KK 1193
10. November 2004


INHALT

Renata Schumann
Preisverleihung zum Erzählerwettbewerb des OKR   2
Roswitha Wisniewski
Eberhard Günter Schulz zum 75. Geburtstag 3
Ingmar Brantsch
Tagung über Minderheiten im kommunistischen Rumänien   5
Dieter Göllner
Ostdeutscher Markt auf Schloß Burg  8
Bertelsmann Stiftung eröffnet Jugendbibliothek in Allenstein    8

Bücher und Medien   9

Literatur und Kunst
Marie-Luise Salden
Erfahrungen mit der Delphin- und der Kunst-Therapie 13
Günther Ott
Zum 75. Geburtstag der Malerin Edith Groß 17
Eckard Alker
An die Besucher seiner Ausstellung in Ratibor 18
Herbert Hupka
Befremdlich: Hauptmanns Drama „Vor Sonnenuntergang“ in Berlin 19
Peter Mast
Luzian Geier porträtiert den Tenor Joseph Schmidt 21
Stamitz-Preis der Künstlergilde für Helmut Scheunchen 22

KK-Notizbuch   23


Wider das Vergessen
Die Stiftung Ostdeutscher Kulturrat verleiht die Preise ihres Erzählerwettbewerbs im Bonner Haus der Geschichte
Nur der Mensch besitze die Gabe des Erinnerns, so der Präsident des Ostdeutschen Kulturrates, Professor Eberhard Günter Schulz, zur Eröffnung der Feierstunde zur Preisverleihung des OKR-Erzählerwettbewerbes, die am 23. Oktober im Haus der Geschichte zu Bonn stattfand. Er bezog sich dabei auf den Ausspruch Friedrich Nietzsches, der diese Ausage mit der Feststellung ergänzte, das Tier dagegen sei an den Pflock des Augenblicks gebunden.
Professor Roswitha Wisniewski, die Vorsitzende der Jury, wies in ihrem einleitenden Vortrag darauf hin, daß es mit der Erinnerungskultur in Deutschland nicht zum besten bestellt sei. Sie zitierte Péter Esterházy, der den diesjahrigen Frankfurter Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat. Der ungarische Schriftsteller bekundete in  seiner Dankesrede,  daß Deutschland in der Aufarbeitung eigener Vergehen im 20. Jahrhundert Beispielhaftes geleistet habe, aber auf Kosten des Verschweigens eigenen Leides. Die Deutschen haben ihre Vergehen beim Namen genannt, die eigenen Leiden aber haben sie nicht beim Namen genannt – so Esterházy.
So ist es zu begrüßen, daß der Erzählerwettbewerb des OKR, der auch zum Ziel hat, die millionenfache Erinnerung an den Schmerz von Flucht und Vertreibung festzuhalten und so für künftige Generationen zu bewahren, nach fünfjähriger Pause wiederaufgenommen wurde. Es war der 25. Wettbewerb, der unter dem Motto „Leben nach dem Überleben. Not und Armut als Folgen von Flucht und Vertreibung“ stand.
Es sei etwas Besonderes um das Bedürfnis, traumatisierende Erlebnisse zu erzählen, meinte der die Lesung der Preisträger moderierende Redakteur Georg Aescht. Und diesen Eindruck hatten auch viele der Zuhörer, von denen die meisten zur Erinnerungsgemeinschaft gehörten, wie Roswitha Wisniewski sie genannt hatte.
Als Zuhörer fragte man sich, wie es kommt, daß eine sechzigjährige Frau, die keine Berufsschriftstellerin ist, so plastische Bilder aus ihrer Kindheit zeichnet wie Monika Brands, die den zweiten Preis erhielt. Sie erzählt, wie ihre Mutter gezwungen wurde, mit drei kleinen Töchtern Breslau zu verlassen. Nach einer überaus dramatischen Odyssee wurden sie in ein Dorf  im Sauerland eingewiesen und bekamen eine Stube, in der sich nichts befand – sogar die elektrische Birne war ausgedreht worden. Die erschöpfte Frau „nahm das Rucksäckchen ab, nach einer kleinen Weile lehnte sie sich an die Wand, und langsam, ganz langsam rutschte sie die Wand entlang hinunter auf den Boden, wo sie kauernd sitzen blieb“. 
Wie der Stoff zu einer antiken Tragödie mutet das Schicksal an, das Dieter Grau zu erzählen hat. Es ist der Lebensbericht eines Ostpreußen, der in der letzten Zeit des mörderischen Krieges durch eine Kopfverletzung sein Augenlicht verloren hat. Aus der Verzweiflung rettet ihn eine Verzweifelte – ein Mädchen aus seinem Dorf, das, mehrfach vergewaltigt und nach dem dramatischen Verlust des Vaters und der beiden Schwestern, einem Mann nicht mehr in die Augen blicken kann. Sie gründen eine glückliche Familie.
Literarisch gekonnt aufgearbeitet die Geschichte von Eva Filip (erster Preis), die die Flucht einer jungen Frau aus dem kommunistischen Rumänien schildert, bei der ihr Freund ums Leben kommt. Die Journalistin kann nicht vergessen und begibt sich nach Jahren auf die Spurensuche in ihre Heimat.
Die Auswahl der preisgekrönten Arbeiten erfolgte aus einer großen Zahl von Einsendungen, von denen nicht wenige ähnlich hervorzuheben wären, unterstrich Professor Roswitha Wisniewski. Die Jury hatte eine schwierige Aufgabe, die besten auszuwählen, eine Publikation mit weiteren Geschichten steht bevor.
Das fand Zustimmung im Auditorium. Man konnte sich während dieser Veranstaltung dem Eindruck nicht entziehen, daß es wünschenswert wäre, Geschichten zusammenzufügen zu einem unendlichen mahnenden Panorama einer grausamen Zeit, die unzählige Menschen das Leben kostete und unendliches Leid über so viele andere brachte, erzählt von Menschen, die ihr Leben lang nicht vergessen können.
Somit fiele dem traditionsreichen Erzählerwettbewerb des OKR eine ganz besondere Rolle in unserer zunehmend geschichtsvergessenen Zeit zu. Denn Erinnern ist nicht nur eine menschliche Fähigkeit, sondern auch eine moralische Verpflichtung der Überlebenden. Eine Schicksalsgemeinschaft, die sich vom Erinnern der eigenen Leiden abwendet, beraubt sich selbst ihrer Zukunftsfähigkeit.
Renata Schumann (KK)


Ein Präsident, der nicht vorsitzt, sondern vorarbeitet
Eberhard Günter Schulz zum 75. Geburtstag
Vielleicht wurden Weite des Gesichtsfeldes, lebhaft strömende Geistigkeit und immerwährende Beharrlichkeit dem Jubilar in die Wiege gelegt, weil er an der Oder geboren wurde; denn dieser Strom verbindet als eine der wichtigsten Wasserstraßen seit Jahrtausenden das nördliche und das südliche Europa und trennt und verbindet zugleich überbrückend den Weg von Westen nach Osten und umgekehrt. Der Strom erlegt damit seinen Anwohnern Einsatzbereitschaft und Weltläufigkeit geradezu auf.
Der am 27. Oktober 1929 in Neusalz, heute Nova sól, an der Oder geborene Eberhard Günter Schulz hat diesen Auftrag voll angenommen. Er wurde Professor an der nordrhein-westfälischen Universität Duisburg, wählte den Königsberger Immanuel Kant zum zentralen Forschungsgebiet und gilt als renommierter Spezialist in diesem Bereich. Er blieb seiner Heimat Schlesien treu durch seinen Einsatz für das Kulturwerk Schlesien mit Sitz in Würzburg und die Weiterführung des schlesischen Bergstadtverlags W. G. Korn, den er im westlichen Deutschland neu ansiedelte und als Aufsichtsratsvorsitzender betreut.
Seit dem Jahr 2000 steht er als Präsident an der Spitze der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, die ihren Sitz in Bonn hat und sich überregional dem Anliegen widmet, die deutsche Kultur und Geschichte in den historischen deutschen Ostgebieten und den deutschen Siedlungsgebieten im östlichen Europa im kulturellen Bewußtsein des Inlandes und des Auslandes zu erhalten.
Dieses Anliegen findet seinen besonders sinnfälligen Ausdruck in der Ausstellung „Große Deutsche aus dem Osten“, die auf die Initiative und die maßgebliche Mitarbeit von Eberhard Günter Schulz zurückgeht. Seit 1993 konnte sie schon an vielen Orten des In- und Auslandes gezeigt werden. Der Ausstellungsleiter gab dazu ein reich bebildertes Begleitbuch heraus, das zusammen mit den Exponaten die Botschaft von den teilweise bahnbrechenden Leistungen der Deutschen aus den ehemals in ihrer Obhut befindlichen Gebieten eindrucksvoll verkündet.
Die Führung des Ostdeutschen Kulturrats wurde Professor Eberhard Günter Schulz in einer besonders schwierigen Phase übertragen. Als im Jahr 2001 die institutionelle Förderung durch die Bundesregierung eingestellt wurde, bedeutete dies Entlassungen und andere schmerzhafte Eingriffe, damit die notwendigen Ausgaben der Stiftung allein aus den Vermögenseinkünften, dem Ertrag der Veröffentlichungen und den – leider nur spärlich fließenden – Spenden bestritten werden können. Zum Glück besitzt der Präsident ein bei einem Geisteswissenschaftler überraschendes Geschick im Umgang mit der Vermögensverwaltung, so daß es ihm gelungen ist, trotz der katastrophalen Entwicklung auf dem Kapitalmarkt „das Schiff über Wasser zu halten“ und die von seinen Vorgängern mit großer Einsatzbereitschaft und viel Sachverstand begonnene Arbeit erfolgreich fortzusetzen: Die „Kulturpolitische Korrespondenz“ kann weiterhin erscheinen, die Studienbuchreihe kann ihrem Abschluß zugeführt werden, mehrere Veranstaltungen konnten, auch grenzüberschreitend, durchgeführt werden, und schließlich konnte sogar der traditionsreiche Erzählerwettbewerb wiederaufgenommen und zum 25. Mal mit einer vielbeachteten Preisvergabeveranstaltung abgeschlossen werden. Alle diese Leistungen sind angesichts der bestehenden Finanzsituation keineswegs selbstverständlich und sollen deshalb mit besonderer Dankbarkeit gegenüber dem Spiritus rector erwähnt werden, der es auch glänzend versteht, seine wissenschaftlichen Kontakte zu in- und ausländischen Fachkollegen immer wieder für die Belange des Ostdeutschen Kulturrates einzusetzen.
Erwähnt sei auch, daß Eberhard Günter Schulz als Präsident des Ostdeutschen Kulturrates ein wesentliches Verdienst daran zukommt, daß eine Arbeitsgemeinschaft mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen ins Leben gerufen werden konnte. Sie hat erste positive Ansätze in der so überaus notwendigen Zusammenarbeit bei der Bewahrung der Erinnerung an die kulturellen Leistungen der Menschen in und aus den Vertreibungsgebieten vorzuweisen.
Angesichts des beeindruckenden Lebenswerkes von Eberhard Günter Schulz bestehen bei den vielen, die dies zu würdigen wissen, der Wunsch und die Hoffnung, daß es ihm vergönnt sei, „noch viele Tage und Jahre seines Lebens zu opfern“ – wie er gern zu sagen pflegt –, um sein notwendiges und erfolgreiches Wirken für die ostdeutsche Kulturarbeit fortsetzen zu können.
Dafür und für sein persönliches und familiäres Wohlergehen darf ich ihm auch im Namen der Mitglieder aller Organe der Stiftung, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Freunde des Ostdeutschen Kulturrates die herzlichsten Glück- und Segenswünsche aussprechen. Ad multos annos, lieber Herr Schulz!
Roswitha Wisniewski (KK)


