KK 1192 vom 30. September 2004
Martin Schmidt: Zehn Jahre Eichendorff-Denkmal in Ratibor
Meinrad Köhler: 50 Jahre Eichendorff-Museum in Wangen
Renata Schumann: Tagung zum gemeinsamen Kulturerbe des Ostens in Berlin
Werner Chrobak: Tagung zu Glaubensflüchtlingen in Ostmitteleuropa
Christine Kucinski: Nationale Stereotypen im Film
Otfried Preußler: Heinrich Pleticha zum 80. Geburtstag
Michael Ferber: ARD-Sprecher Jo Brauner geht in den Ruhestand
Bücher und Medien
Literatur und Kunst
Franz Hodjak: Gedichte
Georg Aescht: Mit der Heimat wird man nicht fertig
Günter Gerstmann: Der Dichterin Dagmar von Mutius
Klaus Hildebrandt: Zum 100. Geburtstag des Dichters Horst Lange
KK-Notizbuch
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Ein Mal zum Denken aneinander, zum Nachdenken übereinander
Fest zum zehnjährigen Bestehen des wiedererrichteten Denkmals für Joseph von
Eichendorff in Ratibor
Pfarrer Wolfgang Globisch bezeichnete das am 4. September 1994 in Ratibor
wiedererrichtete Denkmal für Joseph Freiherrn von Eichendorff im Festgottesdienst in der
Liebfrauenkirche als Testmal. Genau ein Jahrzehnt danach fiel das Fazit des
Bischofsbeauftragten für die Seelsorge der Minderheiten in der Diözese Oppeln positiv
aus. Auch jene, die am gleichen Platz in der zentral gelegenen Mickiewicza,
also der Mickiewicz-Straße, lieber ein Denkmal des polnischen Nationaldichters sehen
würden, haben den Test bestanden und Toleranz bewiesen, so Globisch.
Verhaltenen Optimismus legte auch Franz Albrecht von Metternich-Sadorn, Herzog von
Ratibor, an den Tag. In seiner auf den Festgottesdienst folgenden Ansprache am Denkmal
verlieh er der Hoffnung Ausdruck, daß aus dem bisherigen freundlichen
Nebeneinanderherleben von Polen und Deutschen in Schlesien im neuen EU-Europa ein
gedeihliches Miteinander werden möge.
Der rege Beifall der um das Denkmal versammelten Menschenmenge zeigte, wie sehr er gerade
den heimatverbliebenen Oberschlesiern aus dem Herzen sprach. Schließlich wissen diese am
besten, mit welchen Schwierigkeiten die erzielten Erfolge verbunden waren und noch
verbunden sind. Denn selbst in der atmosphärisch vergleichsweise günstigen, nicht zur
unruhigeren Wojewodschaft Oppeln, sondern zum Bezirk Schlesien gehörenden Region Ratibor
hatte es im Vorfeld der jetzigen Feier Negativ-Schlagzeilen in der polnischen Presse
gegeben. Doch am 4. September 2004 war von öffentlichen Unmutsäußerungen nichts zu
spüren. Lediglich das Ausbleiben des Bürgermeisters der Stadt Ratibor bzw. seiner
Stellvertreter zeugte von fortbestehenden Ressentiments.
Die Enthüllung des von dem Bildhauer Georg Latton nach dem Vorbild des 1909 eingeweihten
und nach Kriegsende verschollenen ersten Eichendorff-Denkmals geschaffenen Monuments war
ein Meilenstein, wie der polnische Vertreter des Ratiborer Landes im Sejm,
Andrzej Markowiak, richtig bemerkte. Schließlich ist es, abgesehen von verschiedenen
Kriegerdenkmälern, das erste seit 1945 in Oberschlesien wiedererstandene Denkmal aus
deutscher Zeit.
Ebenso wie die Reden des parteilosen und für die Minderheit besonders wichtigen Ratiborer
Landrats Siedlaczek, eines Vertreters des polnischen Außenministeriums sowie des
früheren Ministerpräsidenten Jerzy Buzek war auch die Ansprache Markowiaks von
Wohlwollen gegenüber den einheimischen Deutschen und dem Streben nach
gutnachbarschaftlichen Beziehungen beider Länder geprägt. Die Grüße aus dem Warschauer
Außenamt waren mit einer bemerkenswerten Feststellung verbunden, derzufolge die
deutsch-polnischen Beziehungen nicht nur in Warschau und Berlin, sondern auch in Ratibor
gestaltet werden.
Vor diesem Hintergrund erscheint es um so unverständlicher, daß die bundesdeutsche Seite
an diesem schönen Spätsommertag in Ratibor offiziell kaum vertreten war. Mehrere
Bundestagsabgeordnete, die eigentlich zugesagt hatten, blieben fern von Ministern
oder Ministerpräsidenten ganz zu schweigen. Nur der Stellvertreter des deutschen
Generalkonsuls in Breslau trug zu der würdigen, von Liedern des DFK-Eichendorff-Chores
begleiteten Gedenkfeier einige eher dürftige Worte bei. Daß auch größere deutsche
Medien nur durch Abwesenheit glänzten, machte die Misere komplett. So lag vor allem die
Berichterstattung in Bild und Ton allein in den Händen polnischer Journalisten,
namentlich der Reporter von Radio Vanessa (Ratibor) sowie eines Kamerateams
aus Krakau.
Letzteres stattete auch der Geschichtswerkstatt im nahen Benkowitz einen
Besuch ab. Dieses kleine Heimatmuseum ist in bewundernswerter Eigenarbeit durch den
früheren DFK-Bezirksvorsitzenden Blasius Hanczuch aufgebaut worden und kann in dem
aufwendig restaurierten örtlichen Heim des Deutschen Freundschaftskreises besichtigt
werden. Hanczuch war es übrigens auch, der den Original-Sockel des Eichendorff-Denkmals
gefunden und geborgen hatte.
Am Ende der Zeremonie am Denkmal wurden zu Ehren des 1788 in Lubowitz bei Ratibor
geborenen romantischen Dichters zahlreiche Kränze und Blumen niedergelegt. Dabei waren
die Vertreter der Deutschen Freundschaftskreise aus allen Teilen Schlesiens
(beispielsweise auch aus dem heute zu Tschechien gehörenden Hultschiner Ländchen und aus
Teschen) natürlich ebenso vertreten wie die Abgesandten der heimatvertriebenen Ratiborer.
