KK 1197
30. Januar 2005

Luzian Geier: Ortfried Kotzians „Die Umsiedler“ beschließt die OKR-Studienbuchreihe   
Peter Mast: Die Ungarndeutschen in Geschichte und Gegenwart
Michael Ferber: Der Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen 
Norbert Matern: Die Mönche im Kloster Rohr kommen aus Böhmen

Bücher und Medien

Literatur und Kunst

Herbert Hupka: Gerichtsentscheid gegen die Verballhornung Hauptmanns
H. D. Tschörtner: Regie-Einfälle zu Gerhart Hauptmann
Günther Ott: Kunst von Gabriele Grützbach-Hornig und Luisa Schatzmann
Franz Heinz: West-Ost-Künstlerwerkstatt in Düsseldorf

KK-Notizbuch  

Selbst „Freiwilligkeit“ wurde erzwungen
Abschluß der OKR-Studienbuchreihe „Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche“:
Ortfried Kotzian: Die Umsiedler.
Die Deutschen aus West-Wolhynien, Galizien, der Bukowina, Bessarabien, der Dobrudscha und in der Karpatenukraine.
Langen Müller, München 2004. ISBN 3-7844-2860-6, 384 Seiten, viele Karten und Fotos, 29,90 Euro
Das Buch wurde am 2. Februar 2005 im Stuttgarter Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg vorgestellt.

Eine der bedeutendsten und umfassendsten Buchreihen der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat liegt nun abgeschlossen vor. Band 11, der umfangreichste der zwölfbändigen Studienbuchreihe im Auftrag des Kulturrates, ist kurz vor Jahreswechsel bei Langen Müller unter dem Titel „Die Umsiedler“ erschienen 
Das Vorwort dazu schrieb der verdienstvolle Herausgeber der Reihe, Professor Dr. Wilfried Schlau (Mainz), der bereits 1996 den 12. Band als Zusammenfassung erstellt hatte („Die Ostdeutschen – Eine dokumentarische Bilanz 1945-1995“).
Professor Schlau weist darauf hin, daß die Buchreihe das Schicksal der rund 18 Millionen Europäer deutscher Volkszugehörigkeit nachvollzieht, die durch den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen die Heimat verloren haben. Zu den ersten, die ab Herbst 1939 und in den Folgejahren betroffen waren, zählten die deutschen Umsiedler, denen dieser Band gewidmet ist, eine umfangreiche, aufwendige Arbeit des Augsburgers Dr. Ortfried Kotzian. Dieser stellt seinem Buch einführend die „Aktualität der Umsiedlungsproblematik“ voran, die aufzeigt, daß das 20. Jahrhundert mit über 100 Millionen Flüchtlingen, Vertriebenen, Deportierten und Zwangsumgesiedelten zum Jahrhundert der Vertreibungen und des „Weltflüchtlingsproblems“ geworden und als solches in die Geschichte eingegangen ist.
Wissenschaftlich akribisch und zugleich didaktisch-systematisch präsentiert Ortfried Kotzian im vorgegebenen Raum – auf wertvolles Illustrationsmaterial mußte verzichtet werden – die heute nur wenigen näher bekannte Geschichte der Deutschen aus West-Wolhynien, Galizien, der Bukowina, aus Bessarabien, der Dobrudscha und in der Karpatenukraine (Transkarpatien). Die im Band dargestellten deutschen Volksgruppen bzw. Minderheiten verbindet vor allem „dieses Schicksal von Umsiedlung, Flucht und Vertreibung“, betont der Autor. Daher die Zusammenfassung unter diesem Titel, aber auch weil sie bei den früher dargestellten Großgruppen nicht erfaßt sind bzw. nicht dazugehörten. Die Untersuchungen zu den einzelnen Gruppen werden bis in die Gegenwart fortgeschrieben, Kotzian geht auch Fragen der Integration im Westen nach und schließt mit den aktuellsten Bezügen, Entwicklungen (auch Gefahren!) und Informationen.
Jahrelange Recherchen liegen dem Buch zugrunde, da zu diesen relativ kleinen deutschen Gruppen wenig Fachliteratur vorliegt und das Schicksal der Umsiedler im „Chaos des Krieges und Nachkrieges“ (Schlau) weitgehend untergegangen war. Wie wenig über sie in Deutschland heute bekannt ist, zeigte sich zuletzt in den konfusen Berichten über die Herkunft des neuen Bundespräsidenten Horst Köhler, der als Umsiedlerkind bessarabiendeutscher Eltern in den Westen gelangt ist. Der Band weist nun die Vorteile der langen Entstehungsgeschichte auf durch Einarbeitung jüngster Quellenerschließungen und erreicht durch die umfassende Dokumentation zugleich den Wert eines Nachschlagewerkes zur Umsiedlungsthematik und über diese zahlenmäßig kleineren, aber nicht minder interessanten ehemaligen auslandsdeutschen Gemeinschaften.
Wichtig für die nachgeborene Generation ist der allgemeine erste Teil (24 Seiten) zur modernen Definition von Umsiedlungen und deren völkerrechtlicher Bewertung. Es handelte sich durchwegs um staats- und machtpolitische Aktionen mit dem Endziel, „ethnisch gesäuberte“, homogenisierte Gebiete zu schaffen. Bei allen behandelten „volksdeutschen“ Gruppen ging es um die Übersiedlung ganzer Bevölkerungsgemeinschaften aufgrund von bilateralen Staatsverträgen, in denen die Freiwilligkeit festgeschrieben war und in denen der Begriff Umsiedlung von allen Regierungen (Deutsches Reich, Sowjetunion, Rumänien, Italien, Kroatien, Bulgarien) akzeptiert wurde.
Inwieweit es unter den Bedingungen der massiven Propaganda, der sowjetischen Besatzung, der Kriegsereignisse und anderer Begleitumstände eine tatsächliche, allgemeine Freiwilligkeit war, entzieht sich zunächst einer völkerrechtlichen Beurteilung, schlußfolgert Kotzian. Daß die Betroffenen nur die Alternative Bleiben oder Gehen hatten, zeigt, wie schwer die Entscheidung für viele war und daß damit zumindest (und aus heutiger Sicht) gegen ethische und moralische Grundsätze verstoßen wurde.
Um die Komplexität und Kompliziertheit des Phänomens zu erläutern, läßt der Autor den bekannten Völkerrechtler Prof. Dr. Dieter Blumenwitz von der Universität Würzburg zu Wort kommen (S. 17-18). Fazit: Die Grenzen zwischen Zwang und Freiheit sind in diesen Fällen sehr schwer zu ziehen, verwischen sich noch stärker durch die Durchführungspraxis und das individuelle Empfinden. Und: Wenn vertragsmäßig eingekleidete Umsiedlungen unter verdecktem kriegs- und rassenpolitischem Hintergrund, unter politischem Druck erfolgen und Elend erzeugen, so sind sie als völkerrechtswidrig einzustufen. Das gilt auch dann, wenn sie unter dem angeblich gut gemeinten Terminus „Konfliktregulierungsinstrument“ versteckt politische Akzeptanz erzielt hatten.
Wichtig damit in Verbindung bzw. für ein besseres Verstehen der Ereignisse ist die von Ortfried Kotzian erarbeitete Analyse der Minderheitenkonflikte im Mittel- und Südosteuropa der Zwischenkriegszeit.
Zur eigentlichen Umsiedlungspolitik, die zwischen den Vertretern Hitlers und Stalins spätestens im September 1939 vertraulich ausgehandelt worden war, bringt der Autor des Buches neues, aussagekräftiges Quellenmaterial, ebenso zur Wirkung der aggressiven nationalsozialistischen Propagandamaschinerie. Allein aus Gebieten des ehemaligen Großrumänien (Bessarabien, Bukowina, Dobrudscha, Altreich) siedelten 187 000 Deutsche um. Von der ursprünglich beabsichtigten Umsiedlung aller Volksdeutschen aus Rumänien, Ungarn und Jugoslawien war Hitler aus noch nicht ganz aufgeklärten Gründen abgerückt. Bis Juni 1944 kehrten von diesen Umsiedlern immerhin 7267 meist tatsächlich freiwillig nach Rumänien zurück, das sie jedoch nur widerwillig aufnahm. Nach Kriegsende verweigerte das Land per Dekret die Rückkehr der Umsiedler aus der von den Sowjets besetzten Nordbukowina und Bessarabien.
Zur Abrundung des Bildes und Aufklärung der Gesamtproblematik werden in mehreren Exkursen die noch kleineren und von der Forschung vernachlässigten deutschen Gruppen behandelt, so die Umsiedler aus Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Serbien und die „Westumsiedler“ (Südtirol, Elsaß-Lothringen, Luxemburg). Wichtiges Kartenmaterial und Übersichtstabellen widerspiegeln das Ausmaß der generalstabsmäßig geplanten und durchgeführten Aktionen, die sich über fünf Jahre erstreckten und in Osteuropa (Baltikum, Sowjetunion, Polen) und Südosteuropa mindestens 910 000 Personen betrafen.
Detailliert präsentiert werden in dem Studienband nach gleichem Aufbau die Deutschen aus West-Wolhynien (mit Polesien), Galizien (mit den Narew-Deutschen und jenen im Cholmer und Lubliner Land), der Bukowina, aus Bessarabien, der Dobrudscha (mit Exkurs für das rumänische Altreich, die bulgarische Süddobrudscha und Bulgarien) sowie der heutigen Karpatenukraine, alles Gebiete mit einer sehr wechselhaften Staatszugehörigkeit, oft umstrittene Grenzregionen mit ethnisch und konfessionell gemischter Bevölkerung.
Als Beispiel sei hier der vierte Teil näher vorgestellt, der die Buchenlanddeutschen behandelt. Zur historischen Region wird ein kurzer geographischer Abriß geboten, eine Übersicht der staatlichen Zuordnung seit der Schaffung und bis in die Gegenwart, dann die demographische Ausgangssituation und die Veränderung der Bevölkerungsstruktur im 20. Jahrhundert dargestellt. Erfreulich, daß die Daten bis zu den jüngsten Volkszählungen fortgeschrieben wurden.
Die Statistiken zeigen, daß in der einst poliethnischen und multikonfessionellen Bukowina infolge der Umsiedlungen, Deportationen und sonstiger Kriegsfolgen „eine totale Veränderung der Bevölkerungsstruktur stattfand“. Von rund zehn Prozent am gesamten Bevölkerungsanteil der Bukowina über ein Jahrhundert hindurch ergaben die Zählungen aus dem Jahre 2000 noch 0,3 Prozent Anteil der selbstbekennenden Deutschen in der Südbukowina (bei 706 409 Einwohner) und 0,02 Prozent in der Nordbukowina (937 000 Einwohner) mit der alten Landeshauptstadt Czernowitz. Ähnlich ist der Schwund bei Armeniern, Juden, Slowaken, Ungarn und Polen.
Einzeln präsentiert werden die deutschen Siedlungsgebiete und Siedlergruppen, die im Buchenland keine geschlossene Einheit bildeten (sogenannte Schwaben, Zipser, Deutschböhmen und deutsche/österreichische Stadtbewohner). Im Kapitel über die Rolle der Deutschen in dieser multiethnischen Grenzregion werden u. a. die „Bildungsoffensive“ für die Bukowina, die Bedeutung der Czernowitzer Universität, die Mittlerrolle im mehrsprachigen Bildungswesen und der Bukowiner Ausgleich abgehandelt. Stellvertretend wird das Lebensbild eines buchenlanddeutschen Parlamentariers vorgestellt: Anton Keschmann (1870-1947). Den Besonderheiten der früheren Bukowina Rechnung tragend, hat Ortfried Kotzian ein Kapitel über den Beitrag der Buchenländer Juden zur deutschen Kultur aufgenommen, da es sich bei der Mehrheit in diesem österreichischen Kronland um „Deutsche mosaischen Glaubens“ handelte (Selbstbekenntnis). Die Bukowina war ein besonderes, bedeutendes Kapitel deutsch-österreichisch-jüdischer Geschichte, das die Aufnahme in dieses Buch voll rechtfertigt.
Um das Verhalten der Betroffenen besser verständlich zu machen, analysiert Kotzian die rechtliche, sprachliche, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Lage der Buchenlanddeutschen als Minderheit im großrumänischen Königreich vor der Umsiedlung, eine geraffte Dokumentation, der anschließend der weltpolitische Kontext und die konkreten vertraglichen Grundlagen der Umsiedlung der Buchenlanddeutschen beigefügt werden. Eine Bereicherung ist, daß damit im Zusammenhang die Umsiedlungen anderer ethnischer Gruppen aus dem Buchenland (Ungarn, Polen), die Fluchtbewegungen und die Massendeportation der Juden präsentiert werden als ein zusammenhängendes Geschehen, das sich für viele der Betroffenen zu einer Tragödie entwickelte. Für den Großteil der überlebenden Buchenlanddeutschen in Ost, Süd und West (Elsaß-Lothringen) endete die Umsiedlung mit Flucht und Vertreibung.
Weiter wird (wie bei allen Gruppen) das Schicksal der Buchenlanddeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, Österreich, Rumänien und der Sowjetunion bzw. der Ukraine bis in die Gegenwart nachvollzogen, aber auch die Bukowinadeutschen in Nord- und Südamerika (Brasilien, Venezuela) mit ihren Organisationen sind erfaßt. Die Arbeit ist eine erste Zusammenschau über die Buchenlanddeutschen im Nachkriegsrumänien und in der Sowjetunion/Ukraine, die in einem Buch veröffentlicht ist. Allein in der Südbukowina bekannten sich beim Zensus des Jahres 1956 mehr als  4000 Personen zur deutschen Gemeinschaft, mehrere Hundert Buchenlanddeutsche lebten damals in anderen Landesteilen.
In mehreren Unterkapiteln werden die Einrichtungen und Institutionen der Bukowiner in Deutschland sowie ihre Partner seit der Wende dargestellt, so die Landsmannschaft (1949 gegründet), die Patenschaft des Bezirks Schwaben (seit 50 Jahren) und dessen Partnerschaft (seit 1997) mit der Bukowina (Rumänien und Ukraine), das Augsburger Bukowina-Institut (gegründet 1988, eröffnet 1990), das Hilfswerk Schwaben-Bukowina (seit 1998) und die Deutschen Foren in der Bukowina. Ähnlich und in Verbindung mit der bedeutenden und bekannten deutschsprachigen Literatur der Bukowina werden die Institutionen der deutschsprachigen buchenländischen Juden in Israel (Landsmannschaft, Literaturkreis, Zeitung) vorgestellt.
Daten, wichtige Bezüge und Querverbindungen zur Bukowina finden sich reichlich auch in den anderen Teilen des Buches, vor allem in denen über die Bessarabien- und Dobrudschadeutschen (Deutsche in Rumänien, Volkszählungstabelle von 1992 und 2002), ebenso im reichen Karten- und Illustrationsmaterial.
Die intensive Beschäftigung und die Forschungsarbeit über diese kleinen deutschen Volksgruppen wie auch zu den Folgen der Umsiedlungen gewährten dem Autor eine umfassende Übersicht, die es ihm ermöglichte, aus heutiger Sicht einen eigenen Standpunkt als Fazit und eine ausgewogene Bewertung des Umsiedlungsgeschehens vorzulegen. Daraus ein Kernzitat: „Die deutschen Umsiedler waren in der Kriegszeit nicht nur die ,Geretteten‘ vor Terror, Willkür und Gewalt, sie waren auch die ,Mißbrauchten'‘ihres eigenen Mutterlandes...“
Ein sehr reiches Quellen- und entsprechend gegliedertes Literaturverzeichnis, u. a. viele neue amtliche Quellen, ein Namens- und Ortsregister sowie selten veröffentlichte bzw. nachgedruckte Farbkarten (Sprachenkarte Europas um 1914 zum Beispiel) beschließen diese wertvolle Veröffentlichung der Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat.
Dieses Großprojekt, eine besondere Leistung des Ostdeutschen Kulturrates, des Herausgebers, des Autorenteams und des Verlags, hat gewiß das seinerzeit gesteckte Ziel erreicht, nämlich die Ost- und Südostdeutschen in ihrer Gesamtheit vorzustellen, mit ihrer Vergangenheit und besonders mit ihrer Gegenwart, wodurch sich diese Bände von der analogen Reihe des Siedler-Verlags abheben. Die Bücher dienen dem Integrationsprozeß, über den jetzt wieder viel gesprochen wird, sie können gut an Schulen eingesetzt werden und sind bei aller wissenschaftlichen Akkuratesse auch dem interessierten „Normalverbraucher“ zugänglich.
Luzian Geier (KK)

