KK 1203, 30. Mai 2005
Rüdiger Goldmann: Die Deutschen in Schlesien benötigen deutsche Hilfe
Franz Heinz: Interview mit Walter Engel, Direktor des Gerhart-Hauptmann-Hauses
Haus der Heimat Stuttgart präsentiert Maria Feodorowna
Heinrich Lange: Königsberger Königstor wird restauriert
Gerhard Olter: Architektonische Moderne in Danzig, Zoppot und Leipzig
Hans-Ludwig Abmeier: Erich Kleineidam ist gestorben
Bücher und Medien
Literatur und Kunst
Günther Ott: Rückblick auf das Werk von Hans Hartung
Hans Gärtner: Gespräch zu Adalbert Stifter in München
Konrad Klein: Der Kabarettist Hagen Rether
KK-Notizbuch
Hier gehen Einsparungen ans Eingemachte
Die Deutschen in Schlesien benötigen weiterhin Hilfe aus Deutschland
Eindrücke von einer Reise
Wer heute Oberschlesien und insbesondere der deutschen Volksgruppe einen
Besuch abstattet, erhält widersprüchliche Eindrücke. Auf der einen Seite ist es
erstaunlich und anerkennenswert, was seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur
in Polen, die alles Deutsche leugnete und unterdrückte, in knapp 14 Jahren geschaffen
werden konnte. Die Demokratie bot nach Pfarrer Globisch, dem Beauftragten des Bistums
Oppeln für die deutsche Minderheit, die Möglichkeit, einiges nachzuholen.
Dafür nur einige Beispiele: In Oppeln wurde eine moderne zentrale Bücherei eingerichtet,
die eine große Lücke füllt. Sie bietet von Bilderbüchern für den Deutschunterricht,
Werken schlesischer Schriftsteller, Literatur über Schlesien und schlesische Geschichte
bis zu deutschen Klassikern eine reiche Auswahl in beiden Sprachen an und ergänzt so das
Angebot der polnischen öffentlichen Bibliotheken, die zum Teil auch noch antideutsch
ausgerichtete Altbestände haben. Die Zentralbücherei hat 50 Filialen und zwei
Bücherbusse.
Das ist besonders wichtig, denn die deutschen Schlesier wohnen vorwiegend in den Dörfern,
während in den Städten die polnische Bevölkerung überwiegt. So sind z. B. in Oppeln
heute nur ein bis zwei Prozent der Einwohner deutscher Herkunft, während noch 1921 bei
der Abstimmung 95 Prozent für den Verbleib bei Deutschland gestimmt haben.
Wegen der nach 1945 einsetzenden Diskriminierung und zwangsweisen Polonisierung ist die
mittlere Generation der Oberschlesier weitgehend ohne deutsche Sprachkenntnisse, die erst
seit zehn Jahren mühsam durch Schulunterricht zurückgewonnen werden. Bei einem
wöchentlichen Fremdsprachenunterricht von drei Stunden pro Woche sind jedoch nur
begrenzte Ergebnisse zu erwarten. In Ungarn z. B. erhalten die Kinder deutscher Abstammung
sechs Stunden Deutschunterricht pro Woche, was einen raschen Spracherwerb ermöglicht.
Auch die katholische Kirche mit Erzbischof Alfons Nossol, dem Schlesier des
Jahrhunderts, an der Spitze fordert die Wiedergewinnung der deutschen Sprache im
kirchlichen Bereich. Aber obwohl überall deutschsprachige Gottesdienste angeboten werden
sollten, ist dies bisher aus unterschiedlichen Gründen nur in 100 Kirchen der Fall, in
120 anderen jedoch nicht. Immer wieder hörten wir darüber Klagen aus den Gemeinden,
obwohl wir viele jüngere Pfarrer trafen, die fließend Deutsch sprachen.
Es ist bisher nicht möglich gewesen, eine deutsche Schule in Ober- oder Niederschlesien
einzurichten. Während in Breslau beim Deutschen Freundeskreis (DFK) Skepsis vorherrschte,
ob eine solche von der Bundesrepublik Deutschland eingerichtete Schule genügend Zuspruch
fände, bejahte dies Th. Schäpe, der Direktor des Hauses für deutsch-polnische
Zusammenarbeit in Gleiwitz für Oberschlesien. In Breslau begnügt man sich derzeit mit
einer (!) bilingualen Klasse in einem Gymnasium, und das in der Kapitale Schlesiens, die
in den letzen zehn Jahren erhebliche Fortschritte gemacht hat und einen äußerst
lebendigen Eindruck macht. Negativ ist auch zu bewerten, daß es in Oberschlesien im
Gegensatz zu Warschau und Krakau kein Goethe-Institut gibt.
Wem die Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen insgesamt, die angemessene
Förderung der deutschen Minderheit in Schlesien und ihrer Brückenfunktion ein ernstes
Anliegen ist, der müßte alles tun, um den Deutschunterricht zu verbessern. Dies könnte
eine Aufgabe des Bundes, aber auch der Länder Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz
sein, die den Woiwodschaften Schlesien (d. i. Kattowitz) und Oppeln partnerschaftlich
verbunden sind. Dabei muß die deutsche Volksgruppe gleichberechtigt beteiligt werden.
Die räumlichen Voraussetzungen für Bildungs- und Kulturarbeit sind mit vielfältiger
Hilfe aus Deutschland, u. a. auch des Bundes der Vertriebenen, inzwischen geschaffen
worden.
Die Diözese Oppeln verfügt über das renovierte und schön gelegene Schloß Groß-Stein
mit ausgezeichneten Tagungs- und Übernachtungsmöglichkeiten (bis 1945 im Besitz der
Familie von Strachwitz). In Lubowitz bei Ratibor lädt das Eichendorff-Zentrum die
Besucher ein, in zahlreichen Dörfern gibt es Begegnungshäuser, so z. B. in Benkowitz,
Tworkau oder Annaberg. Der DFK Breslau besitzt ein gut ausgestattetes Zentrum, in
Niederschlesien wird weiter am Großen Schloß Lomnitz gearbeitet, während im Kleinen
Schloß schon Tagungen und Beherbergung möglich sind.
Alle diese Erfolge waren nur im Zusammenwirken der verbliebenen Schlesier mit ihren
vertriebenen Landsleuten und deutsch-polnischen Einrichtungen möglich. Wie die letzte
Volkszählung jedoch zeigt, sind weitere Anstrengungen und kontinuierliche Weiterarbeit
nötig, um das deutsche Erbe Schlesiens zu erhalten und die deutsche Identität
wiederzugewinnen: 153 000 bekannten sich zur deutschen Nationalität, 173 000 bezeichneten
sich als Schlesier, 100 000 stimmten nicht ab und 770 000 machten keine Angabe. 49 000
bekannten sich als Weißrussen, 31 000 als Ukrainer.
Dieses Bild der Nationalitäten im heutigen Polen spiegelt die jahrzehntelange
Unterdrückung und Polonisierung. Noch immer gibt es Ängste bei den Minderheiten, sich
angesichts des fortbestehenden polnischen Nationalismus offen zu bekennen. Dazu paßt
auch, daß das Minderheitengesetz trotz zehnjähriger Diskussion immer noch nicht
verabschiedet ist, es keine deutschen Ortsschilder in den überwiegend deutschen Gemeinden
gibt und man auch in kirchlichen Einrichtungen wie Groß-Stein kaum deutsche Aufschriften
findet, so daß man sich z. B. Hinweise für das Telefon oder anderer Art erst aus dem
Polnischen übersetzen lassen muß.
Vorläufige Schlußfolgerungen: Die Schlesier in Deutschland und in Schlesien sollten noch
enger zusammenarbeiten, die mittlere und junge Generation verstärkt einbeziehen, und
beide Staaten, in der Bundesrepublik Deutschland auch die schon genannten Bundesländer,
sollten die ostdeutschen/schlesischen Kultureinrichtungen stärker fördern, statt die
Hilfen abzubauen, um in Schlesien, einem Land tausendfacher Schönheit, ein Beispiel
europäischer Zusammenarbeit über Grenzen und Sprachen hinweg zu geben.
Vieles ist erreicht, viel bleibt zu tun.
Rüdiger Goldmann (KK)
Unsere Arbeit hat eine gute Perspektive
KK-Gespräch mit Dr. Walter Engel, dem Direktor der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus
in Düsseldorf
Seit 1988 ist Dr. Walter Engel Direktor des Düsseldorfer
Gerhart-Hauptmann-Hauses. Geboren wurde er 1942 in Deutschsanktmichael bei Temeswar im
rumänischen Banat, wo er die deutschsprachige Schule besuchte. Nach dem
Germanistikstudium in Temeswar war er dort bis 1980 als Universitätsdozent tätig. Nach
seiner Aussiedlung folgte die Promotion in Heidelberg und eine
bibliothekswissenschaftliche Ausbildung in Frankfurt am Main, wo er zunächst als
wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stadt- und Universitätsbibliothek beschäftigt war und
dann beim Amt für Wissenschaft und Kunst der Stadt Frankfurt am Main. Seine in Rumänien
begonnene literaturwissenschaftliche und publizistische Arbeit setzte er neben den
dienstlichen Verpflichtungen fort. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher und
zahlreicher Beiträge in Sammelbänden und Periodika über deutsche und rumäniendeutsche
Literatur sowie zur deutschen Kultur in Ostmitteleuropa. Dr. Engel hat den 2000
eingestellten Gemeinsamen Weg des Ostdeutschen Kulturrates redaktionell
mitbetreut und ist verantwortlicher Redakteur der Vierteljahresschrift West-Ost-Journal,
herausgegeben vom Gerhart-Hauptmann-Haus, die im 11. Jahr erscheint. Für seine besonderen
Verdienste um Volk und Staat wurde Dr. Engel vor kurzem die Verdienstmedaille
des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland von Bundespräsident Horst Köhler
verliehen.
1992 wurde das damalige Haus des Deutschen Ostens in Gerhart-Hauptmann-Haus
umbenannt. War damit eine neue Orientierung in der Kulturarbeit des Hauses verbunden?
Welchen Stellenwert hat die Pflege des ostdeutschen Kulturerbes im heutigen
Gerhart-Hauptmann-Haus?