Siebenbürgen als stalinistische Fiktion
Zur 40. Jubiläumstagung des Arbeitskreises für siebenbürgische Landeskunde über Minderheiten im kommunistischen Rumänien
Die 40. Jahrestagung 2004 stand unter dem dramatischen Zeichen der Streichung aller Subventionen Nordrhein-Westfalens, des Patenlandes der Siebenbürger Sachsen, das Ende September 2003 seine Kulturförderung eingestellt hat. Die äußerst angespannte Haushaltslage in NRW stellt nun diesen erstaunlich großen Arbeitskreis mit 760 Mitgliedern aus Deutschland und Rumänien vor schier unlösbare Aufgaben. Auch die bisherigen Aktivitäten erfolgten überwiegend ehrenamtlich, nun ist der Kreis fast ganz auf das Engagement und die Spendenbereitschaft der Mitglieder sowie seiner Freunde und Förderer angewiesen. Über die Stiftung Siebenbürgische Bibliothek wird versucht, die Geschäftsstelle in Gundelsheim zu retten. Von anfänglich fünftausend Büchern ist die Siebenbürgische Bibliothek im Verlauf von fünf Jahrzehnten auf siebzigtausend Bücher angewachsen, die über das Bibliotheksnetz bundesweit zur Verfügung gestellt werden. Nicht auszudenken, wenn dieses geistige Potential verlorenginge. Der am 12. September neu gewählte Vorstand steht nun vor der schweren ehrenamtlichen Aufgabe für Mai 2005, die 50-Jahr-Feier der Siebenbürgischen Bibliothek zu ermöglichen.
Auf welch hohem Niveau dieser Arbeitskreis tätig ist, beweist auch sein diesjähriges Tagungsprogramm.
Im Plenum hielt der Dozent der Germanistik der Université de Nantes, Patrice Neau, einen Vortrag voller anteilnehmendem Interesse über „Das Bild der Siebenbürger Sachsen in Erwin Wittstocks Roman ,Januar '45 oder Die höhere Pflicht‘“, der die Deportation der rumäniendeutschen Bevölkerung in die Sowjetunion behandelt. Im Roman wird das Vorfeld der Deportation, die „Aushebung“, wie es die Siebenbürger Sachsen nannten, beleuchtet. Die Personen des Romans unternehmen verzweifelte Versuche, der Deportation zu entgehen, die zumeist untauglich sind, da die Loyalität der Siebenbürger Sachsen eher obsiegt, eine Loyalität, die bei Wittstock sogar eine ethische Dimension besitzt und eine überzeugende Kontrastwirkung zum Kollektivschuldvorwurf entfaltet.
Über Minderheitenrechte waren im Plenum gleich zwei sehr aufschlußreiche Vorträge zu hören: von Harald Schenker über „Minderheitenrechte im Vergleich. Rumänien und der europäische Ostblock 1945-1964“, und Günther Tontsch über „Das Minderheitenstatut von 1945. Zum Schicksal eines rumänischen Minderheitenschutzgesetzes im Stalinismus und darüber hinaus“. Cornelius R. Zach referierte über die „Notwendigkeit des Terrors“ für die „Effizienz des kommunistischen Staates“.
Anton Sterbling bot einen Beitrag zum „Stalinismus in den Köpfen“. Er zeigte, wie stark in der sehr kleinen rumänischen kommunistischen Partei (zu Anfang nicht einmal zweitausend Mitglieder) die nationalen Minderheiten Ungarn, Juden, sogar einige Deutsche vertreten waren und wie ernst man in Rumänien gleich nach dem Krieg die nationalen Minderheiten und die Intellektuellen, die „Kopfarbeiter“, nahm. Sterbling erläuterte, wie der stalinistische Totalitarismus mit seiner penetranten Ideologie alle Denkalternativen kappte und wie er allen ein geschlossenes Weltbild aufzuzwingen versuchte. Dies ging manchmal so weit, daß auch das Denken der Gegner des Stalinismus an die Prämissen der Ideologie dieses Systems angebunden werden konnte. Im neostalinistischen Nationalkommunismus Ceausescus in den siebziger und achtziger Jahren sind die Kontinuitätselemente des Stalinismus weiterhin auszumachen: „klassenkämpferische“, egalitäre, gesellschaftsnivellierende Bestrebungen. Selbst wenn die Nation wieder stärker betont wird, was einen alternativ differenzierenden Aspekt hätte bringen können, wird dieser zunichte gemacht dadurch, daß nun die Minderheiten wieder stärker unter Druck geraten.
Eine besondere Situation ergab sich im Stalinismus Rumäniens dadurch, daß die deutsche Minderheit durch die Sonderbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Rumänien – 1967 hatte Rumänien als erstes Ostblockland die diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik aufgenommen – eine Ausreiseoption erhielt. Der Verkauf der deutschen Untertanen wurde für die Ceausescu-Diktatur zu einer sprudelnden Einnahmequelle. Ab Ende der 70er Jahre reisten jährlich bis zu 10 000 Abgekaufte aus.
Den eigentlichen Schwerpunkt der Tagung bildeten die Sektionssitzungen in drei Gruppen.
In der Gruppe Minderheiten referierte Hannelore Baier über „Die Rechtsstellung der Deutschen in Rumänien 1944-1952 im Lichte neuer Archivforschung“, Ferenc Csortfin sprach über Situation der Magyaren 1944-1960 (hier behandelt er vor allem auch die kurzlebige Autonome Ungarische Region in Rumänien). Lucian Nastase hielt das Referat über Juden und Roma in Rumänien nach 1945, und László Hollo untersuchte die katholische Kirche des römischen, des griechischen und des armenischen Ritus in Rumänien nach 1945/48.
Auch die Gruppe Kulturgeschichte hatte mit neuen Ergebnissen aufzuwarten. Manfred Wittstock sprach unter dem Titel „Von Diktatur zu Diktatur“ über Künstler und Kunsthandwerker 1944-1963, Gudrun Liane Ittu über „Bewußtseinsbildung im Vordergrund. Das kulturelle Leben der deutschen Minderheit in Rumänien von 1944-1958 im Spiegel der deutschsprachigen Publikationen“, und Hans Gerhard Pauer über „Die Minderheitenschulpolitik im stalinistischen Rumänien und ihre praktische Durchführung. Das Beispiel der Stephan-Ludwig-Roth-Schule in Mediasch (1948-1964)“.
Den größten Zuspruch unter den drei Arbeitsgruppen fand erwartungsgemäß die Literaturgeschichte. Selbst heute nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Aufgehen der DDR-Literatur in der gesamtdeutschen hat die ehemals „fünfte“ deutsche Literatur, die der Rumäniendeutschen, noch immer eine beachtliche überregionale Bedeutung und ist gewissermaßen die Weiterführung einer ostdeutschen Literatur in die Transformationszeit hinein. Diese allerneueste Phase wurde allerdings noch nicht mit der für die rumäniendeutsche Literaturkritik gewohnten Daten- und Sachbezogenheit ins Auge gefaßt. Dafür wurden einige erfreulich faktenreiche Referate vorgelegt.
Stefan Sienerth zeigte in seinem Vortrag „Stunde Null – Jahre Null: Die rumäniendeutsche Literatur zwischen 1944 und 1949“, daß selbst unmittelbar nach Kriegsende zwischen 1945 und 1948 in Rumänien Hermann Roths sieben „Hefte der Selbstbesinnung“ erscheinen konnten sowie Frieda Bender-Radlers 32 Gedichte in siebenbürgisch-sächsischer Mundart, Karl Brandschs Gedichtsammlung „Am Waldesrand, da bin ich oft gelegen“ und vor allem, literarisch bedeutsam, Adolf Meschendörfers „Siebenbürgische Geschichten“ aus den Jahren 1941-1946. Hinzu kamen die „Kirchlichen Blätter“ der evangelischen Kirche und die Veröffentlichungen der Schülervereinigungen, die „Coetusblätter“, da die deutschen Schulen auch nicht geschlossen worden waren.
Annemarie Weber wagte eine unkonventionelle Auseinandersetzung mit dem Stalinismus in ihrem Beitrag „Neue Gesellschaft – neuer Mensch – neue Kunst: Literatur und Lektüre im Zeichen des ,sozialistischen Realismus‘“. Sie zeigte vor allem die „sakralen“ Elemente in der (oft paranoid) kultischen Verehrung Stalins als Demiurg, der als Schöpfer einer neuen, seiner neuen Welt sowohl die Rolle des liebenden Allvaters wie die des Schreckens spielte. In dieser Sicht war der sozialistische Künstler nicht mehr ein (wenn auch dogmatischer, so doch kreativer) Schöpfer, sondern nichts anderes als ein Medium jenseits von Vergangenheit, Gegenwart und Geschichte, mit der einzigen Fähigkeit, Stalins Willen zu erraten. Dabei wurde auch das Typische zur Fiktion, das Volkstümliche wurde von Kadereliten geschaffen. Der visuelle Kitsch konnte so zum Träger elitärer Ideen avancieren, so daß nicht mehr das Sein das Bewußtsein bestimmte – wie von Marx gedacht –, sondern das Bewußtsein das Sein. Der sozialistische Realismus bildete hier das Nervensystem des stalinistischen Sozialismus mit einem eigenen religionsähnlichen allharmonischen Endzielheil.
Nach dieser frappierenden Sicht eines heilversprechenden „Überbaus“ auf einer in der Realität blutrünstigen und menschenverachtenden „Basis“ kam Georg Aescht wieder auf die harte Realität des Stalinismus zu sprechen. In seinem Vortrag „Schreiben, ohne ,rot‘ zu werden. Versuche rumäniendeutscher Schriftsteller, die Zensur zu umgehen“, zeigte er die Grenzen nicht bloß der künstlerischen Möglichkeiten, sondern vor allem der Veröffentlichungsmöglichkeiten am Beispiel rumäniendeutscher Autoren auf. Gerade dramatische Ereignisse wie der Schriftstellerprozeß 1959 warfen ihre Schatten auf die Gemütszustände nicht nur der unmittelbar Betroffenen, sondern auch der damit nur indirekt in Berührung Kommenden und veranschaulichen das Ausmaß eines Polizei- und Überwachungsregimes.
Der Beitrag von Peter Motzan, „Erdrosselte Hoffnungen.Vom ,ersten‘ Tauwetter zur ,zweiten‘ Eiszeit. Die rumäniendeutsche Literatur zwischen 1945 und 1959“, ließ den Tag mit gründlich recherchierten literarhistorischen Überlegungen zum abgrundtiefen Schrecken des Stalinismus – gerade in der Literatur der durch die Folgeereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg so verunsicherten und nicht grundlos verängstigten rumäniendeutschen Autoren – nachdenklich ausklingen.
Ingmar Brantsch (KK)