Anschließend stand eine Diskussion im Sitzungssaal des Ratiborer Rathauses auf dem
Programm. Als Moderator sollte hier eigentlich Thaddäus Schäpe auftreten, der bisherige
Leiter des Hauses der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit in Gleiwitz. Doch
Schäpe verstarb zwei Tage zuvor, was allgemein als großer Verlust für Oberschlesien
empfunden wird. Im Mittelpunkt der Diskussion standen die jüngsten zwischenstaatlichen
Verstimmungen im Gefolge der zumeist sehr polemisch geführten Auseinandersetzungen um das
geplante Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin und die Aktivitäten der Preußischen
Treuhand. Der Oppelner DFK-Chef und Sejmabgeordnete Heinrich Kroll bezeichnete die
heutigen deutsch-polnischen Beziehungen deshalb als schlecht. Neben dem
tagesaktuellen Geschehen machte er dafür auch einen grundsätzlichen Unterschied zwischen
beiden Völkern aus: Während der durchschnittliche Pole oft noch immer einem mythischen
Geschichtsverständnis anhänge, treffe man auf der anderen Seite der Grenze auf eine weit
verbreitete Geschichtslosigkeit.
Ex-Ministerpräsident Buzek benannte andere Belastungen der bilateralen Beziehungen: die
unterschiedlichen Ansichten zum Irak-Krieg, zur EU-Verfassung und zum russischen Vorgehen
in Tschetschenien. Hierzu stellte er fest, daß allen Terrorakten einzelner Gruppen zum
Trotz das tschetschenische Volk um seine Freiheit kämpfe, und wies darauf hin, daß etwa
die polnischen Aufständischen des Jahres 1830 von der russischen Seite ebenfalls zu
Banditen deklariert worden seien. Überhaupt gelte es die Angst Polens vor dem
heutigen nicht-demokratischen Rußland zu beachten.
Das Gespräch im Rathaus stand unter der Überschrift Perspektiven der
deutsch-polnischen Zusammenarbeit. Doch ein wichtiges, vielleicht sogar das
wichtigste Problem für das künftige Verhältnis kam in der Debatte gar nicht vor: das
katastrophale Unwissen der breiten bundesdeutschen Bevölkerung über den polnischen
Nachbarn und das deutsche Kulturerbe in den einstigen ostdeutschen Provinzen. Denn, so
muß man besorgt fragen, was wird aus den so bedeutsamen zwischenmenschlichen Begegnungen
zwischen beiden Völkern, wenn auch die letzten Vertriebenen aus Schlesien, Pommern,
Ost-Brandenburg, West- und Ostpreußen nicht mehr leben und ihr dichtes
grenzüberschreitendes Beziehungsgeflecht wegfällt? Die nachwachsenden Generationen in
der Bundesrepublik Deutschland sind infolge der jahrzehntelangen Blockteilung Europas nach
wie vor ganz nach Westen orientiert und interessieren sich in aller Regel überhaupt nicht
für die östlichen Nachbarstaaten.
Ansätze für eine Vertiefung der zwischenmenschlichen Beziehungen zeigten Andrej
Markowiak und Gabriele von Altrock auf. Der Sejmabgeordnete entwarf seine Vision eines
polnisch-deutschen Zentrums im heute 75 000 Einwohner zählenden Ratibor. Dieses solle auf
den gemeinsamen positiven kulturellen Wurzeln selbstverständlich einschließlich
der Person Eichendorffs aufbauen und nicht auf den Leiderfahrungen des 20.
Jahrhunderts, wie es im schlesischen Kreisau geschehe. Frau von Altrock, die Leiterin des
Arbeitskreises Schlesien in der Internationalen Gesellschaft für
Menschenrechte (IGFM), warb für ein Zusammenwirken des Ratiborer Landes mit Halle in
Sachsen-Anhalt. Dieses habe mittlerweile Interesse an Eichendorff bekundet, der an der
einst hochangesehenen Universität der Saalestadt studiert hatte. Für 2005 ist in Halle
eine große Eichendorff-Gedächtnis-Wanderung geplant, bei der man die wichtigsten
Aufenthaltsorte des Dichters in der Region aufsuchen will.
Doch zurück nach Schlesien: Bevor dort die Feierlichkeiten am 4. September 2004 mit der
Besichtigung der Eichendorff-Gedenkstube in Lubowitz und einem gemeinsamen Abendessen im
benachbarten Eichendorff-Kultur- und Begegnungszentrum ihren Abschluß fanden,
standen zwei parallele Veranstaltungen an: ein großes Kulturfest des DFK im Hof des
Ratiborer Schlosses und eine Konferenz im Stadtmuseum zum Thema Europäische
Integration im Grenzland der drei Kulturen das Schaffen und Werk von Joseph von
Eichendorff und sein Einfluß auf den Prozeß der Integration.
Leider nahm der wissenschaftliche Charakter im Laufe der Konferenz immer
größeren Schaden und warf einen kleinen Schatten auf die ansonsten überaus gelungenen
Feiern. So stellte Prof. Franciszek Marek den schlesischen Mickiewicz quasi
als halben Polen dar, und die Mehrheit der Referenten mühte sich krampfhaft um Bezüge
der Person und des Werks Eichendorffs zum heutigen Europa. Der ideologische Ansatz
steigerte sich bis ins Groteske, als beispielsweise Dr. Gabriela Jelitto-Piechulik die
biographischen Stationen des Dichterlebens zusammen mit Tagebucheinträgen als europäische
Reise skizzierte. Was, abgesehen von einem Kurzaufenthalt in Paris, das Europäische
an den Studien-, Berufs- und Reiseerfahrungen des großen Romantikers sein soll, bleibt
schleierhaft. Schließlich lernte Eichendorff mit Lubowitz, Ratibor, Halle, Heidelberg,
Wien, Danzig, Königsberg und Neisse ausschließlich solche Orte näher kennen, die zu
seiner Zeit zweifelsfrei dem deutschen Kulturraum angehörten.
Er selbst hätte mit einer solchen Euphorie wohl wenig anfangen können, zumal die
Europäische Union ganz wesentlich auf den Ideen von 1789 basiert, die der schlesische
Dichter sein Leben lang verachtete und literarisch bekämpfte. Man denke in diesem
Zusammenhang an den Streit über einen Gottesbezug in der geplanten EU-Verfassung. Wenn es
denn eine europäische Dimension seines Werks gibt, die für die Gegenwart als Klammer
zwischen den Völkern dienen könnte, so ist es die auf dem christlich-abendländischen
Erbe fußende tiefe Religiosität Joseph von Eichendorffs.
Martin Schmidt (KK)
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Auch im Museum wird Joseph von Eichendorff nicht zum Museumsgegenstand
50 Jahre neues Deutsches Eichendorff-Museum in Wangen
In diesem Jahr besteht das neue Deutsche Eichendorff-Museum in Wangen im Allgäu
fünfzig Jahre. Es wurde im Haus 31 der vom Wangener Kreis initiierten Schlesischen
Künstlersiedlung am Atzenberg eingerichtet und 1954 eröffnet.
