Provinz Bozen eine erweiterte
Territorialautonomie.
Im Juli 1971 schlossen Österreich und Italien ein Abkommen, in dem der
Internationale Gerichtshof in Den Haag als zuständige Schlichtungsinstanz für Südtirol
anerkannt wurde.
Dennoch hat die verzögernde Taktik der italienischen Regierung bei der Durchführung der im Paket zugestandenen Rechte zu neuen Konflikten zwischen Rom, Bozen und Wien geführt. Ein Problem besonderer Art ist in diesem Zusammenhang durch die ständigen Wahlerfolge der Kommunistischen Partei in Italien entstanden, welche die christlich-sozial orientierten deutschen Südtiroler in Sorge versetzte und die Frage nach dem Ausbau und der stärkeren juristischen Absicherung ihrer Autonomie erneut in die Diskussion brachte.
Zu einer weiteren Ausgestaltung der nationalen Autonomie, beruhend auf
Personalitätsprinzip und nationalem Kataster, so wie es im mährischen Ausgleich von 1905
im Ansatz vorhanden war, kam es in der Verfassung von Zypern im Jahre 1960. Nach dieser
Urkunde konnten die beiden auf der Mittelmeerinsel lebenden Volksgruppen (Griechen und
Türken), repräsentiert durch zwei national getrennte Gemeindekammern (eine griechische
und türkische), ihre spezifischen, nur ihre eigene Volksgruppe betreffenden
Angelegenheiten nach eigenem Gutdünken entscheiden.
Sie besaßen das Recht, in ihrer eigenen Volksgruppe Steuern zu erheben und ihre
religiösen, kulturellen sowie personenrechtlichen Fragen und das Schulwesen in eigener
Verantwortung zu lösen.
Für die gemeinsamen Angelegenheiten Sicherheit, Wirtschaft und Verwaltung wählten
beide Volksgruppen getrennt ein gemeinsames Parlament (Repräsentantenhaus), bestehend aus
35 griechischen und 15 türkischen Abgeordneten. Dieses Parlament entschied mit Mehrheit
über die gemeinsamen Angelegenheiten.
Die Exekutive übte zusammen mit dem Präsidenten (Grieche) und dem Vizepräsidenten
(Türke) ein aus 7 Griechen und 3 Türken bestehender Ministerrat aus. Präsident und
Vizepräsident besaßen gemeinsam und getrennt Vetorecht gegen Regierungsmaßnahmen und
Gesetze, das nur durch den Verfassungsgerichtshof zu überwinden war. In der
Außenpolitik, auf dem Gebiet der Sicherheit und Verteidigung war dieses Veto sogar
absolut.
Verwaltung und Polizei wurden (ausgenommen in Orten mit etwa 100prozentiger Mehrheit
einer Volksgruppe) im Verhältnis 7:3, die Armee 6:4 zwischen der griechischen und der
türkischen Volksgruppe geteilt, obwohl die zahlenmäßige Stärke der beiden Volksgruppen
8: 2 betrug.
Der Verfassungsgerichtshof, der über die Rechte der beiden Volksgruppen wachte,
besaß einen neutralen (ausländischen) Vorsitzenden, Gleichberechtigte Amtssprachen waren
sowohl das Griechische als auch das Türkische.
In der Theorie war in dieser Verfassung der Gedanke der nationalen Autonomie in einem multinationalen Staat sorgfältig und behutsam verwirklicht. Der Streit aber über die Auslegung der Verfassung führte in seiner letzten Konsequenz zum Boykott der verfassungsmäßigen Organe durch die Vertreter der türkischen Volksgruppe und zum Bürgerkrieg sowie zur Intervention der Türkei auf der Insel. Am Ende dieser Auseinandersetzung zeichnet sich heute eine völlige staatliche Trennung beider Volksgruppen auf der Insel ab, die abermals nur durch Vertreibung und Flucht der Bevölkerung ermöglicht werden konnte.
Einen anderen Weg zur Lösung des nationalen Minoritätenproblems versuchte die
Republik Österreich durch ihr Voiksgruppengesetz vom 7. Juli 1976, in dem einer
verhältnismäßig kleinen Minderheit von ca. 25000 Slowenen und 27000 Kroaten in
Kärnten, der Steiermark und im Burgenland eine gesetzliche Absicherung ihrer kulturellen,
sozialen und wirtschaftlichen Interessen zugesagt wurde. Beiden Volksgruppen räumte der
österreichische Staatsvertrag aus dem Jahre 1955 Minoritätenrechte im sprachlichen und
kulturellen Bereich sowie bei den topographischen Bezeichnungen ein.
Die entsprechenden Schulen für die Minderheiten waren schon vor dem Abschluß des
Staatsvertrages gesetzlich gesichert. Es mußten also durch das Volksgruppengesetz aus dem
Jahre 1976 nur Regelungen getroffen werden, um die zweisprachigen topographischen
Bezeichnungen und die Gleichberechtigung des Slowenischen und Kroatischen als
gleichberechtigte Amtsprachen zu gewährleisten.