Dr. Engel: Zuerst zur zweiten Frage: Die Kernaufgabe der Stiftung
die Bewahrung, Pflege und Vermittlung deutscher Geschichte und Kultur der früheren
deutschen Ostprovinzen und Siedlungsgebiete in Südosteuropa besteht nach wie vor.
Ich würde weniger von einer neuen Orientierung, sondern eher von einer Erweiterung und
Differenzierung des Programms der Stiftung sprechen, das durch den Dialog mit unseren
östlichen Nachbarn von Königsberg / Kaliningrad im Nordosten bis nach Temeswar im
Südosten auch einen betont europäischen Charakter angenommen hat. Der Vorstand
und das Kuratorium der Stiftung legten im Einvernehmen mit der Landespolitik besonderen
Wert auf die grenzüberschreitenden Aktivitäten. Bis 1989 mußte sich die Arbeit des
Hauses auf die Wirkung nach innen in NRW oder bestenfalls in der alten
Bundesrepublik beschränken. Neu ist eben der Austausch mit den Heimatgebieten der
deutschen Vertriebenen, die Kooperation mit den Institutionen, den Schriftstellern,
Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern dieser Regionen, die wir als Partner in unsere
Arbeit einbeziehen. Dafür gibt es keine Alternative, denn sie leben und wirken auf den
Territorien, wo die Kultur und Geschichte, die wir als organischen Bestandteil der
gesamtdeutschen Kultur bewahren wollen, ihre Wurzeln hat, sich ereignet hat und in Teilen
fortbesteht. Gerhart Hauptmann steht in unserem neuen Namen als Symbol deutscher Kultur im
Osten, der Untertitel Deutsch-osteuropäisches Forum für den erweiterten
Aufgabenbereich.
Inwiefern trägt die Erweiterung der EU dazu bei, daß die Kontakte zu den deutschen
Minderheiten in Ost- und Südosteuropa ausgebaut werden können?
Dr. Engel: Kontakte zu den deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa
vor allem in Polen, Ungarn und Rumänien haben wir sofort nach der Wende
aufgenommen, als sich die Minderheiten neu organisieren konnten. In Polen hatte die
deutsche Bevölkerung ja erst Ende der 80er Jahre die Möglichkeit, sich wieder in ihrer
Sprache öffentlich kulturell zu betätigen. Als wir auf einer Kulturtournee 1992 mit
einem deutschsprachigen literarisch-musikalischen Programm es war die Gruppe von
Barbara Schoch auf dem Danziger Domenikus-Markt auftraten, war das eine kleine
Sensation. Ebenso in Allenstein und Ratibor, wo man nach Jahrzehnten zum ersten Mal
öffentlich wieder ein deutsches Lied singen konnte. Die Gruppe sang auch polnische und
internationale Lieder. Ruckwärtsgewandte nationale Engstirnigkeit war übrigens nie
unsere Sache.
So bestanden unsere guten Kontakte nicht nur zu den deutschen Minderheiten, sondern auch
zu den in diesen Gebieten verantwortlichen Kulturpolitikern und Institutionen, z. B. den
Museen, die ja auch gegenüber der deutschen Kulturgeschichte der betreffenden Orte und
Regionen Verpflichtungen hatten und haben. Als die EU-Erweiterung am 1. Mai 2004 de jure
kam, hatten wir sie in unserer Arbeit de facto längst vollzogen.
Wie wirken sich die Sparmaßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen auf den nun
erweiterten Aufgabenbereich des Gerhart-Hauptmann-Hauses aus? Welcher Tätigkeit räumen
Sie Prioritäten ein?
Dr. Engel: Ich empfinde es als paradox, doch leider ist es die
Realität: Stand dem kulturellen Dialog, der Kommunikation mit unseren östlichen Nachbarn
die kommunistische und auch antideutsche Ideologie im Wege, die sich hinter Grenzen mit
Mauern und Stacheldraht verschanzt hatte, so hindert uns jetzt die Knappheit der
finanziellen Mittel daran, die großen Chancen des Austausches, der kulturellen
Kooperation mit den Regionen, deren Identität von deutscher Kulturgeschichte mitgeprägt
ist, gebührend zu nutzen. Für die grenzüberschreitenden Aktivitäten sind wir auf
Projektmittel angewiesen, die immer spärlicher werden beim Bund, während das Land NRW
zumindest in unserem Bereich die Projektförderung ja seit einigen Jahren
ganz eingestellt hat. In unserem Programm haben die Aktivitäten in Düsseldorf und NRW
die gleiche Priorität wie jene in Königsberg, Breslau oder Fünfkirchen. Wir haben den
Auftrag, die Kultur und Geschichte der Vertreibungsgebiete, wie es im Gesetz
heißt, im Bewußtsein des deutschen Volkes u n d des Auslands zu bewahren.
Bibliothek und Artothek sind wichtige Einrichtungen des Hauses. Welche Ziele verfolgen
sie und in welchem Maße werden diese erreicht?
Dr. Engel: Mit mehr als 80 000 Medieneinheiten bietet unsere
wissenschaftliche Spezialbibliothek hervorragende Studien- und Informationsmöglichkeiten
im Bereich der Geschichte und Kultur der früheren deutschen Ostgebiete und
südosteuropäischen Siedlungsgebiete. Hinzu kommt als besonderer Schwerpunkt die auf
diese Regionen bezogene Belletristik und Literaturwissenschaft. Die Bibliothek ist eine
unverzichtbare Stütze unseres Programms, für das sie Interesse weckt durch
Buchausstellungen sowie durch die Mitwirkung an literarischen Veranstaltungen. Es handelt
sich übrigens um eine der bundesweit bestausgestatteten Büchereien unseres
Arbeitsbereichs.
Die internationalen Kontakte der Bibliothek erleichtern unsere grenzüberschreitenden
Aktivitäten. Die anhaltenden Sparmaßnahmen wirken sich natürlich negativ aus auf den
Bestandsausbau, auf die weitere benutzerfreundliche Erschließung so kann der als
Typoskript vorliegende neue Schlesienkatalog aus Kostengründen nicht gedruckt werden! Die
Artothek sie umfaßt über tausend Kunstwerke ist von den Einsparungen noch
mehr betroffen. Seit Jahren wird sie wegen Personalmangels nur sporadisch, sozusagen
ehrenamtlich betreut .
Das Gerhart-Hauptmann-Haus ist heute über den Vertriebenenbereich hinaus eine feste
Größe im Düsseldorfer Kulturkalender. Was hat dazu geführt und wie kann dieser gute
Ruf des Hauses erhalten werden ?
Dr. Engel: Aus meiner Sicht ist es falsch, von Vertriebenenkultur
zu sprechen. Die Vertriebenenverbände haben in unserem Haus eine gut ausgestattete
Informations- und Begegnungsstätte. Die Pflege der Kultur der Vertreibungsgebiete ist
aber eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung, sofern man sich noch als Kulturnation
versteht, also nicht nur der Vertriebenen. Entscheidend für den Rang unseres Hauses im
Düsseldorfer Kulturleben oder überregional und, wenn man will, auch international ist
zunächst das Streben nach Professionalität in allen Arbeitsbereichen
einschließlich der Brauchtumspflege oder anderer volkstümlicher Veranstaltungen ,
dann die Kooperation mit angesehenen kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen, mit
Universitäten, Museen, Kulturvereinen und Bibliotheken. Ich denke, daß unsere
vielfältigen Kontakte nach Ostmitteleuropa, unsere Offenheit für die Wechselbeziehungen
zu den Kulturen der östlichen Völker unserer Arbeit nicht nur einen größeren
geographischen Radius geben, sondern auch eine neue Qualität .
Ähnliche Einrichtungen wie das Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf sind das Haus
der Heimat in Stuttgart und das Haus des Deutschen Ostens in München. Auch zahlreiche
ostdeutsche Landesmuseen und andere wissenschaftliche Institutionen sind in diesem Bereich
tätig. Welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit ergeben sich daraus und wie werden sie
von Ihrem Haus genutzt?
Dr. Engel: Mit München und Stuttgart, mit dem inzwischen
geschlossenen Deutschlandhaus Berlin und mit der Ostdeutschen Galerie in Regensburg haben
wir in den neunziger Jahren einen kontinuierlichen Erfahrungsaustausch gepflegt. Die
Leiter der Häuser trafen sich regelmäßig reihum an den jeweiligen Wirkungsstätten.
Offensichtlich verhindern Mittelknappheit und Personalmangel die Weiterführung dieser
Tradition. Informationsaustausch und gelegentlich die Übernahme von Ausstellungen, dies
vor allem von den Landesmuseen, bestehen selbstverständlich. Die Bibliotheken sind in der
Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Dokumentationsstellen der Ost-, Ostmittel- und
Südosteuropaforschung zusammengeschlossen.
Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Hauses und der ostdeutschen Kulturarbeit insgesamt vor
dem Hintergrund des Generationenwechsels und der multikulturellen Entwicklung in
Nordrhein-Westfalen? Welches sind die dringlichen Aufgaben der ostdeutschen Kulturpflege
nach erfolgter, wenn auch nicht abgeschlossener Integration der Heimatvertriebenen?
Dr. Engel: Im neuen Europa gewinnen die Regionen an Bedeutung und
Profil. Die europäische Integration hat uns die Regionen, deren historische und
kulturelle Identität über Jahrhunderte durch die Zugehörigkeit zum deutschen
Kulturbereich geprägt wurde, wieder nähergebracht. Die heutige Bevölkerung dort, vor
allem die unbelastete Jugend, nimmt diese Komponente ihrer heimatlichen Region an. Dazu
können Institutionen wie unser Haus einen guten Beitrag leisten, in Kooperation und im
Austausch mit den einschlägigen Kultureinrichtungen vor Ort. Dadurch erhielt unsere
Arbeit den schon erwähnten europäischen Dialogcharakter. Wir können darüber hinaus die
hier wenig bekannten Kulturen unserer östlichen Nachbarn vermitteln. Dies geschieht
bereits. Als Brücke zum Osten in einem Europa der kulturellen Vielfalt, mit unserer
eigenen östlichen Kulturgeschichte als tragendem Pfeiler, wird das Gerhart-Hauptmann-Haus
eine gute Perspektive haben und auch die Pflege ostdeutscher Kultur jenseits von Oder und
Neiße.