Studienrat Willibald Köhler (Beuthen Oppeln Neisse), Regierungsrat Egon H.
Rakette (Ratibor Oberwinter) und Verlagsbuchhändler Carl Ritter (Saulgau
Oppeln Wangen) hatten 1950 die Gesellschaft für Literatur und Kunst gegründet.Von
ihr gingen alle Initiativen aus.
Mehr als dreißig Jahre bestand das Museum am Atzenberg, bis es 1988 zum 200. Geburtstag
des Dichters in das speziell für Museumszwecke konzipierte Haus Lange Gasse 1 im
Altstadtzentrum neu eröffnet wurde. Inzwischen war es vom Ehepaar Meinrad und Ruth
Köhler übernommen worden.Willibald Köhler war 1976 gestorben. Durch die Eselmühle mit
Heimatmuseum sind alle Museen der Stadt Wangen über den Wehrgang der mittelalterlichen
Stadtmauer erreichbar.
Das Museum präsentiert sich mit zwei zeitstilgemäßen Räumen und einem Archiv für
literarische Veranstaltungen und Bücherei mit Dichter- und Nachschlagewerken sowie
Notenschriften von Vertonungen der Gedichte Eichendorffs, die mühsam neu beschafft werden
mußten.
Wie eine Anekdote mutet es an, daß Eichendorffs Personalakte beim Eintritt in die
Regierung zu Breslau 1816 vom letzten Regierungschef Dr. Wolfgang Jaenicke, dem späteren
Botschafter, auf dem Dachboden der Breslauer Regierung gefunden wurde. Er schenkte sie
umgehend dem Wangener Museum. Keine Anekdote ist der Besuch einer Schulklasse im Neisser
Museum, in dem man der Dichterenkelin Margarethe Freiin von Sedlnitzky-Eichendorff eine
Wohnung überlassen hatte: Die noch sehr junge Schülerin Ruth Homrighausen sagte als
einzige ein Gedicht auf und erhielt zum Lohn eine Tasse heiße Schokolade. Anekdotisch
erscheint wiederum, daß bei der Dokumentationsausstellung des Museums im Haus der Heimat
in Stuttgart die Neisserin Dorothea Brosig während des Einführungsvortrags des
Heimathausleiters ungeduldig mit den Fingern schnippte und sich zu Wort meldete. Ihr Vater
hatte Eichendorff noch das Frühstück nachgetragen, als es diesen zum Spaziergang ins
Freie zog. Frau Brosig zählte damals in Stuttgart 93 Lenze.
Meinrad Köhler (KK)
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Im Rahmen der Schlesischen Kulturwoche in Reutlingen eröffnet die
Gemeinschaft evangelischer Schlesier am 15. Oktober eine Ausstellung Schlesische
Kirchen Ruf zum Glauben und Ruf zur Versöhnung. Auf 26 großformatigen
Farbtafeln werden außer den großen Gotteshäusern in Görlitz, Liegnitz und Breslau auch
die Gnadenkirche in Hirschberg und die beiden Friedenskirchen in Jauer und Schweidnitz
gezeigt.
(KK)
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Tiefen und Untiefen nationaler Befindlichkeiten
Bei einer Veranstaltung des Deutschen Kulturforums östliches Europa wurde versucht,
sie auszuloten
Das geistige Erbe der verlorenen deutschen Gebiete befindet sich allem Anschein nach in
guten Händen. Den Beweis dafür erbrachte das Symposion unter dem Titel Gemeinsames
Kulturerbe als Chance, die Deutschen und ihre Nachbarn im östlichen Europa, zu dem
das Deutsche Kulturforum östliches Europa mit Sitz in Potsdam nach Berlin in das
stilvolle Ambiente des Kronprinzenpalais unter den Linden eingeladen hatte.
Insgesamt dreizehn von der Regierung geförderte Kulturinstititionen, die sich mit der
Pflege des Kulturerbes der verlorenen deutschen Ostprovinzen befassen, präsentierten mit
großem organisatorischem Aufwand ihre Arbeit. Es waren vor allem Publikationen, in die
man an den einzelnen Ständen Einsicht nehmen konnte, viele von ihnen in deutscher und
polnischer Sprache. Man vernahm von seiten der Ausstellenden allerdings Bedauern, daß
diese aufwendige Schau nur für einen Nachmittag und einem geschlossenen Publikum gezeigt
wurde.
In der Tat schade, denn das Historische Museum nebenan ist zur Zeit noch geschlossen, und
gerade hier Unter den Linden ziehen unzählige Touristengruppen vorbei.
Der Nachmittag dieses 20. Septembers war prall gefüllt mit interessanten Vorträgen und
wurde von einer lebendigen Diskussion abgerundet. Dr. Hanna Nogossek, die Direktorin des
Potsdamer Instituts, begrüßte die zahlreichen Gäste. Einleitend sprach Staatsministerin
Christina Weiß. Herausragend der Vortrag zum Thema Von der nationalen Ostforschung
zur integrierenden Ostmitteleuropaforschung von Professor Dr. Karl Schlögel von der
Viadrina-Universität Frankfurt an der Oder, dem im November der Georg-Dehio-Buchpreis des
Forums verliehen wird. Schlögel sprach mit seltener Ausgewogenheit über das Sowohl-Als-Auch
der verschiedenen Aspekte des Forschungsgegenstandes, der einen lebendigen und bewegten
Komplex darstellt, und wies einfühlsam auf die vielseitigen Tiefen und Untiefen der
nationalen Befindlichkeiten hin.
Daß das deutsch-polnische Verhältnis noch immer ein Minenfeld der besonderen Art
darstellt, ging aus dem Vortrag von Professor Dr. Anna Wolff-Poweska vom polnischen
Westinstitut in Posen hervor. Prof. Dr. Mathias Weber stellte eine Bestandsaufnahme der
Bemühungen um die Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa vor.
Die Podiumsdiskussion leitete Thomas Roth vom ARD-Hauptstadtstudio. Die Debatte geriet
sehr schnell in den Bereich der aktuellen Spannungen im deutsch-polnischen Verhältnis.
Die spaltenden Differenzen wurden schmerzlich deutlich. Verlierer der neuesten
Entwicklungen seien besonders die, so war von seiten der Olmützer Professorin Ingeborg
Fiala-Fürst zu vernehmen, die sich bisher mit großer Mühe um den Aufbau der
Verständigung bemüht haben. Dazu wäre zu bemerken, daß es seit langem Stimmen gibt,
die davor warnen, rote Teppiche über Abgründe zu werfen und sie zu begehbaren Brücken
zu erklären. Die Brüchigkeit der bisherigen Vorstellungen voneinander, die auf deutscher
Seite vom Diktat der political correctness und von der anderen durch die Propaganda des
totalitären Regimes geprägt waren, kommt nun zum Vorschein. Dr. Andreas Lawaty wies
darauf hin, daß die richtigen Ansätze oft vertan worden sind; so ist die Aufarbeitung
der Vertreibung auf polnischer Seite in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen worden.