„Goldene Brücke“ auf dem Ostdeutschen Markt
Schloß Burg bei Solingen war erneut Schauplatz des Ostdeutschen Marktes, der vom BdV-Landesverband Nordrhein-Westfalen organisiert wurde.
Rund 400 Personen besuchten die nunmehr vierte Ausgabe der Veranstaltungsreihe, darunter Vertreter von Vertriebenenorganisationen sowie von Landsmannschaften und Vereinen. An den Ständen des „Bundes Junges Ostpreußen“ in der Landsmannschaft Ostpreußen, der Danziger, der Schlesier und des BdV wurden Informationsbroschüren, Land- und Heimatkarten, Bücher, Sonderbriefmarken, Stadtsiegel aus dem 13. und 14. Jahrhundert, Handarbeiten und nicht zuletzt kulinarische Spezialitäten aus den Herkunftsgebieten angeboten.
Die aus Wolhynien stammende Autorin Erna Wolz stellte den in diesem Jahr erschienenen zweiten Band ihres Buches „Klopf ruhig an“ vor, der „Heimatgedichte und Geschichten damals und heute“ enthält. Die von Alla Weber und Valentin Riedel betreute rußlanddeutsche Folkloregruppe „Goldene Brücke“ aus Hattingen bot ein Potpourri mit bekannten deutschen Volksliedern.
Dieter Göllner (KK)


Bertelsmann Stiftung eröffnet Jugendbibliothek in Allenstein
Die Bertelsmann Stiftung eröffnete im September 2004 gemeinsam mit der polnischen Stadt  Allenstein (Olsztyn) eine öffentliche Bibliothek, deren Informationsangebot speziell auf die Kommunikationsinteressen von Jugendlichen zugeschnitten ist. Czeslaw Jerzy Malkowski, Stadtpräsident von Allenstein, und Dr. Christof Eichert, Geschäftsleitungsmitglied der Bertelsmann Stiftung, übergaben die „Planeta 11“ ihrer Bestimmung. Die vom Dresdner Architekten Christian Schmidt entworfene Bibliothek liegt in direkter Nachbarschaft zum örtlichen Planetarium und nimmt daher kosmische Elemente in ihrer Innengestaltung auf. Bereits im Juni hatte die Bertelsmann Stiftung eine erste Jugendbibliothek in Breslau eröffnet. Für ihr Engagement zur Förderung des Bibliothekswesens in Polen stellt die Bertelsmann Stiftung bis Ende 2007 insgesamt rund eine Million Euro zur Verfügung.
Als besonderes Angebot für die Jugendlichen bietet die moderne Bibliothek in Allenstein eine umfassende Berufsberatung an. Sie soll künftig den Kern eines regionalen Bildungs- und Informationszentrums bilden. Internationale Kooperation mit Bibliotheken in Dänemark und Schweden ist geplant. Das Medienangebot besteht je zur Hälfte aus traditionellen und neuen Medien. Insgesamt stehen den jungen Kunden in der Allensteiner Bibliothek zehn Computerplätze zur Verfügung.
Die Bertelsmann Stiftung versteht sich als Förderin des Wandels für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Sie will Reformen in den Bereichen Bildung, Wirtschaft und Soziales, Gesundheit sowie Internationale Verständigung voranbringen.
Fragen an Andreas Henke unter Telefon 0 52 41 / 81-8 11 29.
(KK)


Bücher und Medien


Akademisch, aber nicht nur
Werkstätten der Moderne. Lehrer und Schüler der Breslauer Akademie 1903-1932. Hg. Stiftung Schlesisches Museum zu Görlitz. Katalog: Johanna Brade. Verlag Janos Stekovics, Halle/Saale 2004, 192 S., 14,80 Euro
Einige Jahre lang besaß Breslau für Maler, Graphiker und Bildhauer, Architekten und Kunstgewerbler eine Attraktivität, die sogar die so gern zitierte Anziehungskraft der Metropole Berlin ein wenig verblassen ließ. Die „Breslauer Akademie für Kunst und Kunstgewerbe“ stellte in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den sicherlich produktivsten und wertvollsten Beitrag Schlesiens zur neueren bildenden Kunst in Deutschland dar. Als die Breslauer Akademie aber infolge der wirtschaftlichen Notlage des Deutschen Reiches 1932 geschlossen wurde, fiel sie rasch dem fast völligen Vergessen anheim.
Die Erinnerung an eine sieben bis acht Jahrzehnte vergangene Epoche wurde erst durch den Kasseler Privatsammler Hans Peter Reisse wiedererweckt, einen Galeristen und Unternehmensberater, der über Jahrzehnte hinweg eine heute 2000 Stücke umfassende Sammlung von Kunstwerken von knapp 70 Breslauer Akademielehrern und ihren Schülern zusammentrug. Vor zwei Jahren war dem Schlesischen Museum zu Görlitz der Ankauf dieser Sammlung möglich, die ein Kernstück der Dauerausstellung im Schönhof in Görlitz, dem ältesten Renaissance-Bürgerhaus Deutschlands (Eröffnung Oktober 2005), werden wird. Der vorliegende Band liefert erstmals einen umfassenden Überblick.
Sammlung wie Begleitband besitzen einen deutlichen Schwerpunkt bei der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts und blenden den weitaus größten Teil der Geschichte der bereits 1791 gegründeten Akademie aus. Diese Konzentration aber hat ihren Sinn, denn der Band setzt dort ein, wo die Abkehr von der traditionalistischen Malerei, die dem konservativen Kunstgeschmack des deutschen Kaiserhauses verpflichtet war, begann und sich jene gemäßigt progressiven „Werkstätten der Moderne“ allmählich herausbildeten. Aufrührerisch-sezessionistische Gruppen mit schockierenden Kunstwerken und Aktionen fanden sich, wie der beste der sechs durchweg hervorragenden Textbeiträge, „Tradition contra Moderne“, erläutert, in Breslau nicht zusammen. Man zeigte sich, eher unpolitisch, von den lebensreformerischen Tendenzen der Jahrhundertwende, Jugendstil und Symbolismus, beeindruckt und pflegte zumeist einen moderat impressionistischen, an Max Liebermann erinnernden Stil, der weder zu modern noch zu anachronistisch war. Erst nach 1918 näherte man sich mit den neu berufenen Lehrern Oskar Moll und Otto Mueller der expressionistischen und abstrahierten Formenerfassung an. Mit Alexander Kanoldt und Carlo Mense schließlich fanden auch zwei namhafte Vertreter der Neuen Sachlichkeit in Breslau Gehör.
Nach Architektur, Kunstgewerbe und Skulptur, Malerei bzw. Handzeichnung sowie Druckgraphik ist das Buch übersichtlich strukturiert und mit weiterführenden Literaturhinweisen und Kurzbiographien sämtlicher vertretener Künstler großzügig ausgestattet.
Der Band stellt indes keinen Gesamtkatalog der akademischen Künstlerszene Breslaus dar, sondern bietet eine Auswahl aus der Sammlung Reisse. Was der Sammler aufgrund eines zu hohen Marktwertes oder mangelnder Angebote auf dem Kunstmarkt nicht erstehen konnte, kann ergo auch nicht in Ausstellung und Katalog präsentiert werden. So sind manche Lücken erklärlich, denn einige bedeutende Künstler mag man vermissen: Oskar Schlemmer fehlt ebenso wie einer der wichtigsten deutschen Architekten des 20. Jahrhunderts, Hans Scharoun, Professor in Breslau von 1925 bis 1932.
Einen besonderen Reiz gewinnen Sammlung wie Katalog durch den Umstand, daß nicht allein „Kunst aus Schlesien“ präsentiert wird, sondern zahlreiche Werke spezifisch schlesische Bezüge aufweisen. Der Architekt Hans Poelzig skizziert die Jahrhunderthalle, Alfred Nickisch malt in Öl eine Riesengebirgslandschaft, Hans Zimbal einen verschneiten Sturzacker in Wolfshau bei Krummhübel, von Max Wislicenus stammt eine winterlich weiße Oderansicht Breslaus, und Walter Eberhard Loch stellt die Breslauer Dominsel in ein klares, kaltes Mittagslicht.
Der Katalog im Quartformat umfaßt 171 Abbildungen, davon fünf Dutzend ganzseitig farbige. Der Preis ist, bedenkt man zusätzlich die hervorragende Papier- und Druckqualität, dank der Unterstützung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst, erfreulich niedrig. – Die Zusammenschau teils noch heute prominenter, teils zu Unrecht unbekannt gebliebener Künstler von Format stellt, in Verbindung mit der Einbettung in den zeitgeschichtlichen und kunsthistorischen Kontext, einen echten Genuß und Gewinn dar.
Zu bestellen ist der Katalog direkt beim Schlesischen Museum zu Görlitz: http://www.schlesisches-museum.de/html/publi.htm.
Martin Hollender (KK)


