Erika Steinbach,
Präsidentin des Bundes der Vertriebenen und
Mitglied des CDU-Bundesvorstandes:

Ohne "Leitkultur" entwurzeln wir uns selbst

Demokraten, die von ihren Repräsentanten mehr oder weniger nur als Verbrauchergenossenschaft gesehen werden, sind ohne wirkliche Zukunftschance.

Die emotionale Diskussion um eine "Deutsche Leitkultur" hat erneut offenbar gemacht: Wir sind noch weit entfernt von einem geklärten und unverkrampften Verhältnis zur eigenen nationalen und kulturellen Identität.

Wir geben uns als Benutzergemeinschaft eines Territoriums, aber weniger als ein Volk. Wer ernsthaft glaubt, Menschen könnten sich allein aus Paragraphen definieren, und deshalb sei Verfassungs-Patriotismus völlig hinreichend in einer globalisierten Welt, verkennt die menschlichen Bedürfnisse nach Emotion und Bindung. Liebe zum Vaterland mit Respekt auch vor der eigenen Kultur und eine Verfassung, die moralische, rechtliche, soziale und politische Regularien krisensicher verankert, sind nötig für die Zukunftsfähigkeit unseres Volkes.

Allein verfassungsrechtliche Eckwerte sind dazu nicht imstande. Eine Volksgemeinschaft lebt erfolgreich nur auf Dauer, wenn die Menschen Anteil aneinander nehmen und Verantwortung füreinander zu tragen bereit sind – in guten und in schlechten Zeiten.

Paragraphen und Verfassungsartikel allein sind dafür unzulänglich. Wer liebt schon Paragraphen?

"Deutschland einig Vaterland" und nicht "Deutschland einig Grundgesetz" skandieren die Menschen aus den neuen Bundesländern in ihrem unblutigen Freiheitskampf in der DDR. Menschen aus zweierlei Gesellschaftssystemen, aber eines Volkes, haben nach jahrelanger konsequentester staatlicher Trennung wieder zueinander gefunden, weil sie durch eine gemeinsame Kultur geprägt waren. Nur daraus konnte der Spruch "Wir sind ein Volk" entstehen.

Ja, wir sind ein Volk. Ein Volk allerdings mit massiven Selbstwertdefekten.

Es ist uns nur bedingt gelungen, Hitler abzuschütteln. Auf eine ganz perverse Art begeben wir uns tagtäglich selbst unter seinen posthumen Schatten und räumen damit einem Verbrecher Macht über uns ein.

So nötig es für uns Deutsche ist, sich mit dem finstersten Teil der eigenen Geschichte auseinandezusetzen, so nötig ist es ebenso, die faszinierenden Seiten unseres Volkes neu zu entdecken und den Mut zu gewinnen, uns daraus zu definieren. Nicht nur mit masochistischer Wollust allein aus dem ein Dutzend Jahre währenden Nationalismus innerhalb unserer vielhundertjährigen Entwicklung.

Deutschland ist bis heute im Umgang mit sich selbst auch über 50 Jahre nach Hitler noch immer dringend therapiebedürftig. Wir sind in unserer jüngeren Geschichte von einem Extrem in das andere gefallen. Ein Mensch mit einem so zerstörten Selbstwertgefühl wie wir als Nation wäre ein schwerer Fall für den Psychiater. Natürlich brauchen wir nicht nur eine Leitkultur, sondern wir haben sie sogar; unsere Sprache in all ihren Facetten, ausgefüllt nicht nur durch Goethe. Schiller, Heine, Kleist, Lessing oder Hauptmann bis Zuckmayer, Böll, Walser oder Grass, unsere Philosophen, die Geisteswissenschaftler, die Maler und Baumeister oder die Komponisten.

Was hätte wortlos verbindender über die deutsche Teilung hinweg wirken können als Bach und Beethoven, Händel und Brahms, Mendelssohn und Schumann. Waren es nach 1945 nicht gerade musikalische Schöpfungen dieser deutschen Komponisten, die uns auf internationalen Bühnen weltweit geholfen haben, daß die zwölf Jahre Nationalismus nicht als das einzige Deutschland gesehen wurde, das es gegeben hat?

Ein vielfältiges kulturelles Erbe, das uns von unseren Vorfahren mitgegeben worden ist, verbindet uns heute nicht nur miteinander, sondern es war ein moralisches Gerüst in einer dunklen Zeit, welche die deutsche Aufklärung zu eliminieren versuchte und die alle sittlichen Errungenschaften unserer Kultur über Bord geworfen hat. Dabei war diese Kultur immer autistisch. Immer sind Einflüsse anderer Völker fruchtbar aufgefangen worden.

Um die Zukunft zu gestalten, muß man das Gute bewahren, lebendig weiterentwickeln und neue Impulse aufgreifen, aber auch geben. Das erwächst qualitätsvoll aus dem Fundus und der Kraft eigener Kultur. Das zu sehen und zu begreifen erfordert im besten Sinne konservatives Denken.

Wer heute glaubt, auf seine Kultur verzichten zu können, der wird im Strome einer globalisierten Welt dahinschwinden. Wer sich und seine Kultur nicht selber achtet und nicht zu sich selber steht, wird auch von anderen nicht respektiert werden. Und er wird auch keine wirkliche Achtung vor anderen entwickeln.

Wie aber kann heute der Begriff Leitkultur verstanden werden, wenn konservatives und wertebewußtes Denken vorsätzlich stigmatisiert wird? Daraus droht Gefahr.

Ein Wildwuchs durch kulturentwurzeltes Leben und wertebeliebiges Handeln befördert am Ende Extremismus und Radikalismus und läßt beides übermächtig werden, weil im Dschungel nur noch die Machete hilft. Das aber ist das Ende der Zivilisation.

"Welt am Sonntag" 5. November 2000