Neue Brücken, die auf historischen Realitäten ruhen, sind nunmehr gefragt. Denn daß der
Prozeß der Annäherung gefördert werden muß, war allen Anwesenden klar. Einen gangbaren
Weg scheint das Land Baden-Württemberg gefunden zu haben, über dessen Aktivitäten im
Bereich der Gedächtnispflege der zuständige Minister Heribert Rech sprach.
Ministerialdirektor Knut Nevermann vom BKM trat gegen den Entwurf eines Zentrums gegen
Vertreibungen in Berlin ein.
Danach wurde in den Diskussionsbeiträgen aus dem Auditorium die starke Betroffenheit
über die Reparationsforderungen des polnischen Sejms thematisiert, die, wenngleich bar
rechtlicher Grundlagen chancenlos, ein Spiegelbild der polnischen Meinung seien. Ebenso
wurde festgestellt, daß durch die unglückliche Verknüpfung der Forderungen der
Preußischen Treuhand mit den Diskussionen um ein Zentrum gegen Vertreibungen viel Schaden
entstanden ist. Die Unterstützung der Forderung einer zentralen Gedenkstätte in Berlin,
wo an den ungeheuren Verlust erinnert und Flucht und Vertreibung in ihrem historischen
Kontext und der kausale Zusammenhang zwischen Krieg und seinen Folgen gezeigt würden,
wurde aus dem Auditorium vorgebracht. Dies sei für ein europäisches Selbstbewußtsein
der Deutschen eine psychologische Notwendigkeit. Den östlichen Nachbarn sollte die Angst
vor einer Destabilisierung ihrer aktuellen Lebenssituation genommen, doch gleichzeitig die
Annahme der historischen Realitäten in ihrer ganzen Tragik zugemutet werden, war zu
vernehmen.
Das Symposion gab den Teilnehmern Anlaß zur Hoffnung. Man sah sich am Anfang eines neuen
Weges, der geprägt ist von historischer Wahrhaftigkeit und dem Willen, ein gemeinsames
Europa zu gestalten.
Renata Schumann (KK)
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Flüchten, um glauben zu können
Tagung des Instituts für ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte über
frühneuzeitliche Glaubensflüchtlinge in Ostmitteleuropa
Im Sommer 2004 fand die 42. Arbeitstagung des Instituts für ostdeutsche Kirchen- und
Kulturgeschichte e.V. zum Thema Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse
Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive
statt. Im St. Wenzeslaus-Stift in Jauernick-Buschbach, dem Tagungshaus des Bistums
Görlitz, hatten sich mehr als 50 Teilnehmer aus ganz Deutschland und den Nachbarländern
eingefunden. Auch das Referentengremium war mit 14 Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern aus Deutschland, Österreich, Tschechien und Polen international besetzt.
Zur Begrüßung überbrachte Msgr. Dr. Paul Mai, der 1. Vorsitzende des Instituts für
ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte e.V. mit Sitz in Regensburg ein Grußwort des
Diözesanbischofs von Görlitz, Rudolf Müller, mit Wünschen für einen guten Verlauf der
Tagung. Dompropst Prälat Petrus Canisius Birkner, Pfarrer von Jauernick und Hausherr des
St. Wenzeslaus-Stifts, beleuchtete zum Einstieg die Kirchengeschichte dieser wohl
ältesten Pfarrei der niederschlesischen Oberlausitz, die über viele Jahrhunderte mit dem
Zisterzienserinnenkloster Marienthal verbunden war.
Die Tagung wurde von Prof. Dr. Joachim Bahlcke aus Stuttgart und Privatdozent Dr. habil.
Rainer Bendel aus Tübingen moderiert. Bahlcke wies in seiner Einführung auf die
Geschichtsträchtigkeit der Tagungsregion im Hinblick auf religiös bedingte Migration
hin: Das benachbarte Zittau sei zu Beginn der hussitischen Revolution 1420 zum
Zufluchtsort der Prager Domherren geworden, zweihundert Jahre später zum Aufnahmeort für
zahlreiche böhmische Protestanten, die sich vor die Alternative Glaube oder Heimat
gestellt sahen. Herrnhut, die zunächst kleine Siedlung mährischer Exulanten, sei zum
Stammort der gesamten evangelischen Brüderkirche geworden. Auch der rund 50 km entfernte
Ort Zillerthal im Hirschberger Tal sei 1837 durch Protestanten aus Tirol gegründet
worden.
Das Gesamt-Thema der Tagung, Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben
frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive, wurde
durch drei Gliederungsblöcke strukturiert: Aufnahme und Aufbau einer
neuen Existenz, Identität und Erinnerung sowie Festkultur und
Selbstdarstellung.
Den ersten Themenkomplex eröffnete Dr. Andreas Rüther von der Universität Gießen mit
dem Vortrag Böhmische Altgläubige nach der Flucht vor den Hussiten in ihrer neuen
Umwelt: Schlesien, Lausitzen und Mähren. Rüther machte darauf aufmerksam, daß sich in
seinem Fall die Verhältnisse von Konfessionalität und Majorität im Vergleich zu später
gleichsam umkehrten: In diesem Fall obsiegte die evangelische Mehrheit die Hussiten
und zwang die Altgläubigen, in ein neues Umfeld zu weichen. Dr. Roland
Gehrke von der Universität Stuttgart beleuchtete Die religiöse Praxis
mennonitischer Glaubensflüchtlinge im Weichseldelta im 16. und 17. Jahrhundert
Kontinuität und Wandel. Es wurde deutlich, daß die seit 1547 in mehreren Schüben
aus den Niederlanden und Friesland in der Weichselniederung, in Elbing und den Danziger
Vorstädten ansässig gewordenen Mennoniten auf Dauer das Prinzip der Selbstisolation
nicht durchhalten konnten. Die Aufnahme der Landler in die evangelische Kirche
Siebenbürgens im 18. Jahrhundert untersuchte Prof. Dr. Konrad Gündisch vom
Bundesinstitut für deutsche Kultur und Geschichte des östlichen Europas in Oldenburg.
Mit den Landlern hat man laut Gündisch keine freiwilligen Auswanderer (Emigranten),
auch keine aus ihrer Heimat Vertriebenen (Exulanten), sondern den Sonderfall
der innerhalb des Habsburgerreiches aus Glaubensgründen Zwangsumgesiedelten vor sich.