Die Fragen stellte Franz Heinz. (KK)
Von Württemberg-Mömpelgard nach St. Petersburg
Das Stuttgarter Haus der Heimat dokumentiert die Vermittlerrolle der Sophie Dorothea
von Württemberg-Mömpelgard alias Maria Feodorowna
Im Jahre 1776 heiratete Sophie Dorothea von Württemberg-Mömpelgard den
russischen Großfürsten und späteren Zaren Paul I. und hieß von nun an Maria
Feodorowna. Als Großfürstin, Zarin und Zarinmutter nahm sie eine Vermittlerrolle
zwischen der neuen und der alten Heimat, zwischen Württemberg und Sankt Petersburg ein.
Sie setzte eigene Akzente bei der von Peter I. und Katharina II. in Gang gesetzten
Öffnung des Landes nach Westen.
Durch diese dynastische Beziehung kamen nicht nur Bücher, Kunstwerke und Möbel von
Württemberg nach Pawlowsk und Gatschina, sondern auch Gelehrte, Künstler und Handwerker,
die sich dort dauerhaft niederließen.
Vieles in den Schlössern und Parks um die einstigen Repräsentationsorte der russischen
Zaren erinnert bis heute an die württembergische Herkunft ihrer einstigen Bewohnerin.
Durch die Heirat des württembergischen Thronfolgers Wilhelm, des späteren Königs von
Württemberg, mit der russischen Großfürstin und späteren Königin Katharina fand der
Austausch auch in umgekehrter Richtung statt. Neben materiellen Gütern kamen mit der
Tochter wichtige Impulse für die Wohltätigkeits- und Bildungsarbeit nach Stuttgart. Die
verdienstvolle Arbeit Katharinas wiederum wurde von ihrer Nichte, der Zarentochter Olga,
und von deren Nichte bzw. Adoptivtochter Großherzogin Wera fortgeführt.
Als ersten Baustein des Projektes Badisch-württembergisch-russische Herrscherinnen
zwischen Aufklärung und Wohltätigkeit hat das Haus der Heimat des Landes
Baden-Württemberg eine Publikation mit dem Titel Maria Feodorowna als Mittlerin
zwischen Württemberg und Rußland herausgegeben. Eine mit zahlreichen Fotos und
Materialien ergänzte Zeittafel zusammengestellt von der Projektleiterin Dr.
Annemarie Röder gibt zunächst Auskunft über Leben und Wirken dieser bedeutenden
Frau.
Es folgen acht Beiträge auf insgesamt 108 Seiten, in denen die Kontakte Maria Feodorownas
zu ihrer württembergischen Heimat beleuchtet werden. Der Stadthistoriker Harald Schukraft
beschreibt Orte und Personen, die das Großfürstenpaar 1782 in Stuttgart und Mömpelgard
im Rahmen ihrer Europareise besuchten. Der Kunsthistoriker Dr. Christian Henning
beschäftigt sich mit den im Auftrag des russischen Hofes erstellten Werken des
Stuttgarter Hofbildhauers Johann Heinrich Dannecker, von denen die Büsten des Herzogs
Friedrich Eugen von Württemberg und der Herzogin Sophie Dorothea von Württemberg eine
besondere Bedeutung hatten.
Daß die Kunstschreiner David Roentgen, Heinrich Gambs und Johannes Klinckerfuß sowohl
für den russischen als auch für den württembergischen Hof Möbel lieferten, zeigt der
Aufsatz von Dr. Wolfgang Wiese, Oberkonservator bei den Staatlichen Schlössern und
Gärten, Oberfinanzdirektion Karlsruhe. Parallelen und Kontraste in der Gartengestaltung
von Pawlowsk und Hohenheim beleuchtet die Historikerin Sonja Hosseinzadeh, die in einem
zweiten Beitrag einen Überblick über den Ideentransfer zwischen Mutter (Zarin Maria
Feodorowna) und Tochter (Königin Katharina von Württemberg) am Beispiel der
Wohltätigkeitseinrichtungen und Bildungsinstitute gibt.
Mit der Verheiratung Sophie Dorotheas mit Paul wurden die Weichen für den Eintritt
mehrerer Mitglieder des Hauses Württemberg in den russischen Militärdienst gestellt, ein
Thema, mit dem sich die Historikerin Michaela Weber beschäftigt. Abschließend stellt
Gisela Zick ausgewählte Bildnisse und Medaillen zu Maria Feodorowna in württembergischen
musealen Sammlungen vor.
(KK)
Maria Feodorowna als Mittlerin zwischen Württemberg und Rußland.
Redaktion: Annemarie Röder.
Hg. vom Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg, Stuttgart 2004.
Schutzgebühr 10 Euro (plus Versandkosten)
Ist die kopflose Zeit endgültig vorbei?
Auch im eigentlichen Wortsinn: Fürstenfiguren am Königsberger Königstor erhielten
zur 750-Jahr-Feier ihre Köpfe zurück
Eine Überraschung ist es, daß das Königstor, das zu den wenigen preußischen
Baudenkmalen in Königsberg gehört, die den Zweiten Weltkrieg überdauert haben, zu
Beginn des Jahres 2005 als offizielles russisches Symbol und Logo der 750-Jahr-Feier der
Stadt gewählt wurde. Auf dem Jubiläumslogo ist das Tor allerdings mit dem Schriftzug
,,750 KALININGRAD versehen und den Farben Weiß-Blau-Rot der russischen
Nationalflagge hinterlegt.
Möglicherweise spielte bei der Wahl des Königstors die Tatsache eine Rolle, daß sich
daran die seit 1945 allerdings kopflose Skulptur des slawischen Königs
Ottokar II. von Böhmen, des Namenspatrons der Stadt, befindet. Der König war mit
Topfhelm und Schild zur Linken dargestellt. Wie Fritz Gause, der Historiker der Stadt
Königsberg, 1972 bemerkt hat, ist diese Sandsteinfigur sogar das
einzige Denkmal dieses aus tschechischem und deutschem Blut stammenden Fürsten auf
deutschem Boden gewesen.
Der Böhmenkönig soll denn auch bei dem zu den Jubiläumsfeierlichkeiten geplanten
Festumzug mit historischen Gruppen auftreten. Hier werden auch Prußen, der Bischof
Adalbert, die Gesandtschaft Zar Peters des Großen, Rotarmisten usw. angekündigt, nicht
aber Ritter des Deutschen Ordens. Unter dem Hochmeister des Ordens, Poppo von Osterna,
erfolgte im Januar 1255 der Kreuzzug gegen das von den heidnischen Prußen bewohnte
Samland, das rasch erobert und durch die Anlage einer Burg auf der Anhöhe Tuwangtse
(=Waldberg?) über dem Pregel, wo sich wohl eine prußische Wallburg befand, gesichert
wurde. Dem vornehmsten und ranghöchsten Kreuzfahrer, dem damals mächtigsten
Reichsfürsten König Ottokar II. von Böhmen, zu Ehren wurde die Burg Königsberg
benannt.
Vom Mittelbau des Königstors blicken noch zwei weitere für die Geschichte des Landes und
der Stadt bedeutende, jedoch gleichfalls seit 1945 kopflose Herrscher herab. Zwischen dem
Böhmenkönig und Herzog Albrecht, dem letzten Hochmeister des Deutschen Ordens und
Begründer des Herzogtums Preußen 1525, steht Friedrich I., der sich als Kurfürst
Friedrich III. von Brandenburg 1701 in Königsberg zum ersten König in Preußen krönte.
Friedrich I. trägt zwar nicht die Krone auf dem Haupt, aber das Zepter in der Rechten und
den Reichsapfel in der Linken, und Herzog Albrecht erhebt mit beiden Händen das
Herzogsschwert, das spätere Reichsschwert.
Zum Stadtjubiläum Anfang Juli soll nicht nur die Bauplastik aus Sandstein, sondern auch
der neugotische Ziegelbau des Königstors selbst möglichst vollständig restauriert sein.
Das Tor wurde zwar bereits 1945 bei der Belagerung und dem Sturm der Roten Armee auf das
zur Festung erklärte Königsberg durch Flieger- und Artilleriebeschuß stark in
Mitleidenschaft gezogen, den drei prominenten Fürstenfiguren aber hat man erst nach der
Eroberung der Stadt die Köpfe und Arme mit den Attributen abgeschossen bzw. abgeschlagen.
Ein sowjetisches Foto vom 9. April 1945, dem Tag der Kapitulation der Stadt, zeigt
immerhin den Böhmenkönig noch mit Kopf.
Wie nach der Perestroika Swetlana Suchowa in ihrem Artikel Die Partei befahl:
,Vernichten! in den Moskau News vom Dezember 1990 berichtet, soll
Bürgermeister Wiktor Denisow das Königstor gerettet haben, indem er die
Vorbereitung zu dessen Sprengung für die Parteibonzen der Stadt sorgfältig inszenierte.
Diese beobachteten eine Zeit lang die Sprengmeister bei der Arbeit, wollten aber die
Sprengung selbst nicht abwarten und fuhren weg. Ihnen folgte der Sprengstoff.
So konnte in dem später von den sowjetischen Behörden unter Denkmalschutz gestellten
Königstor nach der Öffnung des Kaliningrader Gebietes im Frühjahr 1991 das auch in
deutscher Sprache bezeichnete Café Königstor die ersten 1945 und später aus
ihrer Heimat geflüchteten, vertriebenen oder umgesiedelten Ostpreußen
einladen. Wenig später aber wurde das baufällige Tor mit einem Bretterzaun umgeben.
Ende März 2005 sind nun aber Restauratoren aus St. Petersburg eingetroffen. Ein Foto von
Igor Sarembo im Königsberger Express vom April zeigt einen Restaurator bei
der Arbeit auf dem Gerüst in zehn Meter Höhe. Während König Friedrich I.
bereits Kopf und Insignien erhalten hat und Herzog Albrechts Haupt und Schwert im
Entstehen sind, ist König Ottokar II. noch verstümmelt. Die Restaurierung, die ein
hohes Maß an Sorgfalt und Fachwissen erfordert, werde von einem der
führenden Restauratoren der St. Petersburger Eremitage geleitet.
Das Königstor ist nicht, wie vielfach angegeben wird, allein nach Plänen des Architekten
von Aster errichtet worden. Die Fassaden der Tore sind, wie bereits in der Zeitschrift
für Bauwesen von 1865 vermerkt, das Werk von Friedrich August Stüler (1800-1865),
dem Architekten des Königs Friedrich Wilhelm IV.