„Vertrieben“, „zwangsausgesiedelt“, „deportiert“
Thomas Urban: Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 2004, 223 S., 19,90 Euro
Der Autor Thomas Urban ist seit vielen Jahren als Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Polens Hauptstadt Warschau tätig, dank seines Studiums des Polnischen und Russischen mächtig, weshalb er auch eine kurze Zeit aus Moskau berichtet hat, und zugleich inzwischen über gründliche Kenntnisse der polnischen Geschichte, vor allem der Zeitgeschichte verfügend. Sein immer wieder zitiertes Buch „Deutsche in Polen“ erreichte bereits die vierte, sein Buch „Von Krakau bis Danzig“ mit Städteporträts aus deutscher und polnischer Sicht verzeichnete 2003 die zweite Auflage.
Auch das vorliegende Buch zeichnet der Grundsatz aus: „altera pars audiatur“. Wie sehen und beurteilen Deutsche und Polen die historischen Fakten, über die es zu berichten gilt? Er polemisiert nicht etwa über die eine oder andere Darstellung, sondern stellt sie nebeneinander vor. Darum folgen auch den 194 Seiten Text ein 15 Seiten umfassender Anmerkungsapparat und ein fünf Seiten zählendes Literaturverzeichnis.
Der Titel des Buches, „Der Verlust“, scheint mir nicht so gut gewählt zu sein wie der Untertitel „Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert“, obwohl die Vertreibung der Deutschen den Verlust der angestammten Heimat bedeutet, nicht anders als es den vertriebenen oder zwangsumgesiedelten Polen ergangen ist.
Nicht ohne Grund macht der Autor zu dem Thema persönliche Anmerkungen bezüglich seines Lebenslaufs. Der heute 50jährige stammt von Eltern ab, die in Breslau ihre Heimat haben, seine Frau ist eine in Breslau geborene Polin, deren Mutter im „Warthegau“ die Grausamkeit der NS-Herrschaft erlebt hat, während ihr Vater in dem seinerzeit zu Polen gehörenden Wolhynien „sowjetischen, deutschen, ukrainischen und dann wieder sowjetischen Terror“ erlitten hat.
Der zeitlich gesteckte Rahmen wird gleich im ersten Kapitel „Die preußischen Ausweisungen“ gesprengt, wozu auch eine Kurzbiographie von Otto von Bismarck mitgeliefert wird. Dies und auch die folgenden, in knapp gefaßten Kastenecken die einzelnen Kapitel anreichernden, Kurzbiographien zeichnen sich dank der angestrebten Objektivität und durch ein mögliches Sowohl-als-Auch gegensätzlicher Beurteilung aus. Wir begegnen den polnischen und den deutschen Einpeitschern einer diktierten Assimilierung bis hin zu der menschenrechtswidrigen und praktizierten Ideologie der Ausrottung fremden Volkstums.
Kein Jahrzehnt, keine Untat der jeweiligen staatlichen Souveränität hat Thomas Urban ausgegrenzt. So brutal ging man mit den Polen um, so brutal ging man mit den Deutschen um, und allzu oft folgten den nationalistischen Exzessen der einen Seite diejenigen der Gegenseite, sobald man die Macht über die Menschen in der Hand hatte. Das „man“ meint ganz realistisch betrachtet einmal uns Deutsche, das andere Mal die Polen. Das Neue an diesem Buch ist, daß ebenso gründlich, wie über das Leid der Deutschen ausgesagt wird, auch über das der Polen Tatsachen vermittelt werden. Gewiß, vieles, was im Zusammenhang steht, ist in Polen unbekannt geblieben, denn unter der kommunistischen Diktatur durfte darüber nicht gesprochen werden, aber auch bei uns ist vieles, was Polen widerfahren ist, unbekannt.
Thomas Urban unternimmt selbstverständlich nicht etwa den Versuch, das eine Unrecht gegen das folgende Unrecht abzuwägen und aufzurechnen. Jede Unmenschlichkeit, für die sowohl die notwendigen Zitate als auch die Taten nachgewiesen werden können, ist zur Kenntnis zu nehmen und leider anzuerkennen. Allerdings muß dem Satz widersprochen werden, „daß die Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg eine Folge des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges in Osteuropa waren“. Hier widerspricht sich Thomas Urban selbst, denn wiederholt nennt er chauvinistische polnische Stimmen, die bereits vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges von der territorialen Eroberung bis zur Oder schwärmten und die Entvölkerung des deutschen Landes forderten.

Die journalistische Handschrift des Autors bezieht auch die jüngsten Unstimmigkeiten zwischen Deutschen und Polen angesichts des Zentrums gegen Vertreibungen und der gegenseitigen Wiedergutmachungsforderungen ein. Ein Irrtum ist dort unterlaufen, wo er Herbert Czaja und Herbert Hupka zwar objektiv als Sprecher der Vertriebenen darstellt, beide aber als die Verantwortlichen für die Klage und das dann gefällte Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975 nennt, obwohl erfreulicherweise die Bayerische Staatsregierung seinerzeit das Urteil gegen die Ostverträge von 1972 erstritten hat. So einflußreich und auch handlungsfähig waren beide nicht.
Erfreulich, daß das Buch von Thomas Urban auch in polnischer Übersetzung erscheinen wird. Manchem Polen wird die eine oder andere Aussage, etwa diejenige über Kardinal August Hlond und sein subjektives Handeln ohne vatikanische Vollmacht gegenüber den deutschen Bistümern, nicht gefallen, wie mancher Deutsche Einzelheiten über die radikal betriebene Entnationalisierungspolitik der Polen nach 1945 vermißt.
Dem Buch wünscht man vor allem viele Leser, weil es gewissenhaft informiert, die Fakten hüben und drüben sprechen läßt, weil der Autor, um Ausgewogenheit überzeugend und erfolgreich bemüht, Vertreibungen, Zwangsaussiedlungen, Deportationen und all die gegenseitigen Unmenschlichkeiten nicht beschönigend erklärt und entschuldigt, sondern gemäß der geschichtlichen Wahrheit beim Namen nennt.
Herbert Hupka (KK)


Reisen und schreiben „im Auftrag der Toten“
Helga Lippelt: Fern von Popelken. Roman. Verlag Heiligenwalde, Unna/W. 2003. 224 S.,
Popelken im Kreise Labiau – ein ostpreußisches Dorf ist der Schauplatz einer Familiengeschichte im 20. Jahrhundert. Der Verlust dieses Ortes durch Flucht und Vertreibung läßt ihn zum Gegenstand der Erinnerung werden und zum Symbol einer unstillbaren Sehnsucht.
Helga Lippelt legte mit dem Roman „Popelken“, Verlag an der Este, Buxtehude 1988, den ersten Band einer Trilogie vor, der das Leben in Ostpreußen bis 1945 beschreibt. Emma Idell lebt mit ihrer Tochter, der schönen Liesa, in Popelken. Einen Vater gibt es nicht, der ist im Ersten Weltkrieg gefallen. Aber eine Großmutter gibt es und Tanten; Frauen dominieren. Liesa heiratet den Dichter Max Grigull, bekommt 1943 die Tochter Brita, als der Vater des Kindes an der Front ist; auch sie wird Kriegswitwe werden.
Es muß „Abschied von Popelken“ genommen werden – so der Titel des zweiten Bandes, der 1994 im Herbig Verlag München erschien und für den Helga Lippelt den Kulturpreis der Landsmannschaft Ostpreußen erhielt. Er beschreibt die Flucht und das Elend derer, die nicht herausgekommen sind. Emma Idell landet mit Tochter und Enkelin in Peinig in Sachsen.
Nun lebt man „Fern von Popelken“. Der dritte Band erschien 2003 im Verlag Heiligenwalde, Unna/Westfalen. Fern von Popelken muß man sich einrichten. Das soll nicht von Dauer sein. Die behelfsmäßige Mansardenwohnung ist nur als Übergangslösung gedacht, die schwierigen Lebensbedingungen in der DDR wird man hinter sich lassen, wenn man in den Westen zu den Verwandten geht oder – nach Hause zurückkehrt. Emma Idell bewahrt den Schlüssel zur Popelker Wohnung im Küchenschrank auf.
Man bleibt 36 Jahre. Großmutter Emmchen stirbt 88jährig, die schöne Liesa geht in den Westen, als sie nach einem arbeitsharten Leben Rentnerin wird – sie hat Mutter und Tochter allein ernähren müssen –, die Tochter Brita folgt ihr wenige Jahre später. Popelken, der Ort der Sehnsucht und des Heimwehs, der Ort, den es im Empfinden der Enkelin Brita vielleicht gar nicht gibt, kann Anfang der neunziger Jahre besucht werden, als das nördliche Ostpreußen, nunmehr russisch, nach 46 Jahren, in denen es Sperrgebiet war, geöffnet wird. Brita fährt hin, findet alles wieder, was sie aus Erzählungen kennt – nur das Haus, zu dem der in Peinig aufgehobene Schlüssel gehört, steht nicht mehr.
Helga Lippelt, Jahrgang 1943, hat die ersten beiden Popelken-Romane geschrieben, ohne das nördliche Ostpreußen und diesen Ort, den Heimatort ihrer Familie, zu kennen. Sorgfältige Recherchen und unermüdliche Erzählungen innerhalb der Familie machten das möglich. Erst 1992 besuchte sie Popelken und stellte fest, „daß es den Ort wirklich gibt“.
Mit „Fern von Popelken“ liegt endlich ein Zeugnis über die Situation der Ostvertriebenen in der früheren DDR vor. Es gab keine Rente, an Lastenausgleich war nicht zu denken, die „Umsiedler“ durften sich nicht als „Flüchtlinge“ bezeichnen und ihre Herkunftsgebiete nicht erwähnen. Man arrangiert sich. Nur hinter geschlossenen Vorhängen kann die alte Ostpreußenkarte ausgebreitet werden.
Und doch ist die verlorene Heimat allgegenwärtig: in den Erzählungen von Popelken, in den Erinnerungen Liesas an Ferien in Nidden mit ihrem Mann Max oder in den wehmütigen Betrachtungen über das Schicksal von Tante Hulda, der ehemaligen Gutsherrin, jetzt Tagelöhnerin. Die Ostpreußen finden in „Fern von Popelken“ ihr eigenes Schicksal wieder.
Die Germanisten werden ihre Freude haben an dieser Fundgrube der Erzähltechnik. Die inneren Monologe der Emmchen Idell, in echtem Ostpreußisch gehalten, rufen beim Leser Lachen und Wehmut, Mitgefühl und Freude an der warm klingenden Mundart hervor, die in einem kleinen Wörterbuch im Anhang festgehalten wird. Die Kapitel 45 bis 47 erzählen Britas Besuch in Popelken. Plötzlich sieht sich der Leser einem Ich gegenüber. Hier verarbeitet die Autorin „das größte Abenteuer“ ihres Lebens: „Ich bin im Auftrag der Toten hier und sie begleiten mich.“
Brigitte Jacobi (KK)