Prof. Dr. Horst Weigelt von der Universität Bamberg schilderte die Aufnahme der
Schwenkfelder aus Schlesien in Sachsen und Amerika im 18. Jahrhundert.
Den zweiten Themenkomplex, Identität und Erinnerung, deckten drei Vorträge ab: Privatdozent Dr. Matthias Asche von der Universität Tübingen referierte über Kirchliches Leben und Identitätskonstruktion von ländlichen Réfugiés und Schweizerkolonisten in der nördlichen Mark Brandenburg, Dr. Alexander Schunke, Universität Stuttgart, über Katholiken und Konvertiten im Sachsen des 17. Jahrhunderts und Prof. Dr. Jan Harasimowicz (Universität Breslau) über Memoria im Konflikt. Zur Entstehung des Grabmals des ungarischen Konfessionsmigranten Andreas Dudith (1533-1589) in Breslau.
Dem dritten Themenkomplex, Festkultur und Selbstdarstellung, wurden
sechs Vorträge zugeordnet. Prof. Dr. Arno Herzig, Universität Bamberg, sprach über
Josef Schaitberger (1658-1732) und die Konfessionsmigranten in der Reichsstadt
Nürnberg, Frank Metasch M. A. vom Institut für Sächsische Landesgeschichte und
Volkskunde Dresden über Religiöse Festkultur und kirchliches Personal der
böhmischen Exulanten in Dresden während des 17. und 18. Jahrhunderts, Dr. Martin
Rothkegel, Universität Heidelberg, über Pilger und Fremdlinge in
Mähren 1527 bis 1627. Religiöse Topoi als Hilfen, das Exil zu bewältigen.
Die Lieddrucke der Salzburger Emigration von 1732 stellte Dr. Raymund Dittrich von der
Bischöflichen Zentralbibliothek Regensburg vor. Dr. Edita Sterik von der Universität
Prag schilderte Die Hoffnung und Not der böhmischen Exulanten. Religiöse
Erfahrungen tschechischer Glaubensflüchtlinge im 17. und 18. Jahrhundert.
Schließlich stellte Prof. Dr. Bahlcke zugleich Tagungsmoderator Die
,jüngste Glaubenscolonie in Preußen. Kirchliches Leben und Alltagserfahrungen der
Zillerthaler Protestanten in Schlesien dar.
Eine Exkursion nach Herrnhut, Zittau und zum Zisterzienserinnenkloster Marienthal rundete
die Tagung ab.
Tagungsmoderator Bahlcke zog am Ende eine positive Bilanz: Ein Kernthema der Religions-
und Kulturgeschichte sei hier interkonfessionell und interdisziplinär in vorbildlicher
Weise abgehandelt worden. Mit der alltagsgeschichtlichen Perspektive sei der religiöse
Aspekt im Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge primär erforscht, doch seien
allgemeingeschichtliche Rahmenbedingungen nicht ausgeblendet worden. In den Orten Herrnhut
und Zittau konnte der Geist der Glaubensflüchtlinge in konkreter Anschauung noch
nachempfunden werden.
Werner Chrobak (KK)
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gdpv-Tagung zum Film und den nationalen Stereotypen
Nahe der deutsch-polnischen Grenze, in Jauernick bei Görlitz, ist das diesjährige
Herbst-Forum der Gemeinschaft für deutsch-polnische Verständigung (gdpv) in der Zeit vom
28. bis zum 31. Oktober 2004 geplant.
Der Tagungsort, das St.-Wenzeslaus-Stift zu Jauernick/Buschbach, bietet sich aufgrund
seiner geographischen Lage in besonderer Weise für eine dem Brückenbau zwischen
Deutschen und Polen dienende Veranstaltung an, verläuft doch mitten durch Görlitz die
Grenze zwischen beiden Staaten. Dieses Phänomen prädestiniert die Stadt mit ihrer
reichen Vergangenheit als Ort der Verständigungsarbeit. Schlesien wurde in der
Filmgeschichte oft zum Thema.
Das Medium Film ist besonders repräsentativ, weil es für junge Menschen eine zentrale
Identifikationsgrundlage für die Adaptierung von Verhaltensmustern darstellt. Junge
Menschen als Zielgruppe der gdpv bewegen derzeit viele existentielle Fragen. Insbesondere
der EU-Beitritt Polens konfrontiert sie wieder mit den Ereignissen der Vergangenheit, die
das Miteinander von Deutschen und Polen belasten. Ziel und Zweck des gdpv-Forums ist es
vor allem, die im Medium Film gespiegelten Stereotypen der Vergangenheit als Mythen zu
entlarven und durch kritische Rezeption und Diskussion Vorbehalte im Zusammenleben beider
Völker auszuräumen. Dieses facettenreiche Kapitel der Kulturgeschichte ins Bewußtsein
zurückzuholen, hat sich die Tagung zum Ziel gesetzt.
Die beiden exemplarisch ausgewählten Filme, ein Dokumentarfilm von Ute Badura mit dem
Titel Schlesiens Wilder Westen und Lichter von Hans-Christian
Schmid, zeigen einen Paradigmenwechsel im polnischen Kino auf, und das, obwohl sie
thematisch und formal sehr unterschiedlich sind. Die Umbrüche Ende der 80er und Anfang
der 90er Jahre in Polen, denen auch die Filmkunst stark Rechnung getragen hat,
hinterließen bei den Menschen eine Verunsicherung und eine gewisse ethische
Orientierungslosigkeit und Leere. Die vorgestellten Filme versuchen einem Alltag
näherzukommen, in dem es diese Leere zu füllen gilt. Sie greifen dabei die wichtigsten
existentiellen Fragen auf. Ich kann besser an einem Ort leben, dessen Geschichte ich
kenne, sagt ein junger Pole im Prolog des Filmes Schlesiens Wilder Westen.
Schlesien wurde im Nachkriegspolen der Wilde Westen genannt. Dieser Film
stellt die Frage, was Heimat ist: ein Ort, ein Mensch, ein Gefühl, eine Erinnerung. Es
ist ein Film, der nie versucht, die Geschichte zu instrumentalisieren. Badura nimmt die
Irritation der Polen über die Besuche der alten Deutschen ernst, leise Vorurteile auf
beiden Seiten, die Traumata der polnischen und der deutschen Vertriebenen.
Hans-Christian Schmid berichtet von jungen Ukrainern, die über die Oder von Polen nach
Deutschland gelangen wollen. Episodenhaft aneinandergereiht, werden deren Bemühungen und
die Probleme der Menschen in diesem Grenzgebiet zu einer emotional und moralisch
niederschmetternden Konstellation. Geschichten sind in eindrucksvoller Weise und mit
erzählerischer Kunst miteinander verwoben.