 

„Keine Gemeinschaft streitbarer Bürger“
Norbert Spannenberger sprach im Münchner Haus des Deutschen Ostens über die Ungarndeutschen in Geschichte und Gegenwart
Die deutsche Minderheit in Ungarn leidet weniger unter ihrer zahlenmäßigen Schwäche als unter der ihres Selbstbewußtseins. Gegenwärtig noch etwa 31 000 Köpfe zählend, ist sie, traumatisiert durch Deportation, Vertreibung und Ächtung im Lande nach dem Zweiten Weltkrieg, „keine Gemeinschaft streitbarer mündiger Bürger“. Trotz verfassungsmäßig garantierter Minderheitenrechte und trotz Erlasses eines Minderheitengesetzes vor zehn Jahren kann sie sich im modernen Ungarn, das seine den Deutschen abträglichen Geschichtslegenden durchaus kritisch diskutiert, nicht so recht als eigenständige ethnische Größe etablieren.
Zu diesem Ergebnis gelangte jüngst der Leipziger Historiker Norbert Spannenberger in einem Vortrag über die Ungarndeutschen im Haus des Deutschen Ostens in München. Spannenberger, der selbst Ungarndeutscher ist, schrieb das soeben in der Historischen Zeitschrift zustimmend besprochene Buch „Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938-1944 unter Horthy und Hitler“, erschienen (aber zur Zeit vergriffen) als Band 22 der Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (vordem: für ostdeutsche Kultur und Geschichte).
In seinem Rückblick auf die Geschichte der Ungarndeutschen (er bevorzugt die Bezeichnung Deutsche aus Ungarn) war Spannenberger gegenüber traditionellen Ansichten, auch solchen der Forschung, um Klar- bzw. Richtigstellungen bemüht. Wohl gesteht er zu, daß die auf die Belagerung Wiens und die Entsetzung der Stadt 1683 folgende militärische Vertreibung der Türken aus dem Donauraum in diesem, was die Bevölkerung betrifft, „eine gewisse Vakanz“ bewirkt habe; Anlaß zu einer Besiedlung im großen Stil, und zwar durch Deutsche, hätten aber erst die Folgen der sogenannten Kuruzzenkriege geboten, jener grausamen Kämpfe, in denen sich das habsburgische Ungarn seit 1672 unter der Führung von Emmerich Tököly gegen die von Wien erzwungene Gegenreformation gewehrt hatte.
Im übrigen sei die Ansiedlung auf dem Gebiet des heutigen Rumpfungarns im Unterschied zum Banat und der Batschka nicht von den Habsburgern, sondern privat, durch die Grundbesitzer, oft geistliche Magnaten, betrieben worden. Dabei seien Protestanten, die für fleißiger als die Altgläubigen gehalten worden seien, bevorzugt worden. Das alles sei nicht auf Kosten, also unter Verdrängung von Ungarn geschehen, wie behauptet worden sei; wohl aber habe es eine Binnenkolonisation gegeben, d. h. eine Abwerbung von deutschen Siedlern, die sich bereits anderswo in Ungarn niedergelassen hatten. Insbesondere seit dem 19. Jahrhundert wurde es den Deutschen in Ungarn, die, wie Spannenberger betonte, für Opferbereitschaft, Kulturtransfer und Eintracht standen, schwer, sich in das Gastland zu integrieren. Sie hatten sich einer von Mal zu Mal stärker werdenden ungarischen Assimilierungspolitik zu erwehren, insbesondere nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich, in dem sich das infolge der kleindeutschen Entscheidung von 1866 verminderte deutsche Gewicht in der Habsburger Monarchie niederschlug. Namentlich verwies Spannenberger auf Georg Graf von Apponyi, den Kultusminister der Jahre 1906 bis 1910, der eine Entnationalisierung der nichtungarischen Minderheiten betrieben habe.
Im weiteren sprach er vom „nationalen Erwachen“ der Deutschen bis zum Ersten Weltkrieg, davon, daß in der Revolution in Ungarn 1918/19 alle ethnischen Gruppen als gleichberechtigt anerkannt worden seien, ohne daß man das darin liegende Versprechen je eingelöst habe, schließlich von ungarndeutschen Bestrebungen im Umkreis des Volksbildungsvereins unter Jakob Bleyer, im Sinne der ungarischen Eliten im ungarischen Volkstum aufzugehen. Auch die Kirchen hätten, so fügte Spannenberger hinzu, keineswegs, wie man oft beschönigend gesagt habe, als Bollwerke des deutschen Volkstums gewirkt, sondern vielmehr die Magyarisierung gefördert. Dagegen sei der 1938 begründete Volksbund der Deutschen unter Franz Basch eine „emanzipatorische Bewegung“ der Deutschen in Ungarn gewesen, doch freilich bald in den Sog der nationalsozialistischen Machtpolitik in Berlin geraten.
Als Ergebnis davon seien die Deutschen für alles Unheil verantwortlich gemacht worden, das Ungarn im Zweiten Weltkrieg betroffen habe. Die Vertreibung der Deutschen, die längst beschlossene Sache gewesen sei, habe man damit legitimiert. Die verbliebenen Deutschen seien infolge der allgemeinen Urbanisierung, die die Dorfgemeinschaft aufgebrochen habe, der Assimilierung anheimgefallen. Aber schon bald, nach 1956, hätten die Kommunisten die Deutschen entdeckt und eine liberalere Minderheitenpolitik betrieben. Seit den achtziger Jahren sei es diesen sogar gestattet gewesen, Beziehungen zu der ungarndeutschen Landsmannschaft in der Bundesrepublik zu unterhalten. Doch auch nach 1990 seien die Ungarndeutschen Objekt der staatlichen Minderheitenpolitik geblieben, denen das notwendige Instrumentarium fehle, um sich etwa gegen Verletzungen des Minderheitengesetzes zu wehren. Dabei wollten sie Konflikte mit dem Mehrheitsvolk vermeiden und hätten lediglich kulturelle Wünsche. Doch eine kulturelle Autonomie entbehrten sie bis heute. Es mangele den Deutschen in Ungarn nicht nur noch an der Beherrschung der Muttersprache und am Wissen über sich selbst, es fehle ihnen, die kein Bauernvolk mehr seien, vor allem an einer „zeitgemäßen Identität“.
Peter Mast (KK)