Literatur und Kunst


Die Gabe der Delphine und die Gabe der Kunst
Die Holzschneiderin Marie-Luise Salden aus Elbing berichtet über ihre Erfahrungen mit der Verknüpfung Delphin- und Kunst-Therapie

Wir fangen an, die Umrisse eines anderen Bewußtseins auf diesem Planeten zu erfassen ...
Joan McIntyre,
Autorin von „Der Geist in den Wassern“


Seit Menschengedenken werden Delphine in der Mythologie vieler Kulturen mit bedeutsamen Fähigkeiten in Zusammenhang gebracht. Das Orakel-Heiligtum von Delphi – Delphin-Stadt – und die wohl bekannteste Geschichte der griechischen Antike, die des Delphin-Mutterleibs-Wesens Delphyne und des Sonnengottes Apollo, legen beredtes Zeugnis davon ab.
Seit mehr als zehn Jahren rückt die delphingestützte Therapie (Dolphin-Assisted Therapy, DAT) in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Heilungen wurden zumeist im Bereich der „Wunder“ gesehen. Doch unsere Zeit sucht nach klaren wissenschaftlichen Erkenntnissen durch Beweise. Diese liegen nun de facto vor, nachdem umfassende Forschung u. a. an der Universitätsklinik München geleistet wurde.
Während eines Kunstprojektes beim Volk der Tiwi in Nord-Australien 2001 konnte ich die ungebrochene Verbindung dieses Naturvolkes mit den Schöpfungstieren (dreaming animals) erleben. Delphine spielen dabei mit ihrer beeindruckenden Intelligenz und Wesensnähe zum Menschen eine besondere Rolle. Diese „Botschaft“ der Aborigines ließ mich nicht los.
Daher nahm ich eine Einladung nach Australien im Herbst 2003 zum Anlaß für einen Studienaufenthalt als Volontärin der Kunsttherapie bei der Bunbury Dolphin Therapy Inc. in Bunbury, Westaustralien.
Ein überraschendes Zusammenspiel von Kontakten hatte den Weg dafür geebnet, so daß ich im Dezember 2003 sowie erneut im Januar/Februar 2004 in eine „neue Welt“, die der Therapie mit Delphinen, eintauchen konnte. Ich suchte jedoch auch die Synthese von Delphin-Therapie und Kunst-Therapie für mich in Bunbury zu erschließen. Denn stets fließt die Fülle der Wirkungsweisen von unsichtbaren Interaktionen zwischen dem Lebendigen, dem Schöpferischen und der Materie in eins zusammen.
Bunbury Dolphin Therapy Inc. wurde vor vier Jahren von Carla Henco, Sonderpädagogin und Logopädin aus Deutschland, als gemeinnütziger Verein gegründet und wird von ihr geleitet. Die Heilerfolge an ihrer behinderten Adoptivtochter hatten sie überzeugt, und ihr Wunsch, auch anderen Betroffenen zu helfen, führte zur Gründung.
Vor dem hübschen Städtchen Bunbury, südlich von Perth am Indischen Ozean gelegen, lebt in der geschützten Bucht eine Schule von über 120 Delphinen. Von diesen freilebenden wilden Meeressäugern kommen beinahe täglich in den Vormittagsstunden einer oder mehrere (bis zu fünf gleichzeitig konnte ich erleben) in das seichte Wasser am Strand der Koombana Bay geschwommen. Als Touristenattraktion befindet sich hier das Bunbury Dolphin Discovery Centre, eine Einrichtung, die nicht nur anschaulich-wissenschaftlich über die Entwicklung und den Lebensraum der Delphine unterrichtet, sondern diesen auch sorgfältig beobachtet und schützt. Allerdings starten von hier aus in dosierter Anzahl auch Bootsfahrten und Schwimmtouren zur Bucht der Delphine. Die Therapie findet etwas abgesondert vom Touristenbetrieb statt. Während der australischen Badesaison von Anfang Oktober bis Ende März erfolgt sie jeden Vormittag im Zusammenwirken von Delphin, Patient und Therapeut.
Der Strand mit dem meist heiteren hohen Himmel, einer besonderen Lichtqualität, der würzig-reinen Luft, den Rufen der Seevögel, dem warmen feinen Sand und dem sanften Rauschen des klaren und warmen Wassers stellen einen idealen Therapieraum mit den besten Voraussetzungen dar: Es werden elementare Kräfte aufgenommen und im Zusammenspiel mit der Delphin-Begegnung ganzheitlich erfahren.
Schnell weicht im allgemeinen die Angst der kleinen Patienten vor den großen „Freunden“, dann breitet sich strahlende Freude aus. Was die Touristen erfreut und unterhält, ist für die Kranken, deren Angehörige und die Helfer – neben der Freude – Einsatz mit hoher Konzentration, physischer Anstrengung und Verantwortung.
Denn die Delphine schwimmen bis zu zwei Stunden und länger einzeln oder zu mehreren auf und ab und umkreisen die im Wasser stehenden Menschen. Das Therapiekonzept ist individuell zugeschnitten auf die unterschiedlich Kranken – Kinder, Jugendliche und Erwachsene –, und um es zum Erfolg zu führen, wird der Betreuung und Einbeziehung der Angehörigen durch verschiedene Therapeuten, u. a. Sonderpädagogen, besonderes Gewicht beigemessen. An Tagen ohne Delphin-Begegnung kommen am Strand nur die Therapeuten zum Zuge. Für Autisten stehen dann z. B. Spiele und Übungen an erster Stelle, die den Blickkontakt aufbauen. Während meines Volontariats erlebte ich Patienten mit spastischer Lähmung, Gehirnschädigungen unterschiedlicher Ursachen, Entwicklungsstörungen, Krebs, Neurodermitis, Depression und Autismus. Spontane Besserungen und Heilungsschritte wurden von uns allen erleichtert und tief bewegt wahrgenommen.
An den Vormittagen konnte ich gelegentlich vor oder nach den Delphin-Begegnungen mit Patienten künstlerisch tätig werden. Der feuchte Sand bot sich als überraschendes Material an, Zeichnungen und Skulpturen spiegelten Spaß und Phantasie. Nach einer ausgiebigen Mittagspause kommen täglich im Haus von Carla Henco verschiedene Therapien zur Anwendung: Physio-, Ergo-, Sprach-, Kunst-, Musik- und außerhalb auch Reit-Therapie, mit denen die heilenden Anstöße durch die Delphine aufgegriffen und ausgebaut werden.