Christine Kucinski (KK)
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Polyhistor aus polyhistorischer Landschaft
Heinrich Pleticha, einem führenden Autor deutscher Sprache auf dem Gebiet der
historischen Volksbildung, zum 80. Geburtstag
Heinrich Pleticha, am 9. September 1924 zu Warnsdorf in Böhmen geboren, zählt heute
zu den führenden Autoren deutscher Sprache auf dem Gebiet der historischen Volksbildung.
Nach dem Krieg und zweimaliger Verwundung wurde er nach Bayern vertrieben. Er studierte in
Erlangen bei dem namhaften sudetendeutschen Historiker Adolf Ernstberger, erwarb bei ihm
1949 den Doktorgrad und war dann bis 1986 im Gymnasialdienst tätig, zuletzt als
Oberstudiendirektor am Würzburger Matthias-Grünewald-Gymnasium.
Pädagogik und historische Wissenschaft waren und sind die Eckpfeiler seines literarischen
Schaffens; lebendige Geschichte einem breiten Publikum auf wissenschaftlich gesicherter
Grundlage in allgemeinverständlicher Form nahezubringen, das war und bleibt sein
Programm.
Daß er sich mit seinen geschichtlichen Sachbüchern zunächst an die Jugend wandte, war
naheliegend. Soweit ich es beurteilen kann, ist er es gewesen, der den Typus des
erzählenden historischen Sachbuchs für junge Leser in den deutschsprachigen Ländern des
Westens überhaupt erst entwickelt und diesem Buchtyp in einer Zeit zum Durchbruch
verholfen hat, die an Geschichte kaum noch interessiert zu sein schien.
Während dieser Schaffensperiode schrieb Heinrich Pleticha eine Reihe vielgelesener
erzählender Sachbücher wie Ritter, Burgen und Turniere, Bürger,
Bauer, Bettelmann, Landsknecht, Bundschuh, Söldner. Großes Interesse,
und dies nicht nur bei Jugendlichen, fanden auch die von ihm herausgegebenen Sammelbände
Geschichte aus erster Hand, Kulturgeschichte aus erster Hand,
Zeitgeschichte aus erster Hand (Mitherausgeber Carlo Schmid), um nur die
wichtigsten Titel aus dieser Reihe zu nennen.
Seit Mitte der siebziger Jahre hat sich Heinrich Pleticha mehr und mehr der Herausgabe
historischer Sammelwerke zugewandt, die ein ungewöhnlich breites Publikum erreicht haben.
So zeichnet er bei Bertelsmann verantwortlich für Konzeption und Herausgabe sowohl der
zwölfbändigen Deutschen Geschichte als auch der vierzehnbändigen Weltgeschichte. Das
hohe Lob, das ihm Altbundespräsident Karl Carstens anläßlich einer persönlichen
Begegnung für diese Leistung aussprach, war für den Autor eine überzeugende
Bestätigung dafür, auf dem richtigen Wege zu sein.
Öffentliche Auszeichnungen ließen nicht auf sich warten, so der Große Sudetendeutsche
Kulturpreis, der Bayerische Verdienstorden, das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und die
vom Bayerischen Staatsminister für Unterricht und Kultus gestiftete Medaille Pro
meritis für herausragende Verdienste um die Volksbildung.
Neben großen Projekten finden sich bei Heinrich Pleticha immer wieder einzelne
Publikationen wie die repräsentativen Bildbände Unvergängliches Prag mit
faszinierenden Aufnahmen aus der Goldenen Stadt oder Des Reiches Glanz, eine
reich bebilderte Geschichte der Kleinodien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher
Nation sowie kleinere, mit ebensoviel Liebe wie profunder Sachkenntnis edierte historische
Monographien, etwa das Taschenbuch Klassisches Weimar, die Anekdotensammlung
Wanderer, kommst du nach Prag oder der Band Franken und Böhmen. Tausend
Jahre Nachbarschaft.
Hier sei angemerkt, daß die frühe Begegnung Heinrich Pletichas mit der Stadt Prag
maßgeblich dazu beigetragen hat, daß sein historisches Interesse geweckt wurde, um nicht
zu sagen, daß er dieser Begegnung seine lebenslange Leidenschaft für Geschichten aus der
Geschichte und deren Vermittlung zu danken habe.
Die Liste der selbständigen Veröffentlichungen des Jubilars beläuft sich auf annähernd
100 Titel, die unterdessen eine Gesamtauflage von über fünf Millionen Exemplaren
erreicht haben ungerechnet die Übersetzungen. Hinzu kommen rund 50 Bücher fremder
Autoren, überwiegend historische Reisebeschreibungen, die Heinrich Pleticha herausgegeben
und kommentiert hat, sowie an die 90 umfangreichere Beiträge zu Zeitschriften und
Sammelwerken sowie kleinere Aufsätze und Buchbesprechungen, unter anderem für die Kulturpolitische
Korrepondenz. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller und Honorarprofessor an der
Julius-Maximilians-Universität in Würzburg übt Heinrich Pleticha eine respektable
Anzahl von Ehrenämtern aus.
Wie er dies alles schafft? Ich habe mitunter den Verdacht geäußert, er müsse einen
Zwillingsbruder haben, der ihm die Hälfte seines Arbeitspensums abnehme aber den
hat er nicht. Fest steht, daß er ein Arbeitstier ohnegleichen ist, ein Musterexemplar
jener im allmählichen Aussterben begriffenen Spezies von Menschen, denen ihre Arbeit
nicht nur Spaß macht, sondern die zugleich in ganz besonderem Grade über die Fähigkeit
verfügen, ihren weitgefächerten Aufgaben zielstrebig und zügig gerecht zu werden.
Otfried Preußler (KK)
KK1192 Seite 13
ARD-Nachrichtenmann Jo Brauner geht in den Ruhestand
Wer kennt ihn nicht? Joachim Brauner, liebevoll Jo Brauner genannt, nimmt
Abschied von der Tagesschau und geht mit ein wenig Wehmut in den wohlverdienten Ruhestand.
Guten Abend, meine Damen und Herren mit diesen Worten begrüßt Jo
Brauner, Chefsprecher von ARD aktuell, nunmehr seit dreißig Jahren die Zuschauer zur
erfolgreichsten Nachrichtensendung im deutschen Fernsehen. Knapp, klar und immer live
liest Jo Brauner, einer von insgesamt zehn Sprechern, die Nachrichtenmeldungen vor, die
die Redakteure von ARD aktuell geschrieben haben. Fehler zu entdecken ist das
einzige Recht, das die Sprecher den Redakteuren gegenüber haben, sagte Brauner
einmal der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Seine Markenzeichen sind die sonore
Stimme und die Seriosität.