 

Im September kommt Schlesien nach Celle
Der Sonderpreis des Kulturpreises Schlesien des Landes Niedersachsen geht in diesem Jahr an Herbert Hupka
Mit dem Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen 2005 werden die Wissenschaftlerin Angelika Marsch und der Dichter Tadeusz Kijonka ausgezeichnet. Die mit je 4000 €uro dotierte Auszeichnung wird Innenminister Uwe Schünemann (CDU) am 3. September in Celle überreichen. Der Sonderpreis geht an den Mitbegründer des Kulturpreises Schlesien, Herbert Hupka. Wie das Innenministerium in Hannover mitteilte, wurden die Preisträger von einer unabhängigen Jury, bestehend aus Deutschen und Polen, ausgewählt.
Angelika Marsch, die 1932 in Berlin geboren wurde, hat außerhalb ihres Berufes als Metallografin nach historisch-topografischen Stadtansichten, besonders schlesischen, geforscht. Diesem Themenbereich widmete sie fünf Bücher und mehr als 20 umfangreiche Beiträge. Die Autodidaktin Angelika Marsch ist im außeruniversitären Bereich die wohl bedeutendste Expertin auf dem Feld der historischen Bildkunde. Ihre Leistung liegt in der Sammlung eines immensen Quellenfundus. Sie hat mit ihren Forschungen unter Historikern eine anerkannte und wohl einmalige Stellung erworben. Sie hat mit den Nachweisen und Kommentierungen zu europäischen und schlesischen Stadtansichten aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert eine für Historiker unverzichtbare Quellengruppe erschlossen, die einmalige Erkenntnisse zur Kultur- und Alltagsgeschichte ermöglicht. Sie leistet auf diesem Gebiet Pionierarbeit. Für ihre wissenschaftlichen Leistungen wurde Angelika Marsch 1985 als erstes nichtakademisches Mitglied in die Historische Kommission für Schlesien berufen. Im Rahmen ihrer Beschäftigung mit der Geschichte Schlesiens arbeitet Angelika Marsch seit zwei Jahren am Schlesischen Museum zu Görlitz ehrenamtlich an einem Gesamtkatalog schlesischer Städteansichten.
Tadeusz Kijonka ist einer der bedeutendsten polnischen Lyriker seiner Generation. In vielen seiner Werke setzt sich Kijonka mit der schlesischen Thematik auseinander, wobei er die kulturelle und ethnische Identität der Region anspricht. Tadeusz Kijonka, der 1936 in Radlin bei Rybnik (Oberschlesien) geboren wurde, begann nach seinem Abitur als Mitarbeiter einer Maschinenfabrik seine ersten Gedichte zu verfassen. Während seiner Studienzeit veröffentlichte er in verschiedenen Zeitschriften mehrere Gedichte, die er 1959 in seinem ersten Band „Kirchenfenster“ herausgab. Nach dem Studienabschluß im Jahre 1960 begann Kijonka, bei Radio Kattowitz als Journalist zu arbeiten. Es folgte die Arbeit bei unterschiedlichen Zeitungen und Zeitschriften bis zu seiner Anstellung als literarischer Leiter an der Schlesischen Oper. 1985 wurde er Abgeordneter des polnischen Parlaments. Neben seiner regen journalistischen Arbeit ging er auch der dichterischen Tätigkeit nach. So fand sein 1967 veröffentlichter Lyrikband „Schnitzerei im schwarzen Holz“ bei den Literaturkritikern in Polen größte Anerkennung. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen wurden in dem Gedichtband „Reglose Zeit“ aus dem Jahre 1991 die Erfahrungen Oberschlesiens in der Zeit des Krieges verarbeitet. Danach erschienen seine Bände „Echos“ (1992), das Poem „Schwestern“ (1992) und „Labyrinthe – fünf polnische Poeme“ (1993). Die Lyrik von Kijonka gilt als brillant, emotionsgeladen und dynamisch. In vielen seiner Werke setzt sich Kijonka mit der schlesischen Thematik auseinander. Er spricht die ältere und jüngere Vergangenheit dieser Region sowie ihre kulturelle und ethnische Identität an.
Die Jury hat sich darauf geeinigt, Dr. Herbert Hupka als Mitbegründer des Kulturpreises Schlesien im Jahre 1977 einen Sonderpreis zu verleihen. Hupka, der in diesem Jahr 90 Jahre alt wird, soll für sein journalistisches und schriftstellerisches Lebenswerk ausgezeichnet werden. Er wurde in Ceylon geboren und wuchs ab 1919 in Ratibor auf, studierte an den Universitäten Halle und Leipzig Germanistik, Geschichte, Geographie und Kunstgeschichte. Nachdem er 1945 aus Ratibor vertrieben wurde, begann er als Redakteur bei Radio München und war zudem Herausgeber und Chefredakteur der Jugendzeitschrift „Wir“. 1957 arbeitete er als Programmchef bei Radio Bremen, und ab 1959 war er Pressechef des „Kuratoriums Unteilbares Deutschland“ in Bonn. Seit 1964 ist er als freier Journalist tätig. In seiner Eigenschaft als Mitglied des Deutschen Bundestages von 1969 bis 1987 war er 17 Jahre lang Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Von 1968 bis 2000 war Hupka Vorsitzender der Landsmannschaft Schlesien und ist jetzt deren Ehrenvorsitzender. Der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat stand er bis 2000 als Präsident vor und beteiligt sich als Ehrenpräsident aktiv an ihrer Tätigkeit, nicht zuletzt als Autor der „Kulturpolitischen Korrespondenz“.
Der Kulturpreis Schlesien wird seit 1977 jährlich verliehen und soll zur Verständigung und Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen beitragen. Im Jahre 1977 hat die niedersächsische Landesregierung ihn gestiftet. Der Preis war damals Ausdruck der Verbundenheit mit den Schlesiern, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Niedersachsen Aufnahme gefunden und wesentlich zum Aufbau des Landes beigetragen haben. Er sollte auch dazu beitragen, das schlesische Kulturgut zu wahren und weiterzuentwickeln.
Heute ist er auch ein Beitrag zu Völkerverständigung, Aussöhnung und Frieden, er ist eine Brücke zwischen Deutschland und Polen. Außerdem kann der Preis für besondere Verdienste um die Erhaltung, Weiterentwicklung und Verbreitung schlesischen Kulturgutes vergeben werden. Mit dieser Neuausrichtung wurde die Erwartung verbunden, daß die öffentliche Ehrung von Preisträgerinnen und Preisträgern aus Deutschland und Polen die Begegnung von Menschen ermöglicht, die durch ihre Herkunft und ihr Schaffen der europäischen Kulturlandschaft Schlesien verbunden sind.
Michael Ferber (KK)

 