Was geschieht während dieser Begegnungen zwischen Mensch und Delphin?
Alles Sein unseres Kosmos ist verbunden durch ein „Netz“ elektromagnetischer Schwingungen. Das wichtigste „Instrument“ des Delphins ist sein Sonar, das in seinem Kopf in der sogenannten „Melone“ sitzt. Damit kann er auch in trübem Wasser Gegenstände erkennen und auf der Ebene des Echos eine genaue akustische „Beschreibung“ seines Gegenübers erhalten. In Anpassung an das Gegenüber verändert der Delphin die Stärke der Ultraschallwellen seines Sonars.
Die Ultraschallwellen treffen auf das menschliche Gehirn und bewirken – so wurde es von Wissenschaftlern registriert – die Ausschüttung von Endorphinen und eine Herabsenkung der Gehirnfrequenz auf „Alpha-Theta“-Wellen, wie sie bei Lernprozessen und intensiver Meditation wirksam sind. Auf der Grundlage dieser starken Auswirkung auf die neuro-chemischen und neuro-physiologischen Prozesse des Gehirns können Heilprozesse einsetzen. Des weiteren hat die Forschung gezeigt, daß die Ultraschallwellen eine Brückenfunktion zwischen rechter und linker Hälfte des menschlichen Gehirns auslösen und diese in eine Wechselwirkung treten lassen.
Auf diese Weise tritt die kreative Seite des Menschen (rechte Gehirnhälfte), die in unserer von der Ratio (linke Gehirnhälfte) beherrschten Welt sträflich vernachlässigt wird, verstärkt in Aktion. Die harmonische Interaktion beider hat eine große Bedeutung für unsere Gesundheit. Der „zündende“ Einfluß des Ultraschalls auf die Kreativität wurde mir bei der kunstherapeutischen Arbeit mit Patienten sowie bei mir selbst bewußt.
Ich hatte es also hier mit zwei stimulierenden Beweggründen für das Inkrafttreten der Selbstheilungskräfte zu tun. Die Kernfrage lautet: Wie weit ist unser Bewußtsein mit Selbstheilung vertraut?
Alle Künste dieser Welt tragen geistig-seelische Erfahrungsmuster in sich, die wir als Schwingung aufnehmen. Schöpferisches Tun erschließt und fördert alle Fähigkeiten des menschlichen Gehirns und hat gerade im therapeutischen Bereich eine wichtige Aufgabe. In meinen Zielsetzungen habe ich schöpferisches Arbeiten, das Erleben der Künste und den Umgang mit Ästhetik, die von Natur aus eine harmonisierende und heilende Wirkung auslösen, stets bewußt ausgelotet und eingesetzt. In Ostasien galt seit alters her die Schreibkunst als „heilig“ in der Bedeutung von „heilend“. Es liegt an uns, unser Tun unter den Aspekt des „Wohl“-Tuns zu stellen.
Die Erfahrungen, die ich mit Patienten der delphingestützten Therapie machen konnte, führten mich zu der Einsicht, daß die Delphin-Begegnung die Tür zu dem „inneren Raum“ des Patienten offenbar ein Stück weit öffnet, so daß die Möglichkeit, ja die Freude, sich auszudrücken, gesteigert sind und eine Atmosphäre von weitaus höherer Konzentration, als gemeinhin bei Kranken üblich, das individuelle Vorgehen trägt.
Meine eigene Begegnung mit dem Meereswesen Delphin begann am 6. Dezember 2003 morgens um sechs Uhr bei einer Bootsfahrt in der Bucht von Bunbury. Mit beinahe kindlichem Erstaunen nahm ich das Auftauchen dieser faszinierend schönen Tiere wahr, ihre eleganten Bewegungen, ihre Stimmen, ihr verspielt-neugieriges Verhalten. Die direkte Begegnung im Wasser und die Kraft des Ultraschalls lösten anfangs starkes Herzklopfen aus – jedoch nicht aus Angst – und ließen mich heftig weinen.
Mit einem Delphin in Blickkontakt zu sein gehört zu den nachhaltigsten Motivationen, die ich erfuhr, wenn ich vom Boot aus mit Maske und Schnorchel mit den Delphinen schwamm. „Im Blick liegt die Seele“, sagen wir. Tiefe und Intelligenz dieser Seele sind unerfaßbar. Seit dem Erdzeitalter Miozän, also seit etwa 25 Millionen Jahren, leben Delphinarten auf unserem Planeten. Ihr Gedächtnis ist uns weit voraus. Denn auch das Wasser speichert Informationen.
Ich durfte erleben, daß sie mich an meiner Stimme erkannten und in ihrer Schule „annahmen“. Eine besondere Rolle spielte die Delphin-Älteste, Shanty. In Bunbury tragen fast alle Delphine registrierte Namen, da sie durch die individuelle Form ihrer Rückenfinne erkennbar sind.
Die bewegenden Erfahrungen meines Volontariats kreisen alle um den Brennpunkt „Kunst und Heilung“. Mit der Delphintherapie wurde mein Blick schlagartig in neue Dimensionen geweitet. Unser Kosmos hält in seiner Vollkommenheit und Einmaligkeit alle Segnungen für uns Menschen bereit, wenn wir sie erkennen und annehmen.
Das Angebot, erneut bei der Bunbury Dolphin Therapy mitzuarbeiten, gehört zu den verlockendsten Zukunftsperspektiven.
Marie-Luise Salden (KK)


Das Städtische Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen zeigt bis zum 16. Januar 2005 die Ausstellung „Shiko Munakata (1903-1975) – Japanische Wege zur Moderne“. Zur gleichen Zeit findet in der Städtischen Galerie Reutlingen die Ausstellung „Japanischer Holzschnitt – Triennale 2004“ statt. Durch die Überlassung der Leihgaben des Fukumitsu-Kunstmuseums Nanto/Japan werden zum ersten Mal Werke des bedeutenden Holzschnitt-Künstlers Munakata in Deutschland gezeigt. Vermittelt hat die Kontakte unsere Autorin und selbst Holzschneiderin Marie-Luise Salden.
(KK)


Das Oberschlesische Landesmuseum Ratingen-Hösel zeigt bis zum 13. Februar 2005 Büsten, Statuetten, Reliefs, Plaketten und Medaillen des 19. und 20. Jahrhunderts in Eisenkunstguß. Das Museum und der Sammler und Kurator der Ausstellung, Friedrich Wilhelm Eigler, haben sich Georg Christoph Lichtenbergs Motto zu eigen gemacht: „Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die vom menschlichen Gesicht“, und zeigen Porträts, die in verschiedenen, vorwieggend europäischen   Eisengießereien seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts geschaffen wurden.
(KK)


Ehrlichkeit im Umgang mit den Menschen und mit der Kunst
Auch bittere Verluste haben Edith Groß, die Kölner Malerin aus Bukarest, nicht verbittert, sondern bestärkt
Seit Ende der 70er Jahre lebt Edith Groß als freischaffende Malerin in Köln. Als Tochter siebenbürgischer Eltern wurde sie am 4. Oktober 1929 in Bukarest geboren. Nach dem Besuch der deutschen Gymnasien in Hermannstadt und Kronstadt begann sie ihr Studium an der Bukarester Kunstakademie. Um den Zwängen des sozialistischen Realismus im kommunistischen Rumänien zu entgehen, wechselte sie bald aus der Klasse der Freien in jene der Angewandten Kunst. Trotz Zugehörigkeit zur deutschsprachigen Minderheit hatte sie unter der Diktatur Ceausescus nicht unmittelbar zu leiden. Sie war als erfolgreiche Bühnen- und Kostümbildnerin an der Bukarester Oper und auch an den Theatern zu Kronstadt und Temeswar tätig. Daß sie ihren 75. Geburtstag in Köln, weit entfernt von ihrer geliebten Heimat, feiern würde, ahnte sie damals nicht. Ihre Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland bedeutete weder Vertreibung noch Flucht, sondern war eine Zusammenführung mit Mitgliedern ihrer Familie, die, aus Rumänien in die Sowjetunion verschleppt, in den Westen entlassen worden waren.
Oft denkt Edith Groß an ihr Abschiedsgespräch mit ihrem Professor, dem rumänischen Maler Alexandru Ciucurencu, der ihr riet, Ehrlichkeit zu wahren im Umgang mit den Menschen und mit der Kunst. 1998 nahm ein angeblicher Vertreter einer New Yorker Agentur zu Edith Groß Kontakt auf und bot ihr eine Einzelausstellung am berühmten Guggenheim-Museum an. Begeistert suchte die Künstlerin 54 Arbeiten aus den letzten beiden Jahrzehnten zusammen und schickte sie nach New York. Man teilte ihr mit, davon kämen 34 Gemälde für die Ausstellung in Frage – doch diese fand nie statt. Die Künstlerin war einem Betrüger aufgesessen, schockiert hat sie allerdings weniger der materielle Verlust als die Amputation ihres Werkes.
In ihrem wechselvollen Leben voller Höhen und Tiefen meisterte sie ihr Schicksal dank einer positiven Einstellung, die sich auch in ihren Bildern ausdrückt, und dank ihres christlichen Glaubens. In ihrer Kunst gibt es allerdings keine biblischen Themen. Ihr Repertoire umfaßt figurale Kompositionen, Landschaften, Stilleben und Architekturbilder. Bereits in ihrer Studienzeit liebte Edith Groß – wie viele ihrer Kollegen in Bukarest, im Paris des Balkans – die Klassiker der französischen Moderne, Cézanne, Braque, Delaunay. Auch mit den russische Suprematisten hat sich Edith Groß auseinandergesetzt und natürlich mit dem deutschen Expressionismus, der besonders bei den siebenbürgisch-sächsischen Kollegen in Kronstadt Widerhall fand. Ausgehend von der künstlerischen Tradition verfolgte die Malerin jedoch persönliche Wege. Der besagte Begriff Ehrlichkeit ist für sie kein leeres Wort.
Auf der Staffelei im Kölner Atelier der Seniorin steht eine Landschaft. Plötzlich erscheint der Malerin ein Mensch, der auf den Horizont dieser Landschaft zuschreitet. Realität und Vision. Das Bild soll Teil eines Triptychons werden, das eine neue malerische Perspektive eröffnet und die Künstlerin wochenlang beschäftigen wird. Das Schaffen geht also weiter. Doch ab und zu schweifen die Gedanken in die Vergangenheit, und die Erinnerung an die zahlreichen Ausstellungen in Rumänien und Deutschland, Japan und Australien, skandinavischen Ländern und Italien erfüllt die Kölnerin aus Rumänien mit Genugtuung.
Günther Ott (KK)
 