Joachim Brauner wurde 1937 in Nimptsch in Niederschlesien geboren. Mit acht Jahren wurde
er mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern aus Breslau nach Thüringen evakuiert.
Im Juni/Juli 1958 machte Joachim Brauner das Staatsexamen der DDR am Pädagogischen
Institut Leipzig als Grundschullehrer, und im August 1958 wechselte er über Berlin-West
in die Bundesrepublik. Sein Abschluß wurde jedoch hier nicht anerkannt, deswegen
arbeitete Brauner in Hamburg u. a. in einer graphischen Kunstanstalt, dann als
kaufmännischer Angestellter bei einer Versicherungsgesellschaft.
1964 bewarb sich Brauner beim NDR. Nachdem er Sprechunterricht genommen hatte, las er am
15. Mai 1965 seine ersten Live-Nachrichten auf NDR 2. Auf Einladung des legendären
Herbert Zimmermann sprach er im Juli 1965 die Sportnachrichten auf NDR 1 und NDR 2. Im
Oktober 1965 kündigte Brauner seine Anstellung bei der Versicherungsgesellschaft und
wurde von da an hauptberuflich Sprecher in vielen Hörfunk-Abteilungen des NDR. Vorher
hatte er nur sonntags beim NDR gesprochen. 1967 nahm Brauner auch eine Tätigkeit als On-
und Off-Sprecher bei den Berichten vom Tage auf. 1969 heiratete er Ann
Brauner, die beiden haben zwei Töchter. Seit 1974 war er auf Einladung von Karl-Heinz
Köpcke auch On- und Off-Sprecher bei der Tagesschau. Am 1. Januar 2000 trat Jo Brauner
die Nachfolge von Dagmar Berghoff als Chefsprecher von ARD aktuell an.
An seine emotionalste Sendung kann er sich sehr gut erinnern, es waren die Nachrichten am
9. November 1989. Wörtlich sagte er in Hamburg: Ich habe die Teilung Deutschlands
miterlebt, meine Familie aus Schlesien hat unter der Trennung sehr gelitten. Als dieses
gehaßte Monstrum Mauer fiel, brachen auch bei mir die Dämme. Es war schwer in jenen
Tagen, die Fassung zu wahren angesichts der tränenreichen Bilder und
Verbrüderungsszenen.
Jo Brauner liebt Bücher (Belletristik und Sachbücher) und Musik (Klavier- und
Violinkonzerte), sein Lieblingskomponist ist Frédéric Chopin. Er spielt selbst Klavier.
Außerdem interessiert er sich für Sport. Die Arbeit hat er nie als Belastung empfunden.
Arbeit ist ein sehr wichtiger Teil des Lebens, meint Jo Brauner.
Michael Ferber (KK)
KK1192 Seite 14
Bücher und Medien
Da werden sie in Böhmen stolz sein können ...
Smetana Dvorák Janácek Musikerbriefe. Ausgewählt von
Alena Wagnerová und Barbara Srámková. Mit einem Vorwort von Alena Wagnerová. Aus dem
Tschechischen von Alexandra Baumrucker, Silke Klein und Christa Rothmeier.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003, 557 Seiten, 24,90 Euro
Drei weltberühmte Komponisten aus Böhmen und Mähren den Anfängen dieser drei
Karrieren war nicht von vornherein anzumerken, wie sich das weitere Schicksal fügen
würde.
Bedrich Smetana wird lebenslang Wechselbädern von Erfolg und Verkennung ausgesetzt sein.
Seine Briefe transportieren geradezu den melancholischen Charakter eines verkannten
Künstlers, der nur mit viel Mühe immer wieder die nächste existentielle Krise meistert.
Bei Dvorák und Janácek, besonders aber bei Smetana sticht bei der Durchsicht ihrer
Korrespondenz die Sprachbesonderheit Böhmens und Mährens des ausgehenden 19.
Jahrhunderts hervor. Etliche Briefe sind in deutscher Sprache geschrieben. Bei Friedrich
Smetana, der bis zu seinem 35. Lebensjahr überwiegend Deutsch sprach und schrieb, fällt
dies besonders auf. Er entschuldigt sich bei seinen Briefpartnern für sein schlechtes
Tschechisch!
Eine nicht nur klug, sondern auch unterhaltsam zusammengestellte Auswahl der Briefe läßt
den Leser an persönlichen Sorgen teilnehmen, unterhält ihn aber auch mit der Kurzweil
der Autoren und gewährt nicht zuletzt einen spannungsreichen Einblick in Leben und
Hintergründe künstlerischer Existenzen. Ein Anhang mit Angaben zu den Adressaten sowie
biographischen Daten erleichtert die Zuordnung mancher Zusammenhänge.
Bedrich Smetana (1824-1884) fand sich in seinen frühen Jahren im besonderen einer
äußerst knappen finanziellen Situation gegenüber. Erfolge hatten sich noch nicht
eingestellt, und so blieb die Hoffnung auf den Durchbruch. Meine jetzige Lage ist
schrecklich, Gott möge jeden Künstler vor solcher bewahren! Mit derartigen
Worten wandte sich Smetana an den bekannten Komponisten Franz Liszt, der ihm tatsächlich
auch Unterstützung gewährte. Bei Antonín Dvorák (1841-1904) stand immerhin Johannes
Brahms zur Verfügung, als es im frühen Stadium um Hilfestellung ging.
Doch Dvorák gelingt der Erfolg im Unterschied zu Smetana deutlicher und sehr viel
früher. Die Briefe zeigen, daß er seine Rechte an den deutschen Musikverleger Fritz
Simrock verkaufte und sich immer wieder selbstbewußt für seine finanziellen Forderungen
rechtfertigte. Es kam sogar zum Zerwürfnis und später freilich auch zur Versöhnung, da
Simrock als Generalherausgeber der Werke Dvoráks von über 60 Opus-Nummern offenbar seine
Vorteile bei dieser Geschäftsbeziehung klar erkannte. Später gerät der ehemalige
Metzgerlehrling Antonín Dvorák als gefeierter Komponist sogar nach Amerika, und er
schreibt aufmerksam über die dortigen Preise und Löhne wie auch über die kulturellen
Verhältnisse.
Heimweh nach dem geliebten Böhmen verläßt ihn freilich nie: Da werden wir im
Sommer bei Euch spielen, daß dies in den Wäldern von Písek widerhallt! schreibt
Dvorák am 12. 12. 1893 aus New York an seinen engen Freund, den Juristen Antonín Rus.
