Wenig Freude an einem eindeutigen Erfolg  
Emanuel Mandler
Lidove Noviny / Prag 2002-11-28

Während in Prag das Gipfeltreffen der NATO stattfand, nahmen außerhalb der Landesgrenzen wichtige Ereignisse ihren Lauf. Das Europaparlament gab den Weg zum EU-Beitritt für zehn der Kandidaten, darunter auch die Tschechische Republik, frei.

Der Sieg der Tschechischen Republik ist in der EU-Erklärung zu den Beneš-Dekreten zu sehen. Aus juristischer Sicht bilden die Beneš-Dekrete kein Hindernis für den Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union.

Im Grunde genommen wäre in unseren Landen ein Begeisterungsausbruch zu erwarten gewesen. Die Tageszeitungen haben jedoch nur gestrafft berichtet und es fehlen bisher jegliche Kommentare sowohl der Politiker als auch der Publizisten. Das hat seine guten Gründe.

Ein Teil der gesamtnationalen Einigkeit in Sachen Beneš-Dekrete besteht in der unausgesprochenen Verständigung, über die Vertreibung der Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg als auch über die Beneš-Dekrete weder zu schreiben noch zu sprechen. Die Erklärung des Abgeordnetenhauses am 24. April hat doch einen „dicken Strich“ unter die Vergangenheit gemacht.

Die Entscheidung der Europäischen Union jedoch problematisiert diesen „dicken Strich“ erheblich. Auf der einen Seite lobt das Parlament die Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997 als ein gutes Fundament für eine Versöhnung. Gleichzeitig aber fügt das Parlament an, daß eine entsprechende politische Geste in diesem Sinne aus Prag wünschenswert wäre.

Nun, sollte es sich nur um eine Geste handeln, gäbe es immerhin noch Ausweichmöglichkeiten.

Eine politische Geste allerdings öffnet auf ihre Weise wieder die Ereignisse vor dem dicken Strich. Das Europäische Parlament hat keine Zweifel daran gelassen, daß nach dem EU Beitritt Bürger aller Staaten (also auch die Sudetendeutschen) auf dem Gebiet der Tschechischen Republik gleiche Rechte haben werden. Als auch, daß in der Vergangenheit in Abwesenheit ausgesprochene Gerichtsurteile ungültig werden. Ja, die Resolution behandelt konkret das Rechtmäßigkeits-Gesetz 115/1946 Sb. (Gesetz, aufgrund dessen Nachkriegsmörder der Deutschen begnadigt wurden) und kommt zu dem Schluß, daß es aus der Sicht der modernen Gesetzgebung keine existentielle Berechtigung hat.

Die Vergangenheit zeigt sich auf bemerkenswerte Weise auch im allgemeinen Teil der Resolution. Im Artikel 40 empfiehlt das Europäische Parlament, daß nach dem Beispiel der Deutsch-Tschechischen Erklärung auch andere, heutige und künftige Nationen eine „Europäische Erklärung“ signieren sollen. Diese soll Bedauern über Verbrechen gegen Menschlichkeit, Brutalität und Unrecht während des 2. Weltkriegs ausdrücken. Die Deklaration soll die Signatare verpflichten, auf der Basis gemeinsamer Wert- und Zielvorstellungen einer europäischen Integration wirksam zu einer Überwindung vergangener Spannungen, Feindschaften und Vorurteile beizutragen, die ihre Wurzeln in nationalistisch determinierten historischen und politischen Interpretation der Vergangenheit haben.

Das Erfüllen dieser Forderung würde sowohl eine empfindliche Störung des „dicken Strichs“ bedeuten als auch einen hohen Grad Selbstreflexion der offiziellen tschechischen Historiegrafie erfordern.

Aus diesem Grund bin ich mir nicht sicher, ob dieser Sieg der Tschechischen Republik nicht eher die Bezeichnung Pyrrhussieg verdient. Weit hergeholt ist dieser Vergleich nicht. Die tschechische Politik hat an den Beneš-Dekreten um jeden Preis festgehalten. Und es ist ihr bis zu einem hohen Maße gelungen.

Allerdings ist eines dieser Gesetze, eines der wichtigsten, das an die Dekrete anknüpft und ihnen einen Schutzwall bedeutet (Rechtmäßikeitsgesetz 115/46) de facto in der EU gefallen. Es ist das erste Mal, daß Vergleichbares geschah.

Zweifelsohne ist für die tschechische Politik die Zeit reif, um gleichzeitig mit der politischen Geste eine Neuinterpretation der bisherigen Wahrnehmung der Zeit unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg einzuleiten. Es wäre zwar peinlich, aber es wäre auch ein Wunder.

Lidove Noviny 2002-11-28

Übersetzung: Hanne Zahkhari 2002-12-17