Der königliche Baubeamte Stüler, unter anderem Geheimer Ober-Baurat in der Technischen
Oberbaudeputation in Berlin, und nicht Aster, wie Herbert Meinhard Mühlpfordt in seinen
oft zitierten Königsberger Skulpturen und ihre Meister 1255-1945 (1970)
angibt, war also die Künstlernatur, die die Tore nicht nur
zweckmäßig, sondern auch schön, im Tudorstil baute. Der General der Infanterie
Ernst Ludwig von Aster (1778-1855) arbeitete zwar 1842/43 in Berlin als Generalleutnant
und Chef des Ingenieurkorps und der Pioniere sowie Generalinspekteur der Festungen den
Entwurf des gesamten Befestigungswerkes aus, ist aber wie sein Nachfolger, General
Leopold Johann Ludwig von Brese-Winiary (1787-1878) nicht der eigentliche Schöpfer
der bis 1862 entstandenen sieben künstlerisch gestalteten Stadttore von Königsberg im
romantisch-neugotischen Backsteinstil.
Eva Börsch-Supan schreibt zwar in der von ihr und Dietrich Müller-Stüler (1908-1984),
einem Urenkel des Architekten, verfaßten Künstler-Werkmonographie Friedrich August
Stüler. 1800-1865 von 1997, daß Stüler bisweilen wie bei den Königsberger
Stadttoren zur künstlerischen Überformung militärisch vorgegebener Anlagen
eingeschaltet war, doch ihre Auskunft, daß heute nur noch ein oder zwei Tore
vorhanden, und vor allem, daß die Entwurfszeichnungen der Tore weder im Original noch in
einer Reproduktion überliefert seien, ist unrichtig bzw. überholt.
Ein großer Teil von Stülers originalen oder seinerzeit von Mitarbeitern des
Ingenieurkorps kopierten Entwurfszeichnungen der Tore ist im Geheimen Staatsarchiv Berlin
erhalten und in dem von Winfried Bliß bearbeiteten Verzeichnis Allgemeine
Kartensammlung Provinz Ostpreußen: Spezialinventar (= Veröffentlichungen aus den
Archiven Preußischer Kulturbesitz Bd. 43) aus dem Jahr 1996 erfaßt.
Die Entwürfe befanden sich in der IV. Hauptabteilung Preußisches Heeresarchiv
des Geheimen Staatsarchivs, die aber 1937 an das in Potsdam neu gegründete Heeresarchiv
abgegeben werden mußte, das bei dem britischen Bombenangriff am 14. April 1945 zum
größten Teil verbrannte.
Die geretteten Archivalien wurden nach 1945 vom Zentralen Staatsarchiv der DDR in Potsdam
übernommen, dann 1968 an das Zentrale Staatsarchiv in Merseburg, wohin nach 1945 die
kriegsverlagerten Archivalienbestände des Geheimen Staatsarchivs gelangt waren,
weitergeleitet und kamen schließlich nach der Wiedervereinigung Deutschlands von dort
1993/94 nach Berlin zurück. Alle Zeichnungen der Tore weisen denn auch auf der Rückseite
den Stempel Heeresarchiv Potsdam, Kartenarchiv auf.
Unter den verloren geglaubten Entwürfen Stülers befindet sich der Originalentwurf des
Königstors, den man auch noch in Baldur Kösters verdienstvollem Werk Königsberg.
Architektur aus deutscher Zeit (2000) vermißt. Die lavierte Federzeichnung im
Maßstab circa 1:170 auf einem 38 x 28,5 cm großen Blatt ist in der rechten unteren Ecke
von Stüler, allerdings ohne Datum, signiert. Bliß datiert sie um 1850.
Da aber auf der Rückseite vermerkt ist: Entwurf zur Facade des Königs-Thors in
Königsberg von Stüler. Remithirt von Maj. v. Dechen den 24t(en) Dez(em)ber 46,
muß der Entwurf spätestens 1846 entstanden sein. Die noch heute auf dem Schlußstein des
Gewölbes der Tordurchfahrt vorhandene Jahreszahl 1846 sichert das Baudatum.
Auf Stülers Entwurf des Königstors sind bereits die Konsolen der drei Statuen
eingetragen. Die schmalen Öffnungen unter den Blendbögen dienen also zur Verankerung der
schweren Sandsteinfiguren, mit deren Ausführung Wilhelm Ludwig Stürmer (1812-1885), ein
namhafter Künstler der Berliner Bildhauerschule, beauftragt wurde.
Am 12. April 1847 bittet Stürmer den Maler Julius Rafael Knorre (1804-1884), der in
Königsberg an der Kunst- und Zeichenschule unterrichtet: Durch die Gnade des
Königs sind bei mir die drei Standbilder für das neue Königstor bestellt worden und
zwar in Sandstein, acht Fuß hoch. Um diese in historischer Wahrheit genau wie möglich
darstellen zu können, fehlen mir einige Quellenstudien. Durch sie würde mir größere
Sicherheit und Beruhigung bei dem Werke gewährt werden. Ich ersuche Sie, mir das Grabmahl
Herzog Albrechts I. zeichnen zu lassen ...
Leider sind die Entwürfe Stürmers, die als Grundlage für die Rekonstruktion der Statuen
hätten dienen können, verschollen. Wo ist der künstlerische Nachlaß des Bildhauers
verblieben, dessen Sterbejahr in keinem Lexikon zu finden ist? Nachforschungen haben zwar
ergeben, daß Stürmer nach dem Zeugnis bisher unpublizierter Archivalien 1885 in Berlin
den Freitod wählte, aber seine Entwürfe lassen sich bisher nirgendwo nachweisen.
Auf Stülers Originalentwurf des Königstors sind zudem nachträgliche
Bleistiftkorrekturen zu beobachten. Der Mittelteil mit den Ecktürmchen und den Dachzinnen
ist erhöht, die Anzahl und die Form der Zinnen sind verändert und auf den unteren
Öffnungen der Blendbögen die Umrisse der später aufgemalten Wappen der drei Herrscher
skizziert. Bei diesen Nachbesserungen, die am Bau ausgeführt wurden, muß es
sich um Änderungswünsche des Königs handeln.
Solche vom kunstsinnigen Bauherrn mit Bleistift direkt in die Pläne seines Architekten
eingetragene Korrekturen, mitunter mit handschriftlichen Bemerkungen, finden sich des
öfteren in Stülers Entwürfen im ganzen.
Heinrich Lange (KK)
Heimat und Moderne schließen einander nicht aus
Ansichten architektonischer Moderne in Danzig, Zoppot und Leipzig
Auf Initiative des aus Anlaß des deutsch-polnischen Jahres 2005/2006 im Rahmen der
Kulturstiftung des Bundes in Berlin entstandenen Kopernikus-Büros wird ein
deutsch-polnisches Gemeinschaftsprojekt unter dem Titel Ansichten der
architektonischen Moderne in Gdansk, Sopot und Leipzig realisiert, das in zwei in
Danzig und Leipzig stattfindenden architektonischen Ausstellungen seine Umsetzung gefunden
hat.
Danzigs Architekturgeschichte im 20. Jahrhundert ist bislang nur unzureichend erforscht.
Die wenigen Dokumente, die den Zweiten Weltkrieg überdauert haben, sind ungeordnet und
aus politischen wie historischen Gründen schlecht aufgearbeitet. Dabei haben namhafte
deutsche und polnische Architekten wie Fritz Höger, Paul Möbes und Lech Kadlubowski in
Danzig und im benachbarten Seebad Zoppot ihre Spuren hinterlassen.
Einen Grund für die Vernachlässigung des Erbes moderner Architektur sehen die Kuratoren
im offiziell vermittelten Image von Danzig als alter Hansestadt, das durch den
wiederaufgebauten historischen Stadtkern verkörpert wird. Unwanted Heritage
wird die Geschichte von den Anfängen der modernistischen Architektur in Danzig
erforschen, in Text, Film und Bild dokumentieren und den heutigen Zustand der Gebäude
analysieren. Viele Bewohner von Danzig tun sich schwer, moderne Architektur als einen Teil
der lokalen Tradition zu begreifen. Ihre subjektive Einstellung zu diesem Abschnitt der
Baugeschichte wird in Audio- und Videoaufzeichnungen eingefangen. Begleitend zur
Ausstellung findet ein Symposium statt.
Weil diese Reflexion der Moderne kein lokales, sondern ein internationales Phänomen ist,
hat Büro Kopernikus eine Kooperation zwischen Unwanted Heritage und dem
Projekt Heimat_Moderne in Leipzig angeregt. Heimat_Moderne ist ein
spartenübergreifendes Kulturprojekt, das sich auch Fragen des Städtebaus widmet: Warum
fühlen sich die Bewohner einer Stadt in ihr heimisch? Wie kommt es, daß sie sich mit
einer baugeschichtlichen Periode eher identifizieren als mit einer anderen?
Zwar ist Leipzigs klassische Moderne der Zwischenkriegszeit in ihren
baukulturellen Werten allgemein anerkannt, die Beispiele der sozialistischen
Nachkriegsmoderne werden jedoch erst allmählich einer Neubewertung unterzogen.
Die Ausstellung in Danzig zeigt einen kleinen Ausschnitt des Leipziger Projektes. Im
Gegenzug enthält die Ausstellung über den Augustusplatz in Leipzig Querverweise auf
Danzig. Im Juli sind Fragen nach Heimat und Moderne in beiden Ländern Gegenstand einer
Podiumsdiskussion in Leipzig.
Gerhard Olter (KK)
Dokumentar seines Glaubens
Erich Kleineidam, der Nestor der von Adolf Kardinal Bertram geweihten
Breslauer Diözesanpriester, ist gestorben
Der jetzt im biblischen Alter von 100 Jahren verstorbene Apostolische Protonotar
Professor Dr. Erich Kleineidam dürfte der Nestor der von Adolf Kardinal Bertram geweihten
Breslauer Diözesanpriester gewesen sein.
Er wurde am 3. Januar 1905 in Bielschowitz (Oberschlesien) geboren, wuchs in Brieg auf,
studierte in Breslau, Freiburg im Breisgau und Innsbruck katholische Theologie und
Philosophie, empfing 1929 die Priesterweihe und wurde 1930 von der Universität Breslau
zum Doktor der Philosophie promoviert. 1934 erfolgte seine Ernennung zum Repetitor am
Erzbischöflichen Knabenkonvikt zu Breslau, 1939 übernahm er die Philosophieprofessur in
Weidenau, von wo aus er an der Beerdigung Kardinal Bertrams in Jauernig teilnahm.