Kreuzzeichen nicht auf, sondern hinter der Stirn
Die Mönche im niederbayrischen Kloster Rohr kommen aus Böhmen
Aus der nordöstlichen Ecke Böhmens, aus ihrem Kloster in Braunau, wurden die deutschen Benediktiner nach Kriegsende vertrieben. Im niederbayerischen Rohr fanden sie nach der Flucht eine neue Heimat. Sie bauten das ehemalige Kloster der Augustiner-Chorherren wieder auf, setzten ihre Schultradition mit einem katholischen Gymnasium und Internat fort – derzeit rund siebenhundert Schülerinnen und Schüler – und widmeten sich besonders dem deutsch-tschechischen Dialog. Die Möglichkeiten waren beschränkt, solange der Kirchenkampf in Tschechien tobte. So galt die Sorge in erster Linie den katholischen Exiltschechen. Abt Dr. Anastaz Opasek OSB aus Bevnow, dem vom heiligen Adalbert 993 gegründeten Mutterkloster von Braunau, konnte in Rohr die Mitarbeiter von „Opus bonum“ um sich sammeln. Im Sudetendeutschen Priesterwerk hat der jeweilige Abt von Rohr, derzeit der aus dem schlesischen Ratibor stammende Gregor Zippel, eine gewichtige Stimme.
Den katholischen Sudetendeutschen, der Ackermanngemeinde, die schon früher als die Sudetendeutsche Landsmannschaft auf Versöhnung setzten, boten die Benediktiner im Kloster „St. Wenzel zu Braunau in Rohr“ Tagungsmöglichkeiten. Gleiches galt für die Junge Aktion und den Braunauer Heimatkreis, um nur diese Gruppierungen zu nennen. Pater Benedikt ist der letzte der vertriebenen Braunauer, die am 10. Mai 1946, 143 Jahre nach der Säkularisation, erstmals wieder in der barocken Rohrer St. Himmelfahrtskirche das klösterliche Stundengebet aufnahmen.
Seit der Wende, der Grenzöffnung, gibt es fast ständig tschechische Gäste. Das Deutsch-Tschechische Begegnungs- und Kulturzentrum St. Adalbert mit seinem im Jahre 2000 eingeweihten Neubau schafft dafür den Rahmen. Das Gymnasium pflegt  einen regen Schüleraustausch mit Braunau, dem heutigen Broumov. In wechselnden Ausstellungen stellt das Kloster seine bayerische und böhmische Geschichte vor. Tschechische Bischöfe, fast alle sprechen fließend Deutsch, predigen in der Klosterkirche und sind gerngehörte Referenten bei den Tagungen.
Pater David Riedl, der Jüngste des Rohrer Konvents, ist der Leiter des Deutsch-Tschechischen Tagungshauses. In Regensburg geboren, betreut er die Sudetendeutschen Musiktage, Konzerte, Musica Sacra und musische Wochen für deutsche und tschechische Familien. Er ist begeisterter Jugendseelsorger und stolz darauf, daß bei seinen sonntäglichen Abendmessen die Plätze in der Klosterkirche nicht reichen.
Es ist also möglich, die Jugend anzusprechen. Pater David will die „christlichen Lebenswelten modernisieren“. Er will Atmosphäre für Familien schaffen und für eine zeitgemäße Weitergabe des Evangeliums sorgen. Offen erzählt er, wie er sich als Junge geschämt hat, wenn ihm seine Mutter das Kreuzzeichen auf die Stirn zeichnete. Heute setzt er auf christliches Selbstbewußtsein, das durch Bildung gestärkt werden müsse. So arbeitet er in den wenigen Stunden, die ihm seine Aufgaben in Rohr lassen, weiter an seiner Dissertation.
Norbert Matern (KK)

Förderwettbewerb „Geschichtswerkstatt Europa“
Der Fonds „Erinnerung und Zukunft“ und die Robert Bosch Stiftung schreiben den Förderwettbewerb „Geschichtswerkstatt Europa“ aus. Es werden internationale Geschichtswerkstätten gefördert, die sich mit ideologisch oder nationalistisch verkürzten Geschichtsdarstellungen kritisch auseinandersetzen und die gemeinsame europäische Dimension nationaler, regionaler oder lokaler Geschichte sichtbar machen.
Jugendliche und junge Erwachsene sollen zur Bildung eines europäischen Geschichtsbewußtseins beitragen, indem sie gemeinsam forschen, amtliche Geschichtsbeschreibungen und historische Mythen kritisch befragen, den Geschichtsunterricht an Schulen und Hochschulen vergleichen oder Geschichtsmuseen und Gedenkstätten untersuchen. Mit den Ergebnissen ihrer Arbeit soll die Überarbeitung von Lehrmaterialien und Geschichtsdarstellungen angeregt werden.
Bewerbungen mit dem Betreff „Geschichtswerkstatt Europa“ können bis zum 31. März 2005 beim Fonds „Erinnerung und Zukunft“, Markgrafenstraße 12-14, 10969 Berlin, eingereicht werden.
(KK)

 

Grass, Holz, Wiechert, Lenz
Auf den Spuren dieser deutschen Schriftsteller aus dem Osten unternimmt die Touristik GmbH Determann & Kreienkamp Reisen unter dem Motto „Auf in den Osten. Es lohnt.“ Über Kolberg an der Ostsee geht die neuntägige Reise zuerst in die Kaschubei, zu der und deren Bewohnern die Teilnehmer beim Museumsbesuch in Karthaus mehr erfahren. Nächste Station ist Danzig. Auf einer speziellen Tour lernen die Reisenden Oskar Matzeraths Viertel kennen. Über Kahlberg erreicht die Gruppe die Copernicus-Stadt Frauenburg. Wunderschöne Alleen durchfährt der Bus in Masuren, wo Heilsberg mit seiner imposanten Bischofsburg auf dem Programm steht. Ganz im Zeichen der Literatur steht der Besuch von Rastenburg, wo Arno Holz, einer der Väter des Naturalismus, geboren wurde. In Lyck ist das Geburtshaus von Siegfried Lenz zu besichtigen. Auf der Straße der 1000 Seen geht es in die Johannisburger Heide, wo in der Försterei Kleinort Ernst Wiechert geboren wurde. Ihm ist ein kleines Museum gewidmet. Nach einer Stocherkahn-Fahrt auf der Krutinna, dem malerischsten Flüßchen Masurens, führt die letzte Station  nach Thorn.
Informationen:  www.duk-touristik.de oder Tel. 02 51 / 5 10 53 09.
(KK)

 

Bücher und Medien

„Gedenken an unsere Eltern und Großeltern und an ihre Qualen“
Nelli Kossko: Am anderen Ende der Welt.
Copyright bei der Autorin und Herausgeberin Nelli Kossko.
Literaturkreis der Deutschen aus Rußland, 2004, ISBN 3-933673-61-5
Nelli Kossko schreibt in der Widmung ihres Buches „Am anderen Ende der Welt“: „Dieses Buch ist kein Blick zurück im Zorn, aber in ehrfürchtigem und demütigem Gedenken an unsere schuldlos in den Tod gehetzten Eltern und Großeltern und an ihre Qualen.“ Es ist das zweite Buch der von der Autorin geplanten Trilogie „Die Quadratur des Kreises“ und die Fortsetzung ihrer autobiographischen Novelle „Die geraubte Kindheit“.
Frau Wagner wandert mit  ihrer 14jähriger Tochter Emmi nach sieben Jahren Verbannung in einer Sondersiedlung in den Wäldern des  Kostromagebietes, wo sie zusammen mit anderen deutschen Frauen bis zu Erschöpfung Wald roden mußte, weiter in den Fernen Ostens, wo sie in der Welt der Lager und Gefängnisse den Rest der Familie, ihren Mann und ihren Sohn zu finden hofft.
Mutter und Tochter dürfen nicht allein ans andere Ende der Welt reisen. Es begleitet sie ein gewissenloser Milizmann, der sie nicht nur schlecht behandelt, anbrüllt und beschimpft, sondern auch noch des letzten Geldes beraubt.
Nelli Kossko erzählt über diese Reise aus der Sicht eines Teenagers, eines Mädchens, das sehr früh begriffen hat, daß Deutsche im Rußland der Nachkriegszeit vieles schlucken und einstecken müssen. Doch Emmis unbändige freiheitsliebende Natur nimmt trotzdem oft Oberhand, ihr sehnlichster Wunsch ist, dazuzugehören, immer wieder fühlt sie sich als Ausgestoßene und rebelliert dagegen.
Emmi hat sich an die Feindseligkeit gewöhnt, obgleich sie ihr den Atem verschlägt und sie immer wieder zusammenzucken läßt, wenn sie ihnen in offener oder versteckter Form begegnet. Und sie hat gelernt, zu unterscheiden zwischen Vertretern der Staatsgewalt und der Gutmütigkeit einzelner Russen, die trotz der Haßpropaganda den Deutschen helfen und Verständnis für ihre Lage zeigen, zumal ihre Reisegefährten: die alte  Russin Agafja, die sieben Söhne im Krieg verloren hat, die Ukrainerin Galina, die 15 Jahre auf ihren in der Hochzeitsnacht unschuldig verhafteten Mann gewartet hat und zu ihm in die Kolyma fährt, der junge lettische Seemann in ihrem Abteil, später die Tante Nina, eine Frau mit einem tragischen Schicksal, die vielen Neuankömmlingen im Verbannungsort Arkagala das Leben gerettet hat, und die Russischlehrerin, die Emmi Stoff für ein Schulkleid schenkt. Am Gegenpol stehen u. a. die Reisenden der ersten Klasse, der Milizmann und Parteifunktionär.
Nicht alles, was im Land vorgeht, versteht Emmi, und deshalb macht die Autorin oft kursiv hervorgehobene Einschübe für die Leser, die, wie sie schreibt, „einen gewissen Nachholbedarf an Informationen allgemeinen Charakters haben, um die Zusammenhänge verstehen zu können“. Zu diesem Zweck gibt es auch einige Texte im Anhang, eine Texttafel, die Karten des Magadaner Gebiets, Europas und der UdSSR sowie Fotos von der Kolyma. Für diejenigen, die von einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn träumen, werden auch die wunderschönen Naturbeschreibungen des sibirischen Frühlings, der Meeresküste im Fernen Osten, der Jahreszeiten in der Kolyma und im Ural interessant zu lesen sein. Und diese Strecke werden sie dann auch ein bißchen mit den Augen der Emmi sehen, die begeistert Wasser aus dem Baikal-See trinkt, die Wälder und Berge entlang der Eisenbahn bewundert.
Aber hoffentlich bleibt im Gedächtnis des Lesers auch die Hintergrundinformation haften, die Nelli Kossko über die Tausende, Millionen von Häftlingen, die diese Eisenbahn bei ihrem Entstehen mit ihrem Leben bezahlt haben oder mit ihr in die entlegensten Gegenden des riesigen Landes verfrachtet wurden, wo auch viele Kriegsgefangene aus Deutschland für immer die Augen schlossen, entkräftet, verhungert, erfroren. Im Buch schildert die Autorin eine schicksalhafte Begegnung der Protagonistinnen mit solchen deutschen Kriegsgefangenen, die sich freuen, ein deutsches Wort zu hören, und ihr letztes Geld der verzweifelten deutschen Frau geben, damit sie und ihre Tochter nicht verhungern.
Man kann sich nur wundern, wie es den Menschen gelungen ist, alle vom Schicksal gestellten Hürden zu überwinden, in dieser Gegend zu überleben, Freunde und sogar Liebe zu finden – und darüber hinaus nicht nachtragend zu sein. Obwohl sich ihre Lebensgeschichte auch als eine Antwort liest auf die Frage vieler Bundesdeutscher, wieso in den letzten Jahren so viele Aussiedler aus der ehemaliger UdSSR nach Deutschland kommen auf der Suche nach einer Heimat und hartnäckig darauf bestehen, Deutsche zu sein, beleidigt sind, wenn sie als Russen bezeichnet werden, wenn sie auch besser Russisch sprechen als Deutsch. Die politischen Winde haben ihnen im letzten Jahrhundert immer direkt ins Gesicht geblasen, immer sind sie für die politischen Fehler anderer verantwortlich gemacht worden.
Das Buch von Nelly Kossko ist ein Denkmal für die Erlebnisgeneration und wird zur Reliquie für ihre Nachkommen werden, ihnen helfen zu begreifen, was ihre Eltern und Großeltern durchgemacht haben und welchen Preis sie für die Rückkehr in die Heimat der Ahnen bezahlt haben.
Agnes Giesbrecht (KK)