Die künstlerische Heimkehr des Eckard Alker
In seiner Geburtsstadt Ratibor begrüßte der Maler aus dem Bergischen Land die Gäste seiner Ausstellung auf deutsch und polnisch
Mein Name ist Eckard Alker. Vor etwa 60 Jahren sprang ich durch die Auenstraße in Ratibor nach der Art der Kinder – wie überall. Heute ermöglicht eine Einladung, Ihnen meine Kunst in ausgewählten Exponaten hier im Museum Ratibor vorzustellen. Wenn Sie sich darauf einlassen, kann es Ihr Sprung in meine Bildwelt sein.
„Wo ist noch Erinnerung?“ Eine Frage, die Ezra Pound gestellt hat und die ich so anregend finde, daß sie Titel meiner Ausstellung wurde. Nicht Rückblick, Nachruf, Memoiren, nicht Kalender, Ortssinn, Nachgeschmack. Erinnerung als Reflex und Antrieb künstlerischer Arbeit.
„Ich glaube“, sagt Marcel Proust, „der Künstler sollte beinahe nur aus den unbewußten Erinnerungen den Rohstoff seines Werkes schöpfen. Zunächst genau deshalb, weil sie unbewußt sind, sich von selbst gestalten, herbeigelockt von der Ähnlichkeit eines gleichgestimmten Augenblicks; nur sie zeigen die echte Handschrift. Und dann bringen sie uns die Dinge in einer genauen Dosierung von Erinnertem und Vergessenem zurück.“
Ich danke der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf, Direktor Dr. Engel, und mit einem Geschenk des Landrates Mörs möchte ich mich bei Museumsdirektorin Muszala-Cialowicz bedanken. Das Bild „Annäherung an ein vollkommenes Haus“ wurde von mir für den Landrat des Rheinisch-Bergischen Kreises gemalt, in seinem Auftrag habe ich es mitgebracht und möchte es dem Museum überreichen. Es ist eine Lithographie des Altenberger Doms, einer ehemaligen Abteikirche der Zisterzienser im Bergischen Land, wo ich mit meiner Familie lebe und arbeite.
(KK)


Volker Hesse statt Gerhart Hauptmann
Zu einer Aufführung im Berliner Gorki-Theater,  wo eigentlich „Vor Sonnenuntergang“ von Gerhart Hauptmann auf dem Programm stand
Wer in diesen Tagen in Berlin Schauspiele an den bekannten und großen Theatern sehen will, sollte sich nicht entsprechend seinen Wünschen Autoren wie Goethe, Tschechow, Hauptmann zur Wiederbegegnung aussuchen, sondern erst einmal fragen, wer der Regisseur ist. Grund: nicht „Faust. Der Tragödie erster Teil“ im Deutschen Theater, nicht „Die Möwe“ in der Schaubühne am Lehniner Platz, nicht „Vor Sonnenuntergang“ im Gorki-Theater werden, dem dichterischen Wort verpflichtet, gespielt, sondern die jeweiligen Regisseure bestimmen mit fester Hand und zugleich selbstgerecht, wie Goethe, Tschechow, Hauptmann darzustellen und zu spielen sind. Das sogenannte Regie-Theater feiert Triumphe, die Dichtungen sind willkommener Knetstoff. Man kann es auf die Formel bringen: Der Dichter hat zu schweigen, denn das Wort hat der Regisseur.
Seit einem Monat wird im Berliner Gorki-Theater unweit der Berliner Prachtstraße Unter den Linden das Schauspiel „Vor Sonnenuntergang“ von Gerhart Hauptmann gespielt. Schon dem Programmheft beliebt es, entgegen den Vorgaben des Dichters jede nähere Bezeichnung wie der Hauptfigur des Matthias Clausen als „Geheimer Kommerzienrat“ und seines Schwiegersohns Erich Klamroth als „Direktor des Clausenschen Betriebes“ zu verschweigen. Dieser wird in „Dramatis Personae“ von Hauptmann näher charakterisiert als „vierschrötig, tüchtig, provinziell“. Die Vorgaben interessieren den Regisseur überhaupt nicht, denn er will aus dem Vorgegebenen, das heißt aus dem 1932 unter Max Reinhardt mit Werner Krauß und Helene Thiemig im Deutschen Theater uraufgeführten Werk ein Stück nach eigener Laune machen.
Das beginnt ganz ballettös, unter dem geschlossenen Vorhang kriechen die handelnden Personen im Wechsel heraus und führen Tanzschritte vor, wohl in der Absicht, die Zuschauer auf das abartig Neue einzustimmen. Diese Verrenkungen wiederholen sich später, indem der Professor und Schwiegersohn bei sich bietender Gelegenheit unter die Liegebank kriecht und dann auch virtuelle Coitus-Szenen bietet. Zum Schluß wechseln wie auf Kommando die handelnden Personen im Eiltempo von rechts nach links und umgekehrt zu den Wänden des Raums, die Gesichter stumm abgewandt.
Die Hauptperson ist selbstverständlich der gerade 70 Jahre alt gewordene Matthias Clausen. Er geht zuerst am Stock, doch dann wirft er ihn weg, denn er ist in Liebe zu der jungen Inken Peters entbrannt. Diese Inken Peters hat aber unter dieser Regie kaum ein Wort zu sprechen und schwebt wie eine Märchenfee barfüßig in den wenigen Auftritten durch das Stück.
Im Programmheft läßt man sogar ganz objektiv eine Interpretation gelten: „Die Literaturwissenschaft führt 3 wichtige Quellen für ,Vor Sonnenuntergang‘ an: Shakespeares ,König Lear‘ (der erste Titel war auch ,Der neue Lear‘), die Altersliebe Johann Wolfgang von Goethes zu der 17jährigen Ulrike von Levetzow und die authentische Geschichte von Hauptmanns Freund Max Pinkus, dessen Kinder seinen erneuten Heiratswunsch durch ein Entmündigungsverfahren vereitelten.“ Ein solches Verfahren beschließen auch die Kinder gegen den 70jährigen. Um nicht mißverstanden zu werden, zeigt die Umschlagseite des Programmheftes ein Rhinozeros, und das Tier aus Pappe beherrscht auch die Rückseite der Bühne.
Kraftstrotzend und stur, so soll Matthias Clausen gemäß der Intention des Regisseurs gesehen und verstanden werden. Eine dumme Spielerei.
Aber all die Zwischentöne unter den Töchtern mit dem Sohn als dem Jüngsten der Kinder und den Schwiegersöhnen werden ausgespart. Die über den Verlust der Mutter in Trauer versunkene Bettina kann gar nicht ausgespielt werden, und der grob die neue Zeit (des Kapitalismus) verkörpernde Schwiegersohn Erich Klamroth ist gleichfalls zu einer Statistenrolle verurteilt. Die verstorbene Frau und Mutter ist mit einem großen Porträt immer präsent. Die Szene des Wutausbruchs des alten Herrn, in der er das Bild zerreißt, wird als Großaufnahme opernhaft gespielt. Gefühl, Sentimentales und zugleich Verlogenes, läßt der Regisseur nicht zu.
In der Geschichte des Schauspiels gibt es zwei Aktschlüsse: Clausen stirbt an Herzeleid, Clausen macht seinem Leben selbst ein Ende. Weder der ursprüngliche noch der vom Schauspieler Werner Krauß angebotene Schluß beenden in der Regie von Volker Hesse das Stück. Ein Berserker von Kraft und Energie (Alexander Lang) tanzt auf dem Tisch wild gestikulierend, um sein unbezwingbares Ich zu demonstrieren. Während der knappen Pausen des Atemholens neigen sich die übrigen Schauspieler nur noch wie eine Trauergemeinde und bilden einen stummen Kreis.
Wie Marionetten haben die Schauspieler die Einfälle des Regisseurs zu spielen, jede Individualität ist ausgelöscht. Nur einer darf wie ein Heinrich George aufspielen. Als Zuschauer, der „Vor Sonnenuntergang“ schon mehrere Male gesehen hat, hält man Heimkehr in die Erinnerung. Wer aber „Vor Sonnenuntergang“ von Volker Hesse statt von Gerhart Hauptmann sehen muß, dem kann nur freundschaftlich empfohlen werden, dieses großartige Schauspiel zu lesen, um schnell die jüngste Aufführung im Berliner Gorki-Theater zu vergessen.
Wer rettet unsere Dichter und ihre Werke vor ihren Regisseuren?
Herbert Hupka (KK)