Im Oktober 1946 wurde Kleineidam von den tschechoslowakischen Behörden des Landes
verwiesen, arbeitete dann als Seelsorger in Bayern, kam 1947 als Philosophieprofessor an
die für den ostdeutschen Priesternachwuchs ins Leben gerufene Priesterbildungsanstalt in
Königstein im Taunus und wirkte dort dann auch als Regens des Priesterseminars und ab
1949 als Rektor der Hochschule. Da er sich als Pädagoge bewährt hatte und als
Wissenschaftler Anerkennung genoß, erhielt er 1952 eine Professur am jungen
Philosophisch-Theologischen Studium in Erfurt, amtierte als Gründungsrektor und als
Regens des Priesterseminars. Seine wissenschaftlichen und organisatorischen Fähigkeiten
traten sehr deutlich zutage durch die Mitherausgabe der Reihen Erfurter Theologische
Studien und Erfurter Theologische Schriften, von denen zahlreiche Bände
vorliegen. Der alten (vor einigen Jahren wiederbelebten) Universität Erfurt galt sein
vierbändiger Überblick, und über Die Katholisch-Theologische
Fakultät der Universität Breslau 1811-1945 hat er bereits 1961 ein auch heute viel
zu beachtendes Standardwerk mit persönlichen Erfahrungsurteilen angereichert
veröffentlicht.
Viele Ehrungen zeigen Kleineidams Verdienste auf. Seine Kirche erhob ihn zum Päpstlichen
Hausprälaten und Apostolischen Protonotar, die Universitäten Münster und München
verliehen ihm die katholisch-theologische Ehrendoktorwürde, und der Staat zeichnete ihn
1992 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz aus. Am 21. April 2005 starb Erich Kleineidam in
Erfurt.
Hans-Ludwig Abmeier (KK)
Die Vertriebenen, ihr Glaube und die deutsche Kirche ist das Thema
einer Studienwoche vom 6. bis zum 9. September in der Kolping-Bildungsstätte Soest.
(KK)
Bücher und Medien
Ein energischer Promotor und sanfter Präzeptor will die Deutschen für
Polen gewinnen
Wladyslaw Bartoszewski: Und reiß uns den Haß aus der Seele. Die
schwierige Aussöhnung von Polen und Deutschen. Deutsch-Polnischer Verlag, Warschau 2005
(in Deutschland: Polnische Verlagsbuchhandlung, Postfach 2119, Erftstadt), 230 S., 19,90
Euro
Befriedigt und stolz schreibt Wladyslaw Bartoszewski zum Schluß im letzten Absatz des in
viele Kapitelchen aufgeteilten (und darum leicht lesbaren) Erinnerungsbuchs: Zum
unerwarteten Erfolg wurden einige meiner Fernsehauftritte in der Bundesrepublik. Seitdem
erkennen mich in Deutschland des Öfteren ganz fremde Leute auf der Straße und sprechen
mich freundlich an. Und das ist gut so. Wenn auch ein wenig Eitelkeit in dieser
Schlußbemerkung steckt, es ist ein Faktum, daß der zweimalige polnische Außenminister,
1995 und 2000/2001, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1986, heute zu
den bekanntesten Persönlichkeiten aus dem östlichen Nachbarland zählt.
Auch das steht in dem Postskriptum: Mittlerweile bin ich Privatperson
(1922 in Warschau geboren). Ich pflege auch weiterhin rege Verbindungen mit den deutschen
Hochschulen, Stiftungen und vielen Politikern aus dem Bund und den Ländern. Ich versuche
auch alte Kontakte mit Persönlichkeiten der katholischen Kirche in Deutschland zu
pflegen. Das Stichwort Kontakte durchzieht das ganze Buch.
Sich selbst in den frühen Jahren, über die er zu Beginn berichtet, bezeichnet
Bartoszewski als einen Irgendwer, im Getriebe der Öffentlichkeit und auf der Bühne des
politischen Geschehens ein Nobody. Als Journalist ist er für die katholische Zeitschrift
Tygodnik Powczechny tätig, ein Blatt, das mitten in der kommunistischen
Diktatur in Krakau so etwas wie ein Organ der kirchlich-katholischen Opposition gewesen
ist, übrigens im vertrauensvollen Verhältnis zum Oberhirten der Erzdiözese, Karol
Kardinal Wojtyla, der dann 26 Jahre Papst Johannes Paul II. war.
Zwei Grundpositionen zeichnen Bartoszewski aus, und darauf bezogen sind die meisten, ja
eigentlich alle Berichte in diesem Buch. Viele Jahre war er Gefangener, sowohl während
der nationalsozialistischen als auch während der kommunistischen Diktatur als Mann der
Opposition und des Widerstandes, nach der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember
1981 noch an demselben Tag Insasse eines Internierungslagers bis April 1982. Es ist darum
auch gut zu verstehen, daß ihm nicht nur die kommunistische Diktatur, die über fünf
Jahrzehnte in seinem Vaterland herrschte, verhaßt ist, sondern auch all jene Politiker
mit Antipathie und einer gut begründeten Gegnerschaft bedacht werden, die meinten, im
Sinne einer realpolitischen Koexistenz kollaborieren zu müssen.
Der Autor liebt ohnehin scharfe Urteile und hält sich keineswegs aus Höflichkeit
zurück, wenn er Persönlichkeiten, die trotz des begrüßten Zugehens auf Polen aufgrund
ihres politischen Handelns mißfallen, gleichsam zur Ordnung ruft und zurechtweist. Das
trifft dann die Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt. Zwar will ihm der Kniefall
von Brandt gefallen, aber wo blieb eine vergleichbare Geste für die polnischen
Aufständischen des Jahres 1944, warum mußte erst mit Erlaubnis von Moskau und erst nach
dem Moskauer Vertrag mit Warschau verhandelt werden, warum drückte sich Brandt vor einem
Besuch des Arbeiterführers Lech Walesa? Und Helmut Schmidt wird geradezu hämisch
beurteilt ob seiner engen Freundschaft mit Edward Gierek, dem seinerzeitigen KP-Chef. Die
Bekanntschaft mit Bundeskanzler Helmut Kohl datiert erst aus der Zeit nach dessen
Übernahme des Kanzleramts. Der CDU wird von Bartoszewski deutlich vorgehalten, daß sie
mit Rücksicht auf die Wähler von der in seinen Augen nicht nur notwendigen, sondern
überfälligen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie nichts wissen wollte.
Vor allem ist das Buch ein Zeugnis der Meisterschaft, mit der Bartoszewski sich Jahr um
Jahr ein straff geknüpftes Netz von Verbindungen geschaffen und dann auch eifrig genutzt
hat. Man kann ihn einen Mann eifriger Kontaktpflege, vorab der Kontaktsuche nennen.
Bereits im frühen Stadium der Kontaktsuche tauchen die Namen all derer auf, die in den
sechziger und siebziger Jahren für eine Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als endgültige
Grenze eingetreten sind. Auch die Denkschriften der Evangelischen Kirche und des
Bensberger Kreises einschließlich der Urheber werden wohlwollend zitiert. Fair geht der
Autor mit den beiden Sprechern der Vertriebenen um, die in Polen bis zur Wende als Revanchisten
gehandelt wurden.
Die zweite Grundposition: Seine Aufgabe in der Bundesrepublik Deutschland sah Bartoszewski
darin, deutsche Zustimmung zur Oder-Neiße-Linie als Grenze Polens zu finden. Gleichzeitig
war es ihm darum zu tun, ein zutreffendes Bild von Polen unter dem Kommunismus zu
verbreiten. Hierzu zählte die Mitarbeit mit dem in München stationierten Sender Free
Europe, und dies offenbar höchst geheim von Warschau aus. Erfreulich die Wortwahl, auch
im Rückblick auf seine große Rede vor Bundestag und Bundesrat am 28. April 1995: Er
spricht jetzt von der Vertreibung der Deutschen, während er damals den Begriff
Zwangsaussiedlung vorgezogen hatte.
Ein Irrtum sei korrigiert: Bartoszewski berichtet von einem Besuch von Willy Brandt,
dem damaligen Bundeskanzler, im Jahr 1977 in Warschau, und Verbindungen zu ihm
auf Umwegen, obwohl Brandt bereits 1974 als Bundeskanzler zurückgetreten war. Auch fällt
in der Diktion des Autors auf, vielleicht eine geläufige polnische Gewohnheit, daß er
immer besonders herausstreicht, wenn jemand jüdischen Bekenntnisses ist. Das geht so
weit, daß sogar der aus der nationalsozialistischen Gesetzgebung herrührende Ausdruck
Halbjude benutzt wird.
Das in bestem Deutsch vorgelegte Buch ist eine Bestätigung für des Autors großartige
und bewundernswerte Beherrschung der deutschen Sprache. Das Zueinanderfinden von Deutschen
und Polen, von Bartoszewski die Aussöhnung genannt, hat in ihm einen innerlich
engagierten und in seiner Aktivität kaum zu überbietenden Promotor und Anwalt. Leider
sind angesichts des geplanten Zentrums gegen Vertreibungen, Standort Berlin, in den
letzten Jahren arg nationalistische Töne zu hören gewesen.
Herbert Hupka (KK)
Und damit will ich mich nicht abfinden
Jurek Becker: Briefe.
Ausgewählt und herausgegeben von Christine Becker und Joanna Obrusnik.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2004, 441 Seiten
Mit seinem auch verfilmten Roman Jakob der Lügner ist
Jurek Becker weit über die deutsch-deutschen Grenzen hinaus berühmt geworden. Als Kind
polnischer Juden wurde Jurek Becker 1937 in Lodz geboren und überlebte Ghetto und KZ. Als
Neunjähriger erlernte er die deutsche Sprache, die Kindheit blieb ihm zeitlebens ein
bedrückendes Rätsel. In der DDR machte er Abitur und leistete seinen zweijährigen
Dienst in der Armee. Becker studierte Philosophie, heiratete und lebte als Vater zweier
Söhne in Ostberlin als freier Schriftsteller. Er verfaßte Drehbücher für Film und
Fernsehen sowie satirische Texte für das Kabarett Die Distel. Stationen, die
später als Unterfutter für ein schöpferisches und weltzugewandtes Leben dienen sollten.