 

Eine überbelegte Kaserne wird zum gesellschaftlichen Mikrokosmos
Das O-Lager 1946-1951. Ostvertriebene in Soest.
Eine Dokumentation zur Nachkriegsgeschichte, erarbeitet und zusammengestellt von der O-Lager-Arbeitsgemeinschaft.
Soest: Geschichtswerkstatt Französische Kapelle e. V., 2004, 159 S.,
Bezug: Mechtild Brand, Zum Spielplatz 10, 59514 Welver; 19,50 Euro einschließlich Versand
Man ist manchmal versucht zu sagen, es gebe so etwas wie typische Schicksale von Gebäuden und Menschen.
In einer westfälischen Stadt wird im Rahmen der Aufrüstung ab Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts eine Kaserne gebaut. Statt Truppen zu beherbergen, wird die unfertige Anlage zum Kriegsgefangenenlager. Der einen Überbelegung folgt dann die nächste 1945 durch befreite Zwangsarbeiter vor ihrer Repatriierung und 1946 durch Heimatvertriebene und Flüchtlinge. Geplant ist der Bau für 800 Mann, die doppelte Anzahl Menschen wird zeitweise hineingepfercht. Es entsteht ein neuer Mikrokosmos mit der breiten Palette des Alltags- und Familienlebens, wo es glückliche Momente der Rückkehr aus Gefangenschaft, Heiraten und Geburten gibt, aber auch die schwierige Suche nach neuen Erwerbsmöglichkeiten, dazu ein geselliges Leben mit Blick auf die schlesische Herkunft. Im Lager ist die Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat und die angestammte soziale Umgebung allgegenwärtig. Doch die schwindet mit der Zeit, besonders als im Zuge des Koreakrieges 1950 die Kaserne innerhalb von 100 Tagen wieder ihrem militärischen Zweck zugeführt wird und dafür den Vertriebenen 584 Wohnungen in einer neuen Siedlung gebaut werden. Die erste Phase der Aufnahme ist damit abgeschlossen, die lokale Verschmelzung beginnt.
Was hier für die sogenannten O- und E-Lager sowie die Süd-Ost-Siedlung von Soest beschrieben wird, ist eine anschauliche Beschreibung auf der Basis persönlicher Erinnerungen und zeitgenössischer Presseberichte. Diese Zusammenstellung führt zu den sozialen Anfängen der Bundesrepublik Deutschland und zum Beginn der Integration zahlloser Schlesier im Westen. Damit hilft die Publikation exemplarisch bei der Selbstvergewisserung zur Herkunft und Identitätsbildung breiter Schichten und Teile der Bevölkerung nach 1945. Hier offenbart sich auch den Nachgeborenen, wie die lokalen Verbindungen zu den ehemaligen ostdeutschen Provinzen und deutschen Siedlungsgebieten im östlichen Europa entstanden, die heute allenfalls in Straßennamen auffällig geblieben sind.
Übrigens gibt es in der 1994 wieder geräumten Soester Kaserne etwas Untypisches, die von katholischen französischen Kriegsgefangenen eingerichtete Kapelle. Sie steht seit 1992 unter Denkmalschutz und ist namensgebend für den herausgebenden Geschichtsverein.
Stephan Kaiser (KK)

 

Glück und Traurigkeit in Galizien und anderswo: Adam Zielinski
„Ich bin ein Galizianer, ich bekenne mich dazu, ich bin stolz darauf, aber immer wieder stoße ich auf die Frage: was ist eigentlich Galizien? Galizien ist ein Begriff, der nur in unseren Köpfen existiert, es ist ein Begriff, der seinerzeit vom k. u. k. Österreich geschmiedet wurde, ist aber ein geographisches Revier, das auf keiner Karte zu finden ist. Trotzdem, Galizien existiert in unseren Herzen, existiert in unseren Gehirnen“, sagt Adam Zielinski. In diesen Sätzen ist schon das Dilemma der „Galizianer“ beschrieben: Es gibt Galizien nicht mehr, und was wir davon wissen, stammt aus historisch gewordenen Quellen. Nur – Adam Zielinski lebt. Man kann ihn befragen. Was also ist Galizien? In Adam Zielinskis Worten klingt das so: „Ich meine, daß Galizien ruhig als Wiege und Erziehungsgebiet für mehrere Generationen gelten muß und gelten soll mit einem speziellen Schwergewicht auf der jüdischen Kultur, die während des II. Weltkrieges, wie wir alle wissen, von Hitler total ausgelöscht wurde. Ich bin in Drohobycz geboren, das ist die Stadt von Bruno Schulz, ein Mensch, der schon unseren Kindern nicht mehr bekannt ist, der aber seinerzeit auf zwei Generationen einen Eindruck gemacht hatte.“ Drohobycz – das hat einen magischen Klang. Aber bei Adam Zielinski klingt es gar nicht magisch, im Gegenteil. Ihm erscheint es gelegentlich wie ein Wunder, daß er einer jener 19 Juden ist, die den Holocaust in Stryj überlebt haben, 19 von 18 000 Juden, die ehemals in diesem Städtchen gelebt haben.
In Drohobycz kam Adam Zielinski also zur Welt, aufgewachsen ist er in Stryj. Dorthin zog der Vater samt Familie, dort wurde der Sohn aus seinen Kinderträumen gerissen, als 1941 die Deutschen die Stadt überfielen: „Ich war absolut unvorbereitet auf die Grausamkeiten Hitlers, weil mein Vater mich in der Überzeugung erzogen hatte, daß die deutsche Kultur und die deutsche Literatur – er war Wagnerianer – und alles, was aus Deutschland kommt, Ausdruck der höchsten Welt ist.“ So erging es fast allen Juden, ob assimiliert oder nicht. Der Vater wird erschossen. Als wenig später auch seine Mutter ermordet wird, flieht der Elfjährige nach Lemberg, überlebt dort den Krieg und wird von den Russen nach Polen „repatriiert“.
In Krakau absolvierte er die Schule und ein Studium, arbeitete dann als Journalist beim polnischen Rundfunk und verließ das Land 1957. Da hatte er vom Antisemitismus in Polen genug. Es zog ihn nach Wien. Es waren gemischte Gefühle, mit denen er in Wien fertigwerden mußte. Und die ihn auch heute noch gelegentlich ereilen. „Wien Ein Fall“ legt Zeugnis davon ab: „Der Wiener ist letztlich einsam, selten sozial. Er hat, entgegen dem Anschein, keine Freunde.“ Und dann führt er furios vor, wie um kleiner, vermeintlicher Vorteile willen die Menschen einander ausspielen. Als „Neue Geschichten aus dem Wiener Wald“ wurde das Buch gefeiert in Erinnerung an Horváths großes Theaterstück.
Im Klagenfurter Wieser Verlag sind erhältlich „Jan war Jossele“, „Wien Ein Fall“ sowie eine zehnbändige Kassette mit Werken des polnischen Schriftstellers.
Schon sein erstes Buch im Wieser-Verlag, der Erzählungsband „Jan war Jossele“, erzählt nicht nur vom Schrecken des Holocaust, sondern auch von den Folgen. In der Titelgeschichte berichtet der Ich-Erzähler von unbeschwerten Jugendjahren in einem galizischen Dorf, die durch den Einfall der Nazis beendet werden. Viele Jahre nach dem Krieg ergibt sich eine Begegnung mit einem Mann, der an der Zerstörung dieses Dorfes wie an der Ausrottung der Juden beteiligt war und immer noch von der Richtigkeit seines damaligen Tuns überzeugt ist. Zielinski läßt Welten aufeinanderprallen in einer Unmittelbarkeit, wie er sie seinerzeit durchleiden mußte. Und er läßt den Leser ansatzweise den Schmerz verspüren, der damals nicht nur ihn durchfuhr.
Ein nicht weniger schmerzhaftes Buch ist „Im freien Fall“. Der Roman schildert den Zerfalls Jugoslawiens, er ist eine Untersuchung darüber, wie es zu dem Bürgerkrieg kam, der durch sog. „ethnische Säuberungen“ aus vielfältig kulturell gemischten Gebieten gewaltsam Monokulturen schuf: hie Serben, da Kroaten, hie Bosnier, da Albaner. Gezeigt wird der Zerfall an fünf Personen, die ehemals Freunde waren, die die gleiche Schule besucht hatten – damals gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, als Marschall Tito das Land mit harter Hand einigte. Wie sich zeigt, war wohl zuviel Härte und zuwenig Rücksicht auf kulturelle Unterschiede im Spiel. Freiheit als Freiheit des anderen ist der zentrale Begriff des Romans. Von der Erkenntnis und Anerkennung dieses Begriffs sind jedoch die fünf weit entfernt. Bei einem Treffen 1991 soll jeder – mit Ausnahme des Juden, der bezeichnenderweise nicht dabei ist – seinen Freiheitsbegriff darlegen. An dieser Stelle legt Zielinski den Grundkonflikt Jugoslawiens bloß: Der Bosnier erwartet das Heil von der Islamisierung, der Slowene möchte sein Land für sich und nur für sich, der Kroate will los von Serbien, weil er sich unterdrückt fühlt, und der Serbe will alle Albaner aus dem Kosovo zum Auswandern überreden und setzt auf das Heil der orthodoxen Kirche.
Bei Zielinski geht der Krieg gegen Ende des Buches zwingend in die heiße Phase über. Als der Autor ihn beginnen läßt, ist dies nicht ohne „Witz“. Die ersten Reflexionen von Soldaten des Armeetransportes, der nach Norden kommandiert wird, kreisen um Österreich. Immerhin war Wien als Hauptstadt der Monarchie zuständig für den größten Teil des Gebietes, auf dem nach dem Ersten Weltkrieg Jugoslawien entstand. Schon damals gab es Spannungen, weil historische Gegebenheiten geflissentlich übersehen wurden. Ein Angriff auf Wien, gewissermaßen als Rache für früher vertane Gelegenheiten? Natürlich nicht. Der Krieg dient der Selbstzerfleischung. Am Ende sind alle fünf Protagonisten tot.
Nicht ganz so pessimistisch endet der Roman „Gebeutelt“. Es ist ein Entwicklungsroman, ein Schelmenroman, autobiographisch und fiktiv. Es ist die Geschichte der Familie Balticky aus Stryj. Der Vater ist Lokomotivführer, die Mutter muß fünf Kinder durchfüttern. Die Stadt lebt zu Beginn in Frieden, Zielinski beschreibt eine Idylle, Galizien, wie man es aus der Literatur kennt. Dann bricht der Krieg herein, es folgen Tod und Zerstörung. Und die Überlebenden werden in alle Winde zerstreut, über Lemberg nach Sibirien, nach Hongkong, nach China, zu guter Letzt nach Wien. Das nimmt den Leser so gefangen, daß er bei aller Grausamkeit auch lachen kann. Es erinnert an Grimmelshausens Simplicissimus, der über sein Leben im Dreißigjährigen Krieg sagt: „Es hat mir wollen behagen, mit Lachen die Wahrheit zu sagen“. Bei aller Komik übersieht Zielinski die Tragik speziell der polnischen Geschichte nicht: „Wenn man genau hinschaut, sieht man, daß das 20. Jahrhundert eigentlich ein Jahrhundert der Kriege ist. Es hat den Polen gegenüber eine besondere Grausamkeit walten lassen. Diese Grausamkeit beginnt nicht erst 1939, denn sie hat schon bis 1918 existiert.“ Eine Anspielung auf die diversen polnischen Teilungen, aus denen die Polen eine Konsequenz gezogen haben: „Die Polen haben sich in alle Welt zerstreut wie die Juden nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem 2300 Jahre vor unserer Zeit. (...) Man muß sich retten, und man rettet sich durch die Flucht. Wer flüchtet, hat eine Chance, wer bleibt, hat diese Chance vertan. Meine Helden haben überlebt, weil sie die Chance genutzt haben. Meine Figuren sind die Summe der Erfahrungen der Polen, die diese nach dem Krieg gemacht haben.“
Blickt man auf Zielinskis Leben und Werk, kommt einem Grillparzers Ausspruch „von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität“ in den Sinn. Auch im Gespräch zeigt er sich nicht sehr überzeugt davon, daß der Mensch gut sei. Fragt man ihn, auf welcher Stufe des Grillparzerschen Verdiktes die Menschheit steht, gibt er eine sehr ambivalent zu verstehende Antwort: „Ich habe einen Erzählungsband mit dem Titel ,Die Kanaille‘ veröffentlicht. Als Motto für dieses Buch habe ich eine Grabinschrift vom Friedhof von Elgin in Schottland gewählt: ,Gäbe es keine Traurigkeit, wir würden das Glück nicht bemerken, wenn es kommt.‘“
Ulrich Schmidt (KK)

