Staatsrechtliche Erklärung der deutschen Parlamentarier vom 9. Juni 1920.

Staatsrechtliche Erklärung, abgegeben von den Abgeordneten und Senatoren des Deutschen Parlamentarischen Verbandes in der tschechoslowakischen Nationalitätenversammlung durch Abg. Dr. Rudolf Logman in der Sitzung des Abgeordnetenhauses am 1. Juni 1920 / durch den Senator Dr. Moritz Vetter-Lilie in der Sitzung des Senates am 9. Juni 1920.

Als gewählte Vertreter des im tschechischen Staate unterdrückten deutschen Volkes erklären wir bei unserem Eintritte in das tschechoslowakische Parlament feierlich vor der Bevölkerung dieses Staates / vor ganz Europa und der gesamten gesitteten Welt:

Durch den Friedensvertrag von St. Germain en Laye ist mitten in Europa ein Staat entstanden, welcher neben rund sechseinhalb Millionen Tschechen unter anderem auch fast vier Millionen Deutsche umfaßt. Vergebens waren unsere Vorstellungen, welche wir vor Beginn und während des Verlaufes der Friedensverhandlungen erhoben haben, vergebens war unser einmütiges Bestreben, das Schicksal unseres Siedlungsgebietes selbst zu bestimmen, vergebens haben wir darauf hingewiesen, daß ein so gestalteter Staat nicht den vierzehn Punkten Wilsons, nicht dem Begriffe der Demokratie entspräche, daß er niemals zur Ruhe käme und schon infolge seiner unmöglichen Zusammensetzung eine stete Bedrohung des europäischen Friedens bilden würde.

Wir Vertreter des deutschen Volkes im tschechischen Staate stellen fest, daß die Bedingungen und Grundlagen, von welchen sich die verbündeten Mächte bei Verfassung der Friedensverträge leiten ließen, irrig waren, daß dieser Staat auf Kosten der geschichtlichen Wahrheit entstanden ist und daß die entscheidenden Großmächte über den wahren Sachverhalt getäuscht worden sind.

Der Vertrag, welchen die tschechoslowakische Republik, die dabei aber nur durch Angehörige des tschechischen Volkes vertreten war, mit den alliierten und assoziierten Hauptmächten am 10. September 1919 abgeschlossen hat, geht von der Erwägung aus,
daß sich die Völker Böhmens, Mährens und eines Teiles von Schlesien sowie das Volk der Slowakei aus freiem Willen entschlossen haben, sich zu vereinigen und sich tatsächlich in einem dauernden Bunde zur Schaffung eines einheitlichen, souveränen und unabhängigen Staates unter dem Namen "Tschechoslowakische Republik" vereinigt haben.

Dem gegenüber stellen wir fest: Die Deutschen Böhmens, Mährens und Schlesiens und die Deutschen in der Slowakei hatten niemals den Willen, sich mit den Tschechen zu einigen und einen Bund zur Schaffung der Tscheslowakischen Republik zu bilden. Dagegen haben die im Jahre 1911 in den deutschen Sudetengebieten gewählten österreichischen Reichstagsabgeordneten als berufene Vertreter ihrer Heimat in Ausführung des allgemeinen Volkswunsches, wie er in unzähligen Volksversammlungen und Gemeindebeschlüssen unzweifelhaft zum Ausdruck gekommen ist, nach dem Zerfalle Österreichs ausdrücklich erklärt, sich an Deutschösterreich und zwar als Deutschböhmen, Sudetenland, Deutschsüdmähren und Böhmerwaldgau anzuschließen. Die tschechoslowakische Republik ist daher das Ergebnis eines einseitigen tschechischen Willensaktes, und sie hat diese deutschen Gebiete widerrechtlich mit Waffengewalt besetzt. Die deutschen Sudetenländer sind in der Tat um ihren Willen niemals befragt worden, und das Ergebnis der Friedensverträge ist daher mit Beziehung auf sie die Sanktionierung eines Gewalt-, aber niemals eines Rechtszustandes. Selbst der karge Schutz, den die alliierten und assoziierten Hauptmächte dem deutschen Volke zugedacht haben, ist durch das gewalttätige Vorgehen der tschechoslowakischen Revolutionsversammlung zunichte gemacht worden. Die gesamte tschechoslowakische Gesetzgebung, einschließlich der oktroyierten Verfassung, stellt eine offenkundige Verletzung des Minderheitenschutzvertrages dar. Wir erklären daher feierlich, daß wir keine dieser Gesetze als für uns verbindlich anerkennen. Für uns Deutsche, die wir an keiner Abmachung über die Errichtung dieses Staates Anteil hatten, sind seine Staats- und Regierungsform, sein Verhältnis zu uns und der Nationen zueinander, die staatsgrundgesetzlichen Rechte und Pflichten seiner Bewohner und seine Stellung zu den übrigen Staaten Europas heute noch ungelöste Probleme, und wir fordern, daß sie einzig und allein vom Gesichtspunkte wahrer Demokratie und ungehinderter nationaler Freiheit gelöst werden.

Wir verwerfen daher die Fabel vom rein tschechischen Staate, von der "tschechoslowakischen Nation" und von der "tschechoslowakischen Sprache" als mit den Tatsachen handgreiflich in Widerspruch stehend. Wir werden niemals die Tschechen als Herren anerkennen, niemals uns als Knechte in diesem Staate fügen. Unrecht kann auch durch tausendjährige Übung niemals Recht werden, insolange es nicht von den Betroffenen selbst auf Grund freier Entschließung anerkannt wurde, und wir verkünden demnach feierlich, daß wir niemals aufhören werden, die Selbstbestimmung unseres Volkes zu fordern, daß wir dies als den obersten Grundsatz aller unserer Maßnahmen und unseres Verhältnisses zu diesem Staate, den gegenwärtigen Zustand aber als unserer unwürdig und mit den Grundsätzen moderner Entwicklung unvereinbar betrachten. Dies als Vermächtnis jenen zu hinterlassen, welche nach uns kommen werden, halten wir für unsere heiligste Pflicht.

Urkund dessen unsere eigenhändige Unterschriften, gegeben zu Prag, den ersten und neunten Juni Neunzehnhundertzwanzig.

Es folgen etwa 66 (größtenteils unleserliche) Unterschriften.

(Das ganze Dokument wurde – mit wenigen orthographischen Änderungen (ss/ß, w/v) – abgeschrieben nach dem schwer entzifferbaren Faksimile auf Seite 123 in "Die Tschechoslowakei: Das Ende einer Fehlkonstruktion": Horst Löffler: Die Sudetendeutschen und das Selbstbestimmungsrecht)