Erfüllung aber sollte sich erst in Beckers zweitem man sollte zutreffender sagen:
drittem Leben entfalten. Der vorliegende, von seiner Witwe und der polnischen
Germanistin Joanna Obrusnik akkurat edierte Briefband setzt Anfang der 70er Jahre ein und
skizziert Nöte einer Existenz in der DDR. Einen Eindruck davon gibt schon der
Nervenkrieg, ob ein Visum für eine Preisverleihung in Bremen oder eine Lesung in Holland
gewährt werden wird oder in letzter Minute doch nicht. Dabei hatte sich Becker über
mangelnde Publikationsmöglichkeiten in der DDR zunächst nicht beklagen können. Jedoch
die Ausbürgerung seines Freundes Wolf Biermann im November 1976 sowie die sich
anschließenden Maßnahmen einer hysterischen Kulturpolitik sorgten auch bei Jurek Becker
für Beklemmung.
Er war jedoch nicht nur vorsichtig, sondern auch mutig. Im Januar 1977 schrieb er der
Direktion des Hauses der Tschechoslowakischen Kultur in Ostberlin, daß er die
Repressalien gegen Künstler und Schriftsteller in der CSSR mit Sorge beobachte: Nachdem
zum Beispiel mein Kollege Václav Havel verhaftet worden ist, verspüre ich absolut keine
Lust, an Veranstaltungen in Ihrem Haus teilzunehmen. Es sei denn, Sie führen eine
öffentliche Diskussion zu diesem Thema durch. Dieser Zusatz, der im Monat der
Gründung der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 naiv anmutet, aber viel subversives
Potential birgt, legt Beckers Grundhaltung an den Tag. Er schreibt und bewegt sich, als
lebe er in einem freien Land, was unter den gegebenen Umständen zwangsläufig zu
Zusammenstößen mit einer bornierten Staatsmacht führen muß. In der Weigerung,
Mechanismen der Vorsicht zu übernehmen, demonstriert das SED-Mitglied seine Distanz. In
einem Brief an eine antifaschistische Leserin bestimmt sich Becker durchaus als Kind der
DDR, aber er kommt zu nonkonformen Schlüssen: Ich hätte nie geglaubt, fast 30
Jahre nach Gründung der DDR in einem so schlechten sozialistischen Staat zu leben. Und
damit will ich mich nicht abfinden.
Geradezu frappierend sind die Filibustereien des Ministers Klaus Höpcke im
Faksimile abgedruckt -, der sich gerne als Bücherminister bezeichnen ließ. Es ist ein
zermürbender Briefwechsel, dem sich Jurek Becker mit titanischer Nervenstärke unterzogen
hat. In jener kennzeichnenden Weise, in der Höflichkeit und Begriffsschärfe einander
nicht auschließen.
Mit einem Mehrjahres-Visum ausgestattet, hatte Jurek Becker 1977 die DDR verlassen. Das
Visum war später verlängert worden und lief im Dezember 1989 aus. Zu einem Zeitpunkt,
als die gesamte DDR ein Auslaufmodell geworden war.
Jurek Becker nahm Vortragsreisen und Lehraufträge in den USA an, die sich über Monate
hinzogen. Sein ganzes Leben schien eine radikale Wende genommen zu haben. Die Arbeit in
den USA bereitete ihm Freude und Vergnügen zugleich. Der Job ist kinderleicht, denn
sie sind alle Kindsköpfe, schreibt Jurek Becker über seine Arbeit am Department of
German and Russian im Oberlin College, Ohio, zwanzig Meilen von Cleveland entfernt.
Freilich, wie sollte er Ende der 70er Jahre jungen Studenten in den USA Einblicke in sein
Leben in der DDR vermitteln?
Ein Brief vom 16. Mai 1979 an Erich Honecker, den Becker mit sieben weiteren
DDR-Schriftstellern unterzeichnete, zog Ausschlüsse aus dem Schriftstellerverband nach
sich. Ausgerechnet ein Vorzeigekämpfer aus dem satten München hatte damals eine
ideologische Kampagne in der DDR gegen kritische Autoren entfacht.
Jurek Becker nutzte die ihm verbliebene Zeit auf seine Weise. Er veröffentlichte, trotz
Vortragsreisen in die ganze Welt, großartige Romane und Erzählungen. Die Fernsehserie
Liebling Kreuzberg nach seinem Drehbuch und mit seinem Freund Manfred Krug in
der Hauptrolle wurde ein großer Erfolg. Jurek Becker starb, viel zu früh, am 14. März
1997 in Sieseby an der Schlei in Schleswig-Holstein.
Volker Strebel (KK)
Genügsame Bürgerlichkeit trotz der bösen Zeit
Rupprecht W. Düll:
Geboren in Küstrin, einer versunkenen Stadt.
Bock & Kühler, Schöneiche bei Berlin 2001. 112 S.
Küstrin, am rechten Ufer der unteren Oder in der Provinz Brandenburg, im Kreis
Königsberg (Neumark) gelegen, im Jahre 1935 21270 Einwohner zählend, wurde 1945 zu 90
Prozent zerstört. Die Stadt hatte in der Hauptstoßrichtung der Sowjettruppen auf Berlin
gelegen und war, zur Festung erklärt, im Februar und im März wochenlang gegen diese
verteidigt worden. Die historische Altstadt mit dem Schloß, dem Markt und der
Marienkirche wurde dabei vollständig zertrümmert und von den Polen, die sie danach in
Besitz nahmen, ausgelöscht, indem sie die Ruinen abrissen und die Ziegel zum Wiederaufbau
Warschaus verwendeten. Mit der Altstadt fiel auch die Neustadt mit dem Hauptbahnhof in
polnische Hände. Denn diese liegt am rechten Ufer der Warthe, die unterhalb von Küstrin
in die Oder fließt. So gehören heute nur noch die westlichen Vorstädte zu Deutschland,
die Lange Vorstadt mit dem Bahnhof Küstrin-Kietz (zu DDR-Zeiten nur Kietz
genannt) und die bis zum Anfang der neunziger Jahre von den Sowjets besetzte
Kuhbrücken-Vorstadt zwischen dem Oder-Vorflutkanal und dem linken Oderufer mit dem
Bahnhof Küstrin Altstadt.
Der Autor des vorliegenden Buches ist vom Jahrgang 1914. Seine Eltern, denen er als
jüngster von neun Söhnen geboren wurde, waren 1896 aus Bayern nach Küstrin gekommen.
Der Vater war Chefchemiker der dortigen Norddeutschen Kartoffelmehlfabrik. Der Autor hat
in der Stadt die zwanziger und die dreißiger Jahre erlebt und sah (und photographierte)
sie zuletzt 1942, ehe er im Frühjahr 1976 die so gründlich verwandelte Heimat wieder
besuchte. Er versucht nun, durch die Erzählung seiner Kindheits- und Jugenderlebnisse,
die durch solche aus dem Freundes- und Verwandtenkreis ergänzt werden, und die
Schilderung des Familienlebens die untergegangene Stadt der Vergessenheit zu entreißen.
Zunächst fragt man sich, ob einen die dargebotenen privaten Verhältnisse fremder Leute
etwas angehen und es sich dabei nicht um etwas handelt, das man besser in ungedruckter
Form seiner Familie hinterläßt. Beim Lesen zeigt sich aber, daß sich dabei durchaus
aufschlußreiche Zeitbilder ergeben. Nur, hätte dergleichen nicht auch von Greifswald,
Neubrandenburg oder Torgau berichtet werden können?
Immerhin findet sich in dem Band manches, was das Leben im Küstrin der Zwischenkriegszeit
in Erinnerung ruft und die Atmosphäre ahnen läßt, die es auszeichnete. Wir erfahren
etwas von der genügsamen Bürgerlichkeit, die in der alten preußischen Festungsstadt mit
ihren historischen Erinnerungen zu Hause war, vom Leben mit dem Wasser, den Flußläufen,
Kanälen und den überschwemmten Wiesenlandschaften sowie dem winterlichen Eisgang, und
von der in der Neustadt beheimateten Industrie. Küstriner Lokalkolorit vermitteln nicht
zuletzt die Photos, die in der Mehrzahl der Autor einst mit seiner Leica aufgenommen hat.
Was ihn bei dem Thema Küstrin bewegt, hat er in Gedichten auszudrücken versucht, von
denen 23 abgedruckt sind. Neben einem Durchgang durch die über 700jährige
Stadtgeschichte runden eine kleine Dokumentation, eine Tafel historischer Daten und ein
Literaturverzeichnis den Band ab.
Peter Mast (KK)
Literatur und Kunst
Geatmete, atmende Kunst
Rückblick auf das Werk des Malers Hans Hartung (1904-1989) in Köln
Jahrelang wurde das Kölner Museum Ludwig in seinen ständigen und periodischen
Ausstellungen von amerikanischen Künstlern beherrscht. Demgegenüber hielt sich das
Publikum auf Distanz. Nachdem Kaspar König die Leitung dieses Museums übernommen hatte,
holte er zwar Gemälde der deutschen Klassiker der Moderne aus dem Depot an die
Öffentlichkeit, aber das bedeutete einen Tropfen auf den heißen Stein. Eine ausreichende
Präsentation deutscher Künstler wurde weiterhin vernachlässigt.
Im vorigen Jahr eröffnete das Museum Ludwig die Ausstellung Der Blaue Reiter
mit Leihgaben aus dem Münchner Lenbachhaus. Und siehe, das Publikum strömte in Scharen
ins Museum, das Rekordergebnis lautete: 226 335 Besucher. Groß war auch der Erfolg einer
Ausstellung mit Arbeiten von Hans Hartung.
Aus heutiger Sicht stellt sich Der Blaue Reiter, vor rund 100 Jahren in
München gegründet, wie ein Vorläufer auf künstlerischem Gebiet des vereinten Europas
dar, denn ihm gehörten u. a. Künstler aus Frankreich (Henri Rousseau, Robert Delaunay),
aus Rußland (Wassily Kandinsky, Alexander von Jawlensky), der Schweiz (Paul Klee), aus
Böhmen (Alfred Kubin) und natürlich aus Deutschland (Gabriele Münter, Franz Marc,
August Macke, Heinrich Campendonk) an.