 

Literatur und Kunst

Gerhart Hauptmann hat gewonnen
Das Landgericht Berlin entscheidet gegen die Verballhornung des Dramentextes der „Weber“
Der Dichter Gerhart Hauptmann hat gewonnen. Das konnte man am 2. Oktober 1893 sagen, als das Preußische Oberverwaltungsgericht in Berlin das Aufführungsverbot für das Bühnenwerk „Die Weber“ aufhob. Das Stück war zuvor, da es zur Zensur und Genehmigung einer Aufführung vorgelegt werden mußte, vom Berliner Polizeipräsidium am 20. Februar 1892 verboten worden. Im „Verein Freie Bühne“ hatte inzwischen eine nichtöffentliche Aufführung am 26. Februar 1893 stattgefunden. Aber jetzt, 1894, konnte die Uraufführung im Deutschen Theater in Berlin nachgeholt werden. Dies hatte allerdings zur Folge, daß Kaiser Wilhelm II. seinen Logenplatz kündigen ließ.
110 Jahre danach hat wiederum Gerhart Hauptmann gewonnen, denn am 11. Januar 2005 entschied das Landgericht in Berlin, daß „Die Weber“ in der Regie von Volker Lösch im Dresdner Staatsschauspiel nicht aufgeführt werden dürfen. Zuerst war die Freigabe des Schauspiels eine gewonnene Schlacht, heute ist das Verbot der Sieg.
Um so aktuell wie nur möglich zu wirken, hatte der Regisseur eigenwillig und eigenmächtig einen Chor der Arbeitslosen eingefügt, der an die sogenannten Montagsdemonstrationen gegen Arbeitslosigkeit und Hartz IV gemahnte. Da es aggressiv klingen sollte, hörte man jetzt mitten im Text von Gerhart Hauptmann vom „Verräterschwein Schröder“, gefordert wurde „Ausweisung nach Sibirien oder Verbrennung im Ofen“, dazu hieß es noch:  „Wen ich sehr schnell erschießen würde, das wäre Sabine Christiansen.“
Das aber hatte Folgen, mußte Folgen haben. Die in effigie auf die Bühne gezerrte Fernsehmoderatorin teilte mit, daß sie gerichtlich vorgehen werde, ihr gutes Recht. Der über die Aufführungsrechte der Werke von Gerhart Hauptmann verfügende Verlag Felix Bloch Erben in Berlin erreichte eine Einstweilige Verfügung beim Landgericht in Berlin und ein Verbot weiterer Aufführungen. Der Widerspruch des Dresdner Schauspiels, vorgetragen in der Absicht, daß man das Werk von Gerhart Hauptmann bis zur endgültigen Entscheidung weiter aufführen wollte, wurde am 25. November 2004 zurückgewiesen. Jetzt hoffte man auf den endgültigen Gerichtsbeschluß.
Das Urteil beharrt auf dem Verbot der Aufführung, da das Theater gegen das Urheberrecht verstoßen habe. Änderungen im Text eines Werkes müßten durch vorherige Absprachen geklärt werden. Schon ist zu hören: Die Kunst ist in Gefahr, juristische Eingriffe töten die Freiheit der Gestaltung, der Theaterbesucher habe zu entscheiden, nicht die Justiz, und so fort.
Jede Neuinszenierung ist eine neue Begegnung mit dem Autor. Jede Inszenierung trägt die Handschrift des Regisseurs. Aber zur Zeit erleben wir, daß des Dichters Wort nichts bedeutet, wohl aber der Regisseur alles. Schon oft, und dies mit gutem Grund, ist vom Regietheater gesprochen worden. Und Gerhart Hauptmann wurde mit seinem großartigen Bühnenwerk „Vor Sonnenuntergang“ aus dem Jahre 1932 erst jüngst Opfer des Regietheaters in Berlin. Regisseure maßen sich die Rolle des Dichters und Autors an, ohne das Zeug dazu zu haben.
Im Fall der „Weber“ von Gerhart Hauptmann sollte nicht der Stoff, der Weberaufstand in den Dörfern des schlesischen Eulengebirges von 1844, transparent gemacht werden, sondern die aktuelle Politik auf der Folie des Stückes vorgeführt werden. „Her mit den ,Webern‘, daraus machen wir, der Regisseur, ein ganz neues Stück!“ Eine Gürtellinie, über die hinaus zu gehen der, um es milde auszudrücken, gute Geschmack verböte, gibt es derzeit nicht.
Zweimal ist demnach richtig entschieden worden: 1893, als das Verbot einer Aufführung der „Weber“ von Gerhart Hauptmann aufgehoben wurde, 2005, als die  Hinzufügung eines neuen Textes nach eigenem Gutdünken auf Kosten des Originals untersagt worden ist.
Von C. F. W. Behl, dem Herausgeber der Werkedition letzter Hand von Gerhart Hauptmann aus dem Jahres 1942, stammt das Wort: „Das Stück hat öfters im Tumult des Tagesstreites gestanden. Aber auch gelegentliche Mißbräuche tendenziöser Art haben seiner unversehrbaren menschlichen und dichterischen Substanz nichts anhaben können.“
Herbert Hupka (KK)

 

Künstler der Euroregion Neiße in Görlitz
Das Schlesische Museum zu Görlitz und die Galerie Klinger zeigen bis zum 27. Februar eine Ausstellung mit Werken von Künstlern aus der Euroregion Neiße. Fünfzehn deutsche, polnische und tschechische Künstler waren im vergangenen Sommer zu einem zweitägigen Pleinair in Muchau/Muchów am Rande des niederschlesischen Landschaftsparks Chelmy zusammengekommen, um zu arbeiten, sich auszutauschen und die Region kennenzulernen. Eingeladen hatten das Regionalmuseum Jauer/Jawor, das Museum des Böhmischen Paradieses in Turnau/Turnow und das Schlesische Museum zu Görlitz. Die dabei entstandene Wanderausstellung kommt nach der ersten Station in Jauer nun nach Görlitz.
(KK)

 