Lebendigkeit einer Legende
Der „Jahrhundertsänger“ Joseph Schmidt, porträtiert von Luzian Geier
Die Erinnerung an Joseph Schmidt, der 1904 im heute ukrainischen Teil der Bukowina in eine deutschsprachige jüdischgläubige Familie hineingeboren wurde und 1942 als Flüchtling und Zivilinternierter in einem Schweizer Gasthaus starb, ist als das lebendig geblieben, was man eine Tenor- und Rundfunklegende nennen könnte. Vom jüdischen Gemeindegesang geprägt sowie in Czernowitz, Berlin und Wien musikalisch-gesanglich ausgebildet, hatte er Ende der zwanziger Jahre dem Leiter der Opernabteilung des Berliner Rundfunks, dem einstigen Wagner-Sänger Cornelis Bronsgeest, vorgesungen und im April 1929 über denselben Sender sein Debüt feiern können. Schmidt, dem mit einer Körpergröße von 1,52 Metern eine Bühnenkarriere verwehrt war, hatte sein Medium gefunden. In Operngesamtaufnahmen sang er die großen Tenorpartien in Meyerbeers „Die Afrikanerin“, Boitos „Mefistofele“, Mozarts „Idomeneo“ und „Die Zauberflöte“, diese unter der Leitung von Bruno Walter. Sehr schnell sang er sich mit seinen glänzenden stimmlichen Mitteln und kraft der „Inbrunst der Synagoge“ (Jens Malte Fischer) in die Herzen seiner Zuhörer. Diese beglückte er auch mit leichter Kost. Er besang Schallplatten, unternahm Konzertreisen und drehte Filme.
Der Siegeszug des Nationalsozialismus entzog seinem Wirken den Boden. Am Ende aber überdauerte die Erinnerung an seine Stimme alle Unbilden der Zeit.
In einem Porträt Joseph Schmidts, das Luzian Geier vom Bukowina-Institut Augsburg jüngst auf einer Veranstaltung des Hauses des Deutschen Ostens in München zeichnete, ging er der Frage nach, was die bukowinische Heimat des Sängers für dessen Kunst bedeutet habe. Neben einer Prägung durch die Gebetshausmusik sah Geier auch Einflüsse der Zigeunermusik wirksam. Zudem sei die Mehrsprachigkeit der Bukowina für Schmidt Bildungsmacht gewesen, desgleichen das geistige und künstlerische Leben der Landeshauptstadt Czernowitz, in die die Familie 1914 umgezogen war, insbesondere Theater und Musik.
Mit seinen ersten musikalischen Studien dort, denen 1924 das erste Konzert mit Arien und Liedern folgte, habe er die „Melodienseligkeit der bukowinischen Menschen“ in sich aufgenommen. Ein heimatliches Erbteil sei auch der altösterreichische Charme gewesen, mit dem er später namentlich in Wien gefallen habe.
Geier widmete sich eingehend auch der Leidensgeschichte Joseph Schmidts, der noch 1933, im Jahre des Nazi-Triumphes, in dem sein erster Film „Ein Lied geht um die Welt“ Premiere gehabt hatte, Berlin verließ und nach Wien überwechselte, was für ihn den Verlust seines deutschen Publikums bedeutete. Nur für jüdische Zuhörer kehrte er noch ab und an zurück. In Österreich, dem er kurz vor dem Anschluß an das Deutsche Reich im Frühjahr 1938 den Rücken kehrte, drehte er noch fünf Filme, darunter „Heut' ist der schönste Tag in meinem Leben“ und „Ein Stern fällt vom Himmel“ (beides 1936). Schmidt wandte sich nach Brüssel, wo er Anfang 1939 im renommierten Théatre de la Monnaie zum ersten und einzigen Mal auf der Opernbühne stand, und zwar als Rudolf in Puccinis „La Bohème“. Im Frühjahr und im Herbst 1937 hatte er in der New Yorker Carnegie Hall drei Konzerte gegeben. Einer Flucht nach Frankreich, wo er im Mai 1942 in Avignon zum letzten Male auf dem Konzertpodium stand, folgte ein erst beim zweiten Versuch gelungener Übertritt in die Schweiz. Dort erlag Joseph Schmidt im Herbst desselben Jahres nach einer schweren Angina einer Herzschwäche.
Geier beschrieb die Tenorstimme Joseph Schmidts als zart und weich; sie habe „süßen Schmelz“ und „weiche Schmiegsamkeit“ besessen. Sein Gesang habe „leicht und unbeschwert“ gewirkt. Dem wird man aber kaum folgen können. Schmidts Gesang mit einer fulminanten Höhe von bedeutender Leuchtkraft (bei schwach entwickelter Tiefe) hatte eher einen männlich-herben Charakter. Seinen intensiven Vortrag zeichnete bei unverkennbarer Individualität eine anrührende Melancholie aus. Das hätte deutlicher werden können, wenn Luzian Geier bei der Auswahl der Hörproben sich nicht auf Schlager und Volksliedhaftes beschränkt hätte, bei denen bravourös geschmetterte Spitzentöne die Eigenart des sängerischen Ausdrucks überdecken.
Eine in den fünfziger Jahren vom Sender Freies Berlin produzierte Hörfunksendung über Joseph Schmidt von Pelz von Felinau endet mit der Arie des Rodrigo aus der Oper „Le Cid“ von Jules Massenet: „Ach, alles sinkt hinab ...“ Da spricht der Sänger eindringlich zu uns, über seinen Helden und sich selbst, schicksalsergeben und ohne ein letztes Geheimnis preiszugeben, das das Interesse an seiner Stimme wachhalten wird.
Peter Mast (KK)


Lexikalischer Musiker
Helmut Scheunchen erhält den  traditionsreichen Johann-Wenzel-Stamitz-Preis der Künstlergilde in Esslingen
Der schwäbische Violoncellist und Musikologe Helmut Scheunchen, seit 1983 Kammermusiker, wurde mit dem Johann-Wenzel-Stamitz-Preis 2004 der Künstlergilde Esslingen ausgezeichnet. Er gründete das Malinconia-Ensemble Stuttgart, mit dem er in vielen deutschen Städten, aber auch in Österreich, Polen, Finnland, Lettland und Estland gastierte, und er verfaßte im Auftrag der Tübinger Georg-Dehio-Gesellschaft das „Lexikon deutsch-baltischer Musik“, worin auch Werke lettischer und estnischer Komponisten berücksichtigt sind. Den Stamitz-Preis erhielten vor ihm u. a. Günter Bialas (Deutschland), Petr Eben (Tschechien), Jan Meyerowitz (Polen) und Abel Ehrlich (Israel).
Helmut Harry Scheunchen, geboren am 28. November 1945 in der alten Reichsstadt Esslingen am Neckar, studierte an den Musikhochschulen Stuttgart und München im Hauptfach Violoncello bei den Professoren Alfred Gemeinhardt und Walter Reichardt, bei den Professoren Badings, Komma und Karkoschka außerdem Tonsatz, Musikgeschichte und Neue Musik. Als Mitglied der Stuttgarter Philharmoniker seit 1972 führte ihn die Orchestertätigkeit in alle großen Konzertsäle Deutschlands und Europas, aber auch nach Japan (Tokio, Suntory-Hall), in die USA (New York, Carnegie Hall) und nach Südamerika (Buenos Aires, Teatro Colon). 1983 ernannte ihn Stuttgarts Oberbürgermeister Rommel zum Kammermusiker. Er wurde u. a. Mitglied der Gesellschaft für Musikgeschichte in Baden-Württemberg und der Gesellschaft für deutschbaltische Kultur an der Universität Dorpat/Tartu sowie Kuratoriumsmitglied der Stiftung Kulturwerk Schlesien. 1986 gründete Helmut Scheunchen, der stets auch seinen musikologischen Passionen frönte, ein Kammermusik-Ensemble, um die Forschungserträge im Konzertsaal zu realisieren. Mitglieder sind der Pianist Günter Schmidt von der Musikhochschule Würzburg, der Tenorsolist Dr. Helmut Holzapfel am Württembergischen Staatstheater und Instrumentalsolisten der Stuttgarter Philharmoniker, darunter der Geiger Siegfried Hartauer.
Die Gruppe erweckte sogleich starkes Echo und konstituierte sich bereits 1987 als Malinconia-Ensemble Stuttgart. Das Repertoire reicht von frühen Klavierwerken und Liedern über die klassischen Kammermusikformationen bis zu groß- und gemischtbesetzten Kammermusikwerken in einer Spannweite vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. 150 Komponisten konnten bislang vorgestellt werden; die Konzerte fanden im In- und Ausland statt, wobei die – stets auch gedruckte – „Programmreihe Malinconia – Synthese der Forschung“ besondere Bedeutung erlangte.
Die musikwissenschaftliche Tätigkeit Helmut Scheunchens ist ausgreifend, einer der äußeren Punkte ergab sich im Baltikum. Dazu liegen einige Bücher in den Verlagen Böhlau und Laumann vor. Zum Standardwerk geriet sein „Lexikon der deutschbaltischen Musik“ mit 735 Hauptartikeln, mit mehreren tausend Musikwerken der Deutschbalten und, vermittelt von baltischen Musikwissenschaftlern, zahlreichen Werken estnischer und lettischer Komponisten. Im zehnten Jahrgang redigiert Helmut Scheunchen die „Stuttgarter Philharmonischen Blätter“.
Im Jahr 2001 erhielt der vielseitige Musiker die Ernst-Moritz-Arndt-Medaille und gleich im Jahr darauf den Wissenschaftspreis der Georg-Dehio-Stiftung. Im Jahr 2004 nun sprach ihm die Jury der Künstlergilde den Johann-Wenzel-Stamitz- Preis zu.
(KK)


KK-Notizbuch

Das Münchner Haus des Deutschen Ostens zeigt vom 18. November bis zum 21. Januar 2005 unter dem Titel „Die Welt als Mikrokosmos“ Zeichnungen, Radierungen, Aquarelle und Gemälde des 1925 in Neiße, Schlesien, geborenen Künstlers Heinrich J. Jarczyk. Ein Begleitheft mit 40 Abbildungen liegt auf.

„Im Stalle bei Bethlehems Toren“: Das Oberschlesische Landesmuseum in Ratingen-Hösel stellt vom 28. November 2004 bis zum 16. Januar 2005 Krippen polnischer Künstler aus.

„Erinnerungskultur für die Zukunft. 15 Jahre AG Heimatstuben“ lautet der Titel der Herbsttagung der Arbeitsgemeinschaft Ostdeutscher Museen, Heimatstuben und Sammlungen in Nordrhein-Westfalen, die am 17. November im Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus stattfindet. Über die Präsentation der Geschichte des Deutschen Ordens im Deutschordensmuseum Bad Mergentheim referiert Professor Dr. Udo Arnold.

Das Krönersche Handbuch „Historische Stätten. Siebenbürgen“ stellt der Herausgeber Harald Roth am 18. November, 19.30 Uhr, im Rumänischen Kulturinstitut „Titu Maiorescu“ in Berlin auf Einladung des Instituts und des Deutschen Kulturforums östliches Europa, Potsdam, vor.

Ein neues sogenanntes Internetportal (www.interkulturelles-portal.de) zu interkulturellen Themen bietet die Akademie für interkulturelle Studien (AIS) an. Länderexperten, Trainer und Berater, Dolmetscher und Übersetzer sowie Wissenschaftler sollen das Portal als Kommunikationsplattform nutzen können und so eine Übersicht über den aktuellen Stand der interkulturellen Forschung und Lehre im deutschen Hochschulsektor erhalten.

Siegfried Lenz ist der erste Träger des neuen Hannelore-Greve-Preises der Hamburger Autorenvereinigung. Der Achtundsiebzigjährige wird für sein schriftstellerisches Lebenswerk ausgezeichnet. Der von der Unternehmerin Hannelore Greve gestiftete Preis ist mit 20 000 Euro dotiert.

Am 15. November  um 19.30 Uhr liest im Katholischen Stadthaus Wuppertal auf Einladung des Kulturbüros Wuppertal und der dortigen Caritas in der Reihe „Ost-West-Kontakte“ Wolfgang Bittner aus dem Roman „Niemandsland“ und dem Essayband „Gleiwitz heißt heute Gliwice“.

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht dem Historiker Karl Schlögel den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.
(KK)