Blättert man in Hartungs Biographie, so ist ebenfalls Europa präsent, in dessen
Mittelpunkt Deutschland und Frankreich stehen. Geboren wurde Hans Hartung als Sohn einer
preußischen Ärztefamilie in Leipzig.Von 1912 bis 1914 lebten sie in Basel, wo der Vater
einen Forschungsauftrag erhalten hatte. Studien an den Hochschulen in Dresden, Leipzig und
München sowie Aufenthalte in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Norwegen prägten
die Jugend des Künstlers. Die USA besuchte er erst im Alter von sechzig Jahren. Die
Gefahr der Nationalsozialisten im Blick, verließ er 1932 Deutschland und setzte sich nach
Paris ab; 1935 kehrte er nach Berlin zurück, emigrierte aber dann endgültig nach
Frankreich. Als Gegner des Hitler-Regimes verpflichtete er sich zu Kriegsbeginn für die
Fremdenlegion, wurde schwer verwundet (Amputation eines Beines), floh vor der deutschen
Besatzung Frankreichs nach Spanien und kehrte 1945 nach Paris zurück.
Die französischen und deutschen Ehrungen der späteren Zeit halten sich deshalb die
Waage, hinzu kommen viele internationale Preise.
Hartung hätte es gerne gesehen, wenn sein Ouvre und sein Nachlaß in deutschen Museen
eine Stätte gefunden hätten. Aber keines erklärte sich bereit, diese großherzige
Stiftung anzunehmen. So entstand die Fondation Hans Hartung et Anna-Eva Bergman
Antibes. Die jüngste Ausstellung im Museum Ludwig richtet den Blick auf einen dem
Publikum eher unbekannten Aspekt. Gezeigt werden Arbeiten auf Papier 1922-1938,
großformatige Bilder 1980-1989 und eine Werkschau im kleinen Format 1922-1989, begleitet
von einem stattlichen Katalog.
Die monumentalen Acryl-Gemälde auf Leinwand zeugen vom Schwung und der Dynamik des mehr
als 80jährigen Meisters. In den gegenstandsfreien Gemälden gleiten die Farben wie dunkle
Wolken über die Fläche, mittels der Spritzpistole glatt gestaltet, bisweilen körnig.
Sie fordern den Betrachter auf, ihnen zu folgen, wie der absoluten Musik ebenfalls im
Zeitabschnitt. In der Familie Hartung spielte die Musik eine wichtige Rolle. Unser
Leben, so der Künstler, war von Malerei und Musik geprägt. Bei uns zu Hause
wurde Musik mit der Luft eingeatmet.
Ob auf den malerischen Bildern oder den zarten Linienspielen der Tuschzeichnungen, stets
wird man mit Rhythmus und Bewegung konfrontiert. Die Holzschnitte ergänzen die Gemälde
vortrefflich. Sie, denen sich Hartung nur kurze Zeit widmete, unterscheiden sich von den
Gemälden und Zeichnungen nicht nur durch das Material und die Technik, sondern auch
materialgerecht durch den Stil. Beherrscht werden diese Holzschnitte vom
Schwarz des Hochdrucks, und die weißen scharfen Linien lassen Assoziationen zu Blitzen
und Feuerwerk zu.
Mit den Kölner Ausstellungen, die manchem neue Erkenntnisse vermitteln, wird ein Bogen
über Hunderte von Hartung-Ausstellungen gespannt und so ein Überblick vermittelt über
ein facettenreiches Werk, das aus der europäischen Moderne nicht wegzudenken ist.
Günther Ott (KK)
Die Landschaft auch die ostdeutsche
In der Etagengalerie Roesinger in Kölns Altstadt finden von Zeit zu Zeit
thematische Ausstellungen statt. Der Bogen der gegenwärtigen Landschaft-Ausstellung
ist von Amerika bis Australien gespannt, Paris und Moskau sind vertreten. Einen
bedeutenden Anteil haben jedoch aus Ostdeutschland stammende Künstler: Otto Rohse aus
Ostpreußen und Otto Andreas Schreiber aus Westpreußen; Alfred Birnschein wurde in
Crossen an der Oder geboren, Ursula Dietzsch-Kluth in Berlin, Joachim Palm in Potsdam. Aus
Schesien stammen Gabriele Grützbach-Hornig, Willi Ulfig, Albrecht Loesener und Herbert
Grunewaldt. Die Galeristin Christel Roesinger, die diese Ausstellung betreut, blickt
ebenfalls auf einen schlesischen Strammbaum.
(KK)
Das Spannende an der großen Langeweile
Auftakt zum Adalbert-Stifter-Jahr 2005 mit Künstlern und Literaturwissenschaftlern
im Münchner Adalbert Stifter Verein
Wo anders als beim Adalbert Stifter Verein in Münchens Sudetendeutschem Haus
kann das Adalbert-Stifter-Jahr 2005 angemessen eingeläutet werden? Im Kulturforum
versammelte Moderator Peter Becher vier bedeutende Stifter-Forscher aus Salzburg,
Regensburg und München auf dem Podium und führte mit ihnen zwei Stunden lang ein
intensives Gespräch über die Einschätzung des Jubilars aus heutiger Sicht.
Vor 200 Jahren kam Adalbert Stifter im südböhmischen Oberplan zur Welt. Noch heute wird
er rezipiert, keineswegs nur als Pflichtlektüre auf dem Gymnasium etwa seiner
Novellensammlung Bunte Steine oder gar der mehrbändigen Romane Der
Nachsommer und Witiko, sondern beispielsweise als
verfilmter Stoff: Bergkristall brachte Joseph Vilsmaier im vergangenen Herbst
neu auf die deutsche Kinoleinwand.
Doch war dieses populäre Ereignis bemerkenswerterweise nicht der Aufhänger für diesen
Stifter-Abend, geschweige denn sein Gegenstand. Peter Becher setzte bei den Zugängen
zu Stifter an, wie sie seine Protagonisten gefunden haben. Voraus ging eine kurze
Vorstellung Adalbert Stifters als Schriftsteller des Biedermeier und der ihm folgenden
Umbrüche in der altösterreichischen Monarchie, aber auch als Hauslehrer, Schulrat, am
Rande auch als Maler, Kunstkritiker, Denkmalpfleger bis zu seinem relativ frühen Tod 1868
in Linz. In der Tat stellten sich die vier unterschiedlichen Zugänge zum Werk des
österreichischen Autors als brauchbar für ein Veranstaltungsgerüst heraus, das einem
aufgeschlossenen, aber nicht von vornherein Stifter-kundigen Publikum Einblick in seine
geistige Welt zu geben vermochte, sogar Anregungen, sich mit Stifter zu beschäftigen.
Der Regensburger Schriftsteller und Theaterregisseur Joseph Berlinger (53) ist gerade
dabei, sein Buch Stifters Städte, Stifters Land für den Morsak-Verlag
fertigzustellen. Er schreibt vor der Folie der Eindrücke auf einer Reise zu 21
Stifter-Schauplätzen und greift auf einen früheren Lichtung-Verlags-Beitrag
zurück. Berlinger ging vom heilen, trauten Oberplan bis ins turbulente,
völkerbunte Triest, wo Stifter in seinem Leben einmal das so heiß ersehnte Meer sah.
Berlinger will Stifter in den politischen Kontext seiner Zeit stellen.
Bei der Lektüre der Stifter-Studie Brigitta sei sie wie vom Blitz getroffen
gewesen, bekannte die Münchner Filmregisseurin und Autorin Dagmar Knöpfel (49). Ihr
diente dieser Text als Vorlage für eine ihrer Literaturverfilmungen, die sie auf Grund
einer staatlichen Förderung fürs Bayerische Fernsehen 1993/94 realisierte. Wider
Erwarten hatte sie damit großen Erfolg, auch bei Arte, wo sie am 23. Oktober 2005
(Stifters 200. Geburtstag) wieder ausgestrahlt wird. Knöpfel erzählte eindrücklich von
ihren Anstrengungen, die zur Verwirklichung dieses anspruchsvollen Projekts erforderlich
waren.
Von Stifters Sprache läßt sich die Stifter-Expertin an Salzburgs Universität, Konstanze
Fliedl (50), immer wieder verzaubern. Zuletzt befaßte sie sich mit Familienmodellen,
Frauen- und Männerbildern im Werk Adalbert Stifters. Sie hatte in den 1980er Jahren
plötzlich den anderen Stifter entdeckt: das raffiniert verborgene Dämonische
unter der stets wohlgeordneten Oberfläche. Fliedl sprach vom ungeheuer Spannenden der
enormen Langeweile bei Stifter. Suchtartig habe sie sich von Stifters Sprachduktus
angezogen gefühlt. Er gehe für sie bis an die Grenze des Absurden und Bizarren.
Der vierte im Bunde der Stifter-Kenner: Ulrich Dittmann (68), Bearbeiter der
historisch-kritischen Stifter-Ausgabe und im Begriff, für diesen Herbst eine
Stifter-Ausstellung zu kreieren. Am Anfang seiner jahrelangen Forschungen stand für den
Literaturwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München eine
therapeutische Erfahrung mit der Witiko-Lektüre. Diese wandelte sich
allerdings im Laufe der Jahre.
Immer wieder wurde eine Antwort auf die Frage gesucht, wie Stifter heute jungen Leuten
schmackhaft gemacht werden könnte. Oder sollte man Konstanze Fliedls eher scherzhaft
gemeinten Rat, Stifter erst ab 35 zu lesen, ernst nehmen? Eine verordnete
Stifter-Schullektüre blockiere nur den Zugang, den Dittmann durch die Überfütterung der
Jugend mit x Folgen der Lindenstraße ohnehin erschwert sieht. Gegen eine
billige Unterhaltungsliteratur habe auch Dagmar Knöpfel mit ihrem Brigitta-Film
anzukämpfen versucht. Schon Stifter wandte sich ausdrücklich gegen das Leihbibliothekenfutter,
für das Autoren wie Felix Dahn oder Gustav Freytag sorgten.