„Restwirklichkeit“ im „Affentheater“
Regie-Einfälle zu Stücken von Gerhart Hauptmann
Die Anregung, Gerhart Hauptmanns „Biberpelz“ und den „Roten Hahn“ für das Berliner Ensemble zu bearbeiten, geht auf den Wunsch der Schauspielerin Therese Giese zurück, die Rolle der Frau Wolff und der Frau Fielitz hintereinander zu spielen. Im Sommer 1950 begann Brecht mit einigen Mitarbeitern daran zu arbeiten. Obwohl er die Zustimmung der Hauptmann-Erben dafür vorher eingeholt hatte, wurde nach Vorlage des Bühnen-Manuskriptes der Aufführungsvertrag gekündigt, die Inszenierung mußte nach 14 Vorstellungen abgesetzt werden. In der Tat ist der „Biberhahn“ keine dramaturgische Einrichtung, sondern eine Bearbeitung im Sinne Brechts, was die in dem Band „Theaterarbeit“ 1952 abgedruckten neu geschriebenen Passagen eindeutig beweisen. Erst in der großen Brecht-Ausgabe konnte der Text 1992 veröffentlicht werden.
Den Regisseuren ist seitdem offenbar weitgehende Freiheit bei ihren Inszenierungen von Hauptmann-Stücken eingeräumt. Viele „Einfälle“ sind ja auch ohne direkte Textänderung möglich. Paradebeispiel dafür sind die „Einsamen Menschen“, Hauptmanns zweites 1890 uraufgeführtes Stück. Aus eigenen Erinnerungen stammen die folgenden Fälle, Regisseur und Theater sollen dabei nicht genannt werden.
Erstes Beispiel: Der zum Suizid in den Wannsee gegangene Johannes Vockerath kehrt bei leerer Bühne zurück, legt sich naß und bibbernd auf das Sofa und zieht eine Decke über sich. Damit ist die Tragik liquidiert, die Problematik und die Gestalt beschädigt. Eine andere Inszenierung von einem kleineren Ensemble erfindet einen Ehebruch, Johannes kopuliert mit der Studentin. Am Schluß läßt seine Frau den Bademantel fallen, zeigt einen attraktiven Rückenakt und folgt ihm ins Wasser. Besonders sinnig war der dreifache Schluß einer anderen Aufführung. Hier flieht Johannes erst mit der Studentin, erschießt sich dann und kehrt zuletzt zu seiner Frau zurück. Drei Möglichkeiten, dem Publikum quasi zur Auswahl angeboten. Doch wer das Stück nicht kennt, wird verwirrt.
In den „Einsamen Menschen“, die ich letztens sah, stark gestrafft und mit mancherlei Gags verziert, wird viel gelacht, Johannes gibt fast eine Witzfigur ab. Der Tod im Wannsee wird daher gestrichen, dafür fällt sein Freund, der Maler Braun, über die Studentin her. In „Theater heute“ (5/2004) wird eine andere „ratzeputzkurze Inszenierung“ vorgestellt. Sie weiche den offensichtlichen Schwierigkeiten beim Umgang mit Hauptmann wenigstens offen aus, streiche den Tragödienschluß ganz zu recht. Der Kritiker Robin Detje bekennt, „es ist eine Restwirklichkeit, die wir sehen“.
Probleme mit Hauptmanns Tragik offenbart auch eine neue Aufführung von „Vor Sonnenuntergang“: Sie ist mit zahlreichen Gags, Slapsticks und Turnereien angereichert. Die Mitglieder der Familie Clausen werden fast alle karikiert, ein Seitensprung fix vorexerziert. Schon in der Pause war der treffende Kommentar einer Schauspielerin zu hören: „Affentheater“. Der 70jährige Geheimrat Clausen, ein kultivierter Unternehmer und Goethe-Kenner (gestrichen) wird mit einem Nashorn parallelisiert, das auch als Papp-Plastik auf der Bühne steht, Plakat und Programmheft ziert (von wegen dicker Panzer?). Dazu paßt kaum, daß ihn seine Angehörigen wegen seiner Heiratsabsichten aus Habgier in den Tod treiben. Der wird dann auch tragikomisch auf der Festtafel zelebriert. Doch danach reckt Clausen sich wieder hoch, tanzt symbolischen Sieg mit hochgestoßener Faust. Tableau! Ob dieser Art von Wiederauferstehung klatscht das Publikum begeistert.
Einen besonderen Einfall hatte der Regisseur einer Hamburger Aufführung der Komödie „Der Biberpelz“. Sie dauerte nur zwei Stunden, dann war Mutter Wolffen tot, erwürgt von ihrem Mann (in einer Komödie? Und „Der rote Hahn“?). Das kämpfende Proletariat verzehrt sich selbst (statt gegen die Reichen vorzugehen), das sollte wohl die Botschaft sein.
„Die Weber“, nach Brecht ein „Standardwerk des Realismus“, in dem das Proletariat die Bühne betritt, bereitete daher besondere Schwierigkeiten. Die Castorf-Bearbeitung in der Volksbühne, wo die Weber durch heutige Arbeitslose ersetzt werden, und das „zeitgenössische“ Weber-Spektakel in Jena hätte Margarete Hauptmann sicher auch als „sinnentstellend“ untersagt. Weder der Bühnenvertrieb Felix Bloch Erben noch die Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft können diese Kontrollfunktion ausüben.
Heute müssen Gerichte sich damit befassen – ein Kommentar dazu findet sich oben (im gedruckten Heft: Seite 17). Es wird aber wohl bei solchen Regie-Einfällen bleiben, falls die Theater nicht zu größerer Autorentreue zurückfinden.
H. D. Tschörtner (KK)

 

Abseits, jedoch nicht im Abseits
Ausstellungen von Gabriele Grützbach-Hornig und Luisa Schatzmann
Einst veranstalteten Museen und Kunstvereine in ihren Räumen zeitgenössischen Künstlern Retrospektiven, Einzel- und Gruppenausstellungen. Im Zuge der Wirtschaftskrise wurden sie immer mehr eingeschränkt. Die Galeristen klagen über sinkende Umsätze. Daß auf Auktionen  immer noch phantastische Preise gezahlt werden, steht auf einem anderen Blatt. In jüngster Zeit wächst allerdings auch die Kategorie jener Mäzene, die lebenden Künstlern Ausstellungen veranstalten, ohne finanziellen Nutzen daraus zu ziehen. Orte dieses Mäzenatentums: Praxisräume von Ärzten und Rechtsanwälten, Geldinstitute, Buchhandlungen und Bibliotheken.
Nach einer Ausstellung mit informellen Gemälden des Westpreußen Bernard Schultze präsentiert die international renommierte Anwaltspraxis, Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft Linklaters, Oppenhoff und Rädler zu Köln derzeit mehr als 100 Gemälde und Grafiken von Luisa Schatzmann. Nach dreißigjähriger Tätigkeit als Redakteurin verläßt die gebürtige Schlesierin Gabriele Grützbach-Hornig den Westdeutschen Rundfunk, um sich ganz ihrem künstlerischen Schaffen zu widmen. Zu ihrem Abschied veranstaltet der WDR in seinen Räumen am Kölner Appellhofplatz der Redakteurin, Malerin und Schriftstellerin eine Gesamtschau ihrer Gemälde.
Luisa Schatzmann, die als Kind mit ihren Eltern viel unterwegs war, setzte als Künstlerin ihre Reisen und Studienaufenthalte im In- und Ausland fort. In Spanien und der Schweiz, in Italien und Frankreich, in den Vereinigten Staaten und in Mexiko, Japan, Israel und Ägypten holte sie sich ihre Anregungen. Mythisches und Musikalisches fand Eingang in ihre abstrahierenden Gemälde. Die Ehefrau des Juristen Dr. Wolfgang Kaske aus Ostpreußen erweiterte ihren Gesichtskreis auch nach Osteuropa. Erfreut folgte sie den Einladungen zu Einzelausstellungen nach Königsberg (Kaliningrad), St. Petersburg und Nowgorod. Den Höhepunkt ihrer jetzigen Kölner Ausstellung bieten die Rundbilder (Acryl auf Holz), Kompositionen aus leuchtenden Farben und rhythmischen Bewegungen, die in die dunkle Gegenwart strahlen. Diese jüngsten Arbeiten bewegen sich wie die Musik in „absoluten“ Gefilden.
Gabriele Grützbach-Hornig, die Schriftstellerin, die 1979 den Erzählerpreis des Ostdeutschen Kulturrates erhielt und 1981 Stadtschreiberin von Bad Harzburg war, äußert sich gerne auch über ihr bildnerisches Schaffen. „Wichtig sind mir die Idee, die Technik, die Ästhetik.“ Damit rückt sie ab vom Prinzip Zufall, dem man heute in der deutschen Kunstszene zuweilen eine besondere Rolle einräumt.
Sie beherrscht das künstlerische Handwerk souverän. 1988 entwickelte sie die Technik der Faltungen, eine ganz und gar originelle Erfindung. Diese Gebilde entstehen aus Fotografien und Abbildungen gegenständlicher Motive und werden in gegenstandslose Gemälde eingefügt. „In einer Zeit, in der alles offengelegt wird, möchte ich durch die Faltungen verbergen, verformen, verstecken, verfremden. Ich will den Betrachter anregen zum Finden, Forschen, Phantasieren. Die Details in den meist überarbeiteten Faltungen zu erkennen ist die Mühe und Aufgabe des Betrachters – natürlich appelliere ich auch an seine Neugierde.“
Die Faltungen, in den Gemälde-„Kontext“ integriert und beleuchtet, tragen mit Licht-und-Schatten-Effekten zu dessen Lebendigkeit bei. Die Malerin, die an der Universität Köln auch Kunstgeschichte studierte, hat natürlich besondere Bezüge zu Rubens, Brueghel, Renoir, Klimt, Chagall und anderen Meistern. Ihre Namen tauchen – zumeist als „Hommage“ – in den Titeln der Exponate auf. Die Künstlerin ließ sich von deren Porträts, von Tieren und Landschaften inspirieren und gelangte durch konsequentes Abstrahieren nicht selten zu gegenstandsfreien Kompositionen, und das mit einer hellen Farbpalette bis hin zu sonoren dunklen Akkorden. Spannungen werden auch durch pastos aufgetragene Ölfarben und flächig bemalte Rechtecke erzeugt: informelle und konstruktivistische Gegensätze, ohne daß die reine Geometrie etwa der russischen Suprematisten angestrebt würde.
Vor zehn Jahren stellte Gabriele Grützbach-Hornig übrigens als erste deutsche Künstlerin im Zentralen Künstlerhaus Moskau erfolgreich aus, davor waren ihre Arbeiten in Breslau, Glogau, Görlitz und Ratibor zu sehen gewesen. Jetzt können sich nicht nur die Mitarbeiter des WDR mit ihrer Kunst auseinandersetzen, sondern auch all jene, die sich von der Kölner Schlesierin bei ihrer Neugierde gepackt fühlen.
Günther Ott (KK)