Überhaupt gefiel ihm der Gedanke, daß sie in Böhmen stolz sein können
auf die Leistung landeseigener Komponisten im Ausland!
Bei Leos Janácek (1854-1928) überwiegt der schwelgerische Ton, zumal der überwiegende
Teil seiner Korrespondenz Frauen vorbehalten ist, mit denen ihn platonische Beziehungen
verbinden. Der zärtliche Ton, den er in seinen frühen, zumeist in deutscher Sprache
verfaßten Briefen an seine jugendliche Liebe Zdenci anschlug, hatte sich in der späteren
Ehe offenbar keinen Weg zur alltäglichen Beziehung bahnen können. Zu unterschiedlich
waren Charaktere und Temperamente! Als er bereits in den Siebzigern stand, flammte seine
Begeisterung für die verheiratete Kamila Stösslová auf: Mit diesem Brief, mit
diesem meinem Bekenntnis, verfahre wie Du willst. Verbrenn es oder nicht. Mich belebt es.
Auch Gedanken nehmen Gestalt an. Janácek, der auf eine ungeteilte Anerkennung lange
warten mußte, gelang es erst spät, nicht nur in Brünn, sondern auch in Prag Erfolge zu
feiern. Das offensichtlich unschuldige, aber intensive Verhältnis zur 38 Jahre jüngeren
Kamila Stösslová beflügelte ihn zu späten kompositorischen Hochleistungen. Janácek
selbst empfand dies sehr wohl in bewußter Weise und schrieb auch darüber. An Kamila
Stösslová über Jahre hinweg beinahe täglich!
Volker Strebel (KK)
KK1192 Seite 15
Im Kaiserreich für die Republik gestritten
Theodor Oliwa: Paul Löbe. Ein sozialdemokratischer Politiker und Redakteur. Die
schlesischen Jahre (1875-1919). Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte,
Band 30, 344 S.,
Verlag Degener & Co., Neustadt an der Aisch 2003, 48 Euro
Bereits die Magisterarbeit von Theodor Oliwa, Student an der Universität in Mainz,
Tutor Professor Josef Joachim Menzel, befaßte sich 1994 mit Paul Löbe während der
Weimarer Republik. Für die Dissertation lautet das Thema wieder Paul Löbe, aber es
sollte eine Arbeit über die Jahrzehnte vor der Weimarer Republik, über den in Breslau
arbeitenden, kämpferisch agierenden Sozialdemokraten im Kaiserreich unter Wilhelm II. bis
zur Ausrufung der Republik am 9. November 1918, sein. Auf den letzten Seiten wird noch der
Ruf von Friedrich Ebert an Paul Löbe in die Regierung der Volksbeauftragten und die Wahl
zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 mit der Wahl zum stellvertretenden
Fraktionsvorsitzenden der SPD geschildert.
Die Zeit nach 1920, da Paul Löbe als Reichstagspräsident Oberhaupt des Parlaments war,
sind eher bekannt, dann auch die Jahre der Verfolgung unter dem Nationalsozialismus. 1949
eröffnete der am 14. Dezember 1875 in Liegnitz Geborene als Alterspräsident den ersten
Deutschen Bundestag. Gewiß, über den frühen Lebensweg und das Wirken als
sozialdemokratischer Politiker waren wir bereits durch die in mehreren, erweiterten
Neuauflagen erschienenen Erinnerungen eines Reichstagspräsidenten und durch
Erinnerungen von Zeitgenossen unterrichtet, aber eine so umfassende und gründlich
erarbeitete Darstellung der Frühzeit dieses Demokraten und Republikaners hat es noch
nicht gegeben. Fast möchte man nach der Lektüre dieses engzeilig gedruckten Buches
sagen, es sei zu viel, was hier an hieb- und stichfestem Material ausgearbeitet worden
ist.
Zu den Belegen für das Wort und die Tat des Parteipolitikers gehören selbstverständlich
auch die Aufsätze des mit 28 Jahren zum Chefredakteur des Parteiblattes Volkswacht
aufgestiegenen Paul Löbe. Mit 22 Jahren begann er als gelernter Setzer und Buchdrucker,
aber schon als Fünfzehnjähriger hatte er das Parteiblatt, das damals Schlesische
Nachrichten hieß, mit Berichten aus seiner Heimatstadt Liegnitz beliefert. Die
Verhältnisse, die soziale Lage der eigenen Arbeiterfamilie wiesen den Weg geradezu
zwingend in die Sozialdemokratie. In ihr ist er großgeworden, aber er hat immer darunter
gelitten, daß ihm nach einem achtjährigen Besuch der Volksschule das Wissen und die
Allgemeinbildung fehlten, deren er gerade als Politiker bedurfte. Deswegen war das eine
Jahr Haft im Strafgefängnis Wohlau 1906/1907, zu der er von der scharf zugreifenden
preußischen Justiz wegen Volksverhetzung verurteilt worden war, eine
Gelegenheit, ein wenig fehlendes Wissen nachzuholen. Der Gefängnisdirektor, auch das gab
es in der preußischen Verwaltung, war ihm gewogen, und beide pflegten regelmäßig einen
weiterführenden Dialog.
Als Sozialist und Klassenkämpfer, als Wortführer der Arbeiterklasse und Ankläger des
ungerechten, antidemokratischen Dreiklassenwahlrechts, wie es in Preußen praktiziert
wurde, als Befürworter von Straßenkämpfen und einem Massenstreik schrieb er seine
Artikel. Aber, und das zeichnete sein ganzes politisches Leben aus, sein Tun unterwarf
sich nie dogmatischer Parteiideologie. Deshalb sprach er sich für den sogenannten
Revisionismus eines Eduard Bernstein und gegen die vom Parteivorsitzenden August Bebel
verordnete Parteidisziplin aus. Er erreichte es, daß Eduard Bernstein in Breslau 1902
einen Wahlkreis erhielt. Auch gehörte es zu seinem Konzept, mit Bürgerlichen, den
Liberalen, zu koalieren, um den Weg des ersten geringen Fortschritts zu gehen. Allerdings
mußte er wiederholt feststellen, daß er in der Breslauer Partei, aber auch auf
Parteitagen mit seinen Anträgen die Meinung einer Minderheit vertrat.
Er gehörte zu den ersten unter den Sozialdemokraten, die in der Volkswacht
die Abdankung von Kaiser Wilhelm II. forderten. Während des Krieges zählte er zu den
Pragmatikern und stimmte für die Gewährung der geforderten Kriegskredite, gleichzeitig
stritt er für die Einheit der Partei gegen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und war ein
Gegner jeglicher Radikalisierung.
In Breslau wurde er mit 30 Jahren Stadtverordneter