Eine neue Schule der Wahrnehmung nämlich der unterschwelligen Spannungen
und des oft ins Detail gehenden Erzählstils Stifters sei letztlich gefragt. Der
Epiker komme auch dem zunehmenden Trend der Entschleunigung entgegen. Zudem gebe es bei
Stifter Passagen, die Dialog, Geduld und Zuhören als humane Vollzugsformen
(wie Heinrich Böll schon an Stifter lobte) erscheinen lassen: nicht das schlechteste
Programm zur Befriedung der Nationen.
Hans Gärtner (KK)
Trauerklöße aus dem Wachkoma wecken
Der Kabarettist Hagen Rether schärft seinen Witz an den Steinen, an denen die
politische Korrektheit Anstoß nimmt
Es ist noch gar nicht lange her, daß allenthalben vom Ende der
Spaßgesellschaft gesprochen wurde. Mittlerweile ist die Prophezeiung selbst zum
Running Gag berufsmäßiger Spaßmacher geworden. Auch Hagen Rether rechnet lustvoll mit
der Spaßgesellschaft ab.
Doch Rether ist nicht kabarettistischer Mainstream. Und schon gar nicht Comedy. In den
letzten Monaten wurde er mit Kleinkunstpreisen, darunter dem Passauer Scharfrichterbeil,
dem Deutschen Kleinkunstpreis 2005 (Förderpreis der Stadt Mainz) und jetzt dem
Bayerischen Kabarettpreis, geradezu überhäuft.
Nummernkabarett war gestern. Nichts gegen die traditionellen Klaviernummern und Lieder
eines Hanns Dieter Hüsch, Georg Kreisler, Stephan Sulke oder Piano Paul, doch mit diesen
hat Hagen Rether, 35, nicht viel mehr gemein als das Instrument. Die von ihm entwickelte
Kunstform, eine Art klaviergestützter Kommentar zu Gott und der globalisierten Welt (Come
together, test the West das ist Globalisierung), kommt ganz entspannt und
eher beiläufig daher, ist aber gerade dadurch von nachhaltiger Wirkung. Der genial
minimalistische Soundtrack dazu ist ein souverän dargebotener Improvisationsmix, der sich
aus Jazz und Jarrett gleichermaßen speist.
Was der hochgewachsene Mann im eleganten Dreiteiler sagt, ist manchmal richtig fies oder
auch nur politisch unkorrekt. Was ist der Unterschied zwischen Ossis und
Türken? Letztere haben Arbeit und können Deutsch. Doch Vorsicht: Keiner kann so
angewidert das Gesicht verziehen, wenn bei solch garstigen Scherzfragen allzu laut
losgebrüllt wird. Was eigentlich ein Erfolgserlebnis für den Kabarettisten sein müßte,
bestehe doch, so Rether, dieses Volk aus rund 80 Millionen Trauerklößen im
Wachkoma.
Eigentlich will der smarte Wort-Künstler nach eigenem Bekunden dem Volk nicht aufs
Maul schauen, sondern mehr hauen. Zur Einstimmung auf den Abend, der
irritierend genug Liebe heißt, legt Rether einen Baseballschläger
aufs Klavier. Knüppelhartes gepaart mit launigen Fragen: Wofür steht das Kürzel
BSE? Ähhhh, hab ich vergessen. Und mit leicht diagnostizierbarem
Grienen schiebt der begnadete Zyniker nach: Besuchen Sie England.
Auch was Rether von einem befreundeten Hauptschullehrer und dessen 35 Soziopathen
erzählt (Mit den Kindern, die ich heute unterrichte, hätte ich früher nicht
spielen dürfen), wird manchen Bildungspolitiker zusammenzucken lassen: Für
das, was ich heute mache, hätte ich nicht Pädagogik studieren müssen, Wehrdienst hätte
völlig gereicht. Lehrerschicksale in Zeiten wie diesen können ganz schön grausam
sein.
Sprachgefühl, Wortspiele (Bruno, ganz Hitler), abgedrehte Parodien
sich von Hagen Rether die Welt zwischen Henkell Trocken und Hakle Feucht erklären zu
lassen ist Medienseminar und politische Fortbildung pur, nur viel komischer. Wer wie er
täglich mehrere Zeitungen liest, macht sich keine Illusionen mehr über den Zustand
dieser Welt. Wußten wir nicht schon längst, daß Optimismus nur eine Form von
Informationsmangel ist?
Vor Rethers Politsarkasmus bleibt nichts und niemand verschont, weder die CDU (Frau
Merkel, warum reparieren Sie nicht den Zaun? Keine Zeit, ich muß die Hühner
einfangen.), noch die FDP (Partei der verwirrten Einzeltäter),
geschweige denn die Strauß-Kinder Max und Monika (Jetzt wird die Brut geschreddert.).
Da darf natürlich auch das Dosenpfand (Da geht's um nichts, um gar nichts.)
und die neudeutsche Rechtschreibdiktatur (Aus scharfem S wurde wieder SS.)
nicht fehlen. Beim brezelessenden George Dabbeljuh gerät Rether gar ins Philosophische:
Wie viele Iraker könnten heute noch leben, wenn der Typ vor drei Jahren an dieser
Brezel verreckt wäre? Manchmal liegt das Ganze nur am Gebäck.
Richtig böse geht Rether mit der Deutschrock-Ikone Herbert Grönemeyer ins Gericht, der
nicht einmal davor zurückschreckte, den Tod seiner Frau Anna musikalisch und in Talkshows
zu vermarkten. Seine Parodie auf Grönemeyers ach so authentische Songs (Der Mensch
ist Mensch, weil er vergißt, was er uns erzählt) gehört zum Stärksten, was das
deutsche Kabarett in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Aber auch das, was Rether zu
den heiligen Männern im Vatikan, schwulen Priestern und dem Stellvertreter Gottes auf
Erden einfällt, ist nicht nach jedermanns Geschmack, macht allerdings doppelt Spaß:
Feminismus ist vom Toifel. ... Gesegnetes Osterfest. ... Frauen zurück an den Herd!
Was wunder, wenn man angesichts der Allgegenwart von Machthunger, Eitelkeit, Dummheit und
Ignoranz zum zynischen Moralisten (Rether über Rether) wird. Erst vor wenigen
Wochen bekannte er in einem Interview für den Kölner Stadt-Anzeiger, daß er nebenher
auch eine Ausbildung zum Heilpraktiker gemacht habe: Als Therapeut muß man sich die
Ironie abschminken. Ich merke auch, daß ich mich vor der Arroganz auf der Bühne
schützen muß, ich will nicht zynisch werden, nicht resignieren. Weil man sonst ein
kalter Fisch wird, egal ob als Heilpraktiker oder als Kabarettist.
Hagen Rether, 35, lebt heute in Essen, wo er die Folkwang-Musikhochschule besucht hat.
Seine Eltern stammen aus Hermannstadt, geboren wurde er jedoch in Bukarest. Der Artikel,
in dem ich Rethers siebenbürgische (genauer: Hermannstädter) Wurzeln erstmals outete,
erschien in der Siebenbürgischen Zeitung vom 31. Januar 2005. Keine 24 Stunden danach war
in den virtuellen Diskussionsforen der Zeitung schon ein Streit darüber entbrannt, warum
man einem solchen Ver-rether des Saxentums fast eine ganze Zeitungsseite
eingeräumt habe. Schade, daß Rether nicht auch mal in dieser Sache das Satirebeil
schwingt. Die Lizenz dafür hätte er jedenfalls.
Meines Wissens ist Hagen Rether neben dem nach Wien übersiedelten Kronstädter Carl Merz
(= Carl Czell, 1906-1979), der zusammen mit Helmut Qualtinger (An der lauen Donau)
Kabarettgeschichte geschrieben hat, der einzige Deutsche siebenbürgischer Herkunft, der
es geschafft hat, sich im Kleinkunstbereich zu etablieren. Vollständigkeitshalber sei
hier auch Leo Greiner (1876-1928), einer der führenden Köpfe des Münchner Kabaretts
Die Elf Scharfrichter, erwähnt. Obwohl Greiner nur seine Jugendzeit im
siebenbürgischen Kronstadt verbracht und dort das Honterus-Gymnasium besucht hatte,
empfand der gebürtige Brünner das Sachsenland zeitlebens als seine eigentliche Heimat.
Was Rether, der bereits als Kleinkind auswanderte, von sich nicht sagen kann. Was nicht
heißt, daß ihm seine alte Heimat nichts bedeutet.
Rethers Soloabend dauert mit Pause satte dreieinhalb Stunden, doch keine Bange: Ein
bißchen mitdenken, dann gehen die drei Stunden schnell vorbei (Termine seiner
Deutschlandtournee unter www.hagen-rether.de).
Anfang März sind Auszüge seines aktuellen Programms als CD bei WortArt erschienen
rund 75 Minuten Kabarett für Fortgeschrittene.
Konrad Klein (KK)
KK-Notizbuch
Das Land Baden-Württemberg hat den Donauschwäbischen Kulturpreis des Landes ausgeschrieben. Er wird in zweijährigem Turnus in den Bereichen Literatur, Musik oder das ist in diesem Jahr der Fall bildende Kunst vergeben. Bis zum 30. Juni sind sowohl Eigenbewerbungen als auch Vorschläge Dritter möglich. Informationen unter www.im.baden-wuerttemberg.de oder beim Haus der Heimat des Landes Baden- Württemberg, Telefon 07 11 - 6 69 51-25.
In der Vortragsreihe des Münchner Hauses des Deutschen Ostens zum Thema Warum wir hier sind ... referiert am 21., 22. und 23. Juni Ilse Gudden über die Pommern in Bayern.
Das Institut für Ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte lädt zu seiner 43. Arbeitstagung vom 1. bis zum 4. August in das Europäische Tagungszentrum Schloß Groß Stein/Kamien Slaski bei Oppeln ein. Das Thema lautet diesmal Barock in Schlesien. Demonstratio et repraesentatio catholica. Anmeldungen beim Institut, St. Petersweg 11-13, 93047 Regensburg.
Die 13. Ostdeutschen Kulturtage des Bundes der Vertriebenen, Landesverband Thüringen, unter der Schirmherrschaft der Thüringer Landtagspräsidentin Dagmar Schipanski bieten bis zum 25. Juni über 60 Veranstaltungen, einzusehen im Internet unter www.bdv-thueringen.de.
Das Polnische Institut Düsseldorf veranstaltet am 6. Juni um 20 Uhr
eine Diskussion zu aktuellen Beispielen der deutsch-polnischen Zusammenarbeit.
(KK)