Geben und geben
Das dritte Jahr der West-Ost-Künstlerwerkstatt in Düsseldorf
Dem alten Sinnwort vom Geben und Nehmen stellt die seit 2002 bestehende Künstlerwerkstatt im Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus ein „Geben und geben“ gegenüber. Gemeint ist der Austausch von Gedanken, Ideen, Findungen und Bestätigungen im Bereich der künstlerischen Kreativität. Bei Veranstaltungen, Stammtischen und Atelierbesuchen kommen Maler, Bildhauer, Kunstfotografen, Musiker und Schriftsteller zusammen, ohne Mitgliedsbuch und -beitrag und ohne Präsenzzwang, ausgestattet jedoch mit dem Willen zu einer aktiven Gegenseitigkeit.
Die Frage nach dem Zweck könnte sich stellen. Sie wird beantwortet mit dem Hinweis auf bisher drei große Herbstveranstaltungen mit Musik, bildender Kunst und Literatur im Ausstellungssaal der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus in der Düsseldorfer Bismarckstraße. Gewiß wären diese aufwendigen Inszenierungen ohne die organisatorische Hilfe der Stiftung nicht denkbar, aber es ist zuletzt doch die Leistung der „Werkstatt“, den Saal mit Kunst und auch mit Publikum zu füllen, das ja bekanntlich nur dort erscheint, wo ihm entsprechend seiner Erwartung etwas geboten wird.
Wieder waren es Musik, die schönen Künste und Literatur, die im Zusammenspiel den Novemberabend 2004 im Gerhart-Hauptmann-Haus erlebniswert gestaltet haben. Die anspruchsvolle musikalische Umrahmung umfaßte Variationen über ein Thema von Corelli (Tartini, Kreisler), die Totentanz-Melodie aus der Musik zu Carl Hauptmanns Märchendrama „Die armseligen Besenbinder“ von Heinz Tiessen und Robert Schumanns Violinsonate Nr.1 in a-Moll. Ausführende waren Klaus Peter Diller, Violine, und Gabor Antalffy, Klavier. Die Ausstellung zeigte Holzschnitte von Werner Reuber, Acrybilder und Serigrafien von Ulla Dretzler, Zeichnungen von Reinhardt Schuster und Skulpturen von Hans-Joachim Albrecht.
Die Schriftsteller lasen kurze Texte zum Thema bildende Kunst, die zum Teil auf die Exponate im Saal eingingen oder von ihnen ausgingen und so ein dichterisches Mosaik mit konkretem Bezug ergaben. Es lasen Barbara Ming, Uwe Erwin Engelmann, Elisabeth Esch, Franz Heinz, Gepa Klingmüller und Horst-Hardi Semrau – neben den Autoren der „Werkstatt“ auch Gäste aus den Literaturkreisen ERA, Ratingen, und „Lesen im Atelier“, Düsseldorf. Es ist ein erklärtes Anliegen der „Werkstatt“, die Arbeitskontakte auszuweiten, indem sie nicht nur das Gespräch mit anderen Gruppen sucht, sondern diese auch in ihr Programm einbindet.
Vorausgegangen waren mehrere Zusammenkünfte, die sogenannten Stammtische, die vor allem dem Gespräch dienen, der Planung von Aktionen, aber auch der konkreten Auseinandersetzung mit Gestaltungsfragen, Welterfahrung und künstlerischer Verwirklichung. Marie-Luise Salden berichtete über ihre Begegnung mit der Delphin- und Kunst-Therapie während eines längeren Aufenthaltes in Westaustralien, ausgehend von dem Gedanken, „die Umrisse eines anderen Bewußtseins auf diesem Planeten zu erfassen“. Anders wieder Reinhardt Schuster, der zu einem Gespräch vor seiner monumentalen Wandgestaltung in der Tordurchfahrt des Luftschutzbunkers in der Aachener Straße in Düsseldorf eingeladen hatte. Die Arbeit geht auf eine Anregung des Ratsherrn Bruno Schnabel zurück, der sich die „Aufhellung“ des tristen Tortunnels wünschte. Reinhardt Schuster entwickelte darüber hinaus eine gegenwartsbezogene dreiteilige Komposition, die für jeden lesbar ist, der das Tor durchschreitet – vorausgesetzt, er nimmt sich dafür ein wenig Zeit. Kunst im öffentlichen Raum aber wirkt, als wäre sie gewachsen, auch an sich, selbst wenn sie einen Gegenpol zur Umgebung setzt. Reinhardt Schusters Wandgestaltung am Bunker in der Aachener Straße ist eine gedankliche Fortsetzung des Zweckbaus aus dem Krieg. Sie sprengt die Bedrohung, indem sie diese ins Sinnlose verkehrt. Schuster entwickelt einen sehr persönlichen künstlerischen Ausdruck in der Ablehnung von Gewalt und folgt zugleich einem Denkvorgang, der heute Allgemeingut geworden ist. In einer der nächsten Ausstellungen der  „Werkstatt“ soll die Entstehungs- und Ausführungsgeschichte der Arbeit veranschaulicht werden.
Obwohl die große Herbstveranstaltung das zentrale Ereignis der „Werkstatt“ ist, erfaßt ihr Radius einen größeren und vielfältigeren Bereich, gekennzeichnet von der Eigenständigkeit des jeweiligen Künstlers. Helga von Berg-Harder, zuletzt als Malerin in Erscheinung getreten, hat mit einer neuen Serie Foto-Kunst wieder auf sich aufmerksam gemacht; Horst-Hardi Semrau nahm an der Ausstellung „Kunstpostkarte NRW“ in Duisburg teil; Veronika Dreichlinger veranstaltete in Jülich-Bourheim die dort bereits traditionelle Dezember-Matinee, an der diesmal auch Gäste aus Rumänien teilnahmen; Ingmar Brantsch veröffentlichte sein neues Buch „Goethe und Heine hinter Gittern“; Franz Heinz bereitet gemeinsam mit dem Rundfunk die Produktion seines neuen Hörspiels „Seniorenrepublik“ vor; Renata Schumann veröffentlichte bei Langen Müller den Roman „Der Piastenturm“; Johannes Hinz nahm mit grafischen Arbeiten am Ostdeutschen Weihnachtsmarkt im Gerhart-Hauptmann-Haus teil; Klaus Diller und das Rheinische Bach-Collegium konzertieren mit Erfolg; Oskar Gottlieb Blarr ist um die musikalische Annäherung zu Ostpreußen bemüht.
Geben und geben – das bedeutet im Verständnis der „Künstlerwerkstatt“ auch den Ausbau der Kontakte zu anderen künstlerischen Gruppierungen. Zu den Literaturkreisen in Ratingen, Kali-Steinfeld und „Lesen im Atelier“ in Düsseldorf bestehen ergiebige Arbeitsbeziehungen, aber auch Köln, Bonn, Dortmund, Jülich und Wien gehören zum Kontaktbereich der „Werkstatt“, die nun vorhat, ebenso in Ungarn und Rumänien Ansprechpartner zu finden. Dabei soll das nicht unbeachtet bleiben, was in unmittelbarer Nachbarschaft vorhanden ist und nicht nur im weiteren Sinn zum Interessenbereich gehört. Dazu zählen nicht zuletzt die rußlanddeutschen Kulturverbindungen, die gerade im Gerhart-Hauptmann-Haus so unbekannt nicht sind. Über das alles wird nachzudenken und beim nächsten Stammtisch zu reden sein. Er findet im Atelier von Horst-Hardi Semrau in Duisburg statt, wo die Richtpunkte für das Jahr 2005 zu setzen sind.
Franz Heinz (KK)

 

KK-Notizbuch

Breslau/Wroclaw – Eine Stadt mit zwei Seelen: Das ist das Thema eines literarisch-geschichtlichen Gesprächs, das Hajo Jahn, der Vorsitzende der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft in Wuppertal, der Germanistikprofessor Marek Zybura von der Universität Oppeln und der Autor Jürgen Serke am 25. Februar, 19.30 Uhr, im Polnischen Institut Düsseldorf führen werden.

In der Reihe „Erlebte Geschichte“ des Münchner Hauses des Deutschen Ostens befaßt sich am 17. Februar, 19 Uhr, Helga Hirsch mit dem Schicksal von Frauen und Männern aus den deutschen Ostgebieten, die 1945 als Kinder vertrieben wurden.

Am 24. Februar liest Richard Wagner im Münchner Institut für deutsche Geschichte und Kultur Südosteuropas aus seinem neuen Roman „Habseligkeiten“.

Die Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus veranstaltet in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Ostdeutscher Museen, Heimatstuben und Sammlungen in Nordrhein-Westfalen vom 31. Mai bis zum 9. Juni eine kulturpolitische Studienreise nach Litauen, Lettland und Estland. Anmeldungen nimmt das Gerhart-Hauptmann-Haus unter Telefon 02 11 / 1 69 91 18 entgegen.

Am 9. und 10. Februar veranstaltet die Senioren Akademie Lübecker Bucht in der Ostsee-Akademie in Travemünde das Seminar „Das Land am Bernsteinmeer – Litauen“. Anmeldungen unter Telefon
0 45 02/ 80 32 03.

Das Gerhart-Hauptmann-Haus und das Westpreußische Landesmuseum Münster zeigen in Düsseldorf bis zum 28. Februar eine Ausstellung über Jo Mihaly, die aus Westpreußen stammende Tänzerin, Schriftstellerin und Künstlerin der Weimarer Republik.
(KK)