Durch die Schaffung von Volksgruppenbeiräten schuf die Österreichische Regierung
eine zusätzliche Institution zur Volksgruppenförderung in kultureller, sozialer und
wirtschaftlicher Hinsicht, die auf alle nicht deutschsprachigen Volksgruppen Österreichs
ausgedehnt wurde.
Die Volksgruppenbeiräte können von der Bundesregierung und den Landesregierungen
nicht nur in Volksgruppenangelegenheiten herangezogen werden, sondern sie besitzen von
sich aus das Recht, den Regierungsgremien Vorschläge zur Förderung der einzelnen
Volksgruppen zu unterbreiten. Zu Volksgruppenbeiräten können nur Angehörige der
Volksgruppe selbst von der Bundesregierung berufen werden, wenn sie Mandatsträger einer
Volksgruppe in Gebietskörperschaften (z.B. Gemeinde-Parlamenten) sind oder von
Organisationen der Volksgruppe bzw. Religionsgenleinschaften für dieses Amt vorgeschlagen
werden.
Zur Aufstellung von zweisprachigen Ortstafeln, wie es im österreichischen
Staatsvertrag gefordert wurde, war aber eine Volkszählung nach der Muttersprache
erforderlich, die geheim durchgeführt wurde, um zu verhindern, daß jemand wegen seines
nationalen Bekenntnisses behindert oder benachteiligt werden konnte. Sie diente lediglich
als Orientierungshilfe.
Jugoslawien, das aufgrund des Staatsvertrages als Schutzmacht der slowenischen und kroatischen Minderheit in Österreich anerkannt wird, erhob gegen die Volkszählung und gegen den Berufungsmodus der Volksgruppenbeiräte Protest, weil seiner Ansicht nach die slowenische und kroatische Minderheit in Osterreich dadurch einer Diskriminierung durch nationalistische Kreise ausgesetzt würde.
Im ganzen gesehen läßt sich feststellen, daß durch die Fortentwicklung des
Volksgruppenrechts in Europa heute das gesetzliche Instrumentarium bekannt ist, wie ein
multinationaler Staat zu gestalten ist und wie eine nationale Minderheit gegenüber dem
Majoritätsvolk zu schützen ist.
Allerdings fehlt es sehr häufig an dem Willen der einzelnen Volksgruppen selbst, wie
z.B. im Falle Zyperns, einen gemeinsamen Staat zu gestalten. Bei ethnisch kleineren
Gruppen in einem Staat mangelt es oft an der Bereitschaft des Mehrheitsvolkes, den
Minoritäten eine großzügige kulturelle, soziale und wirtschaftliche Autonomie
einzuräumen.
Quellenangaben:
1) Skene, Alfred. Der nationale Ausgleich in Mähren. Wien
1910, S. 74.
2) Glassl, Horst: Der Mährische Ausgleich. München 1967,
S. 201-204.
3) Bernatzik, Edmund: Die österreichischen
Verfassungsgesetze mit Erläuterungen. Wien 1911, S. 269 ff.
4) Skene, Alfred: a.a.o. S. 75-81
5) Landtagsblatt über die Sitzungen des mährischen
Landtags. Brünn 1905, Sitzung vom 16. 11. 1905.
6) Glassl, Horst: a.a.O., S. 35-37.
7) Chlumecky, Johann: Das Programm der Mittelpartei im
mährischen Landtag, in: Brünner Zeitung vom 16. März 1864.
8) Glassl, Horst, a.a.O., S. 59.
9) Herz, Hugo: Der nationale Besitzstand und die
Bevölkerungsbewegung in Mähren und Österreichisch Schlesien, Brünn 1909.
10) Menger, Max: Der böhmische Ausgleich. Stuttgart 1891, S.
253-254.
11) Renner, Karl: Der Kampf der österreichischen Nationen um den
Staat, Wien 1902, S. 37-45.
12) Bernatzik, Edmund: a.a.O., S. 902-915.
13) Landtagsblatt über die Sitzungen des mährischen Landtags vom
15.11.1905.
14) Ebenda vom 8. 11. 1905.
15) Ebenda vom 8. 11. 1905.
16) Glassl, Horst, a.a.O., S. 230-235.
17) Bauer, Otto: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie,
Wien 1907, S. 354
18) Freißler, Wilhelm: Der mährische Ausgleich, in:
Deutschradikales Jahrbuch von 1913, S. 209-211.
19) Braunias, Karl: Die Fortentwicklung des österreichischen
Nationalitätenrechtes nach dem Krieg, in:
Nation und Staat 10 (1935/36)
S. 226 ff, 288 ff, 385 ff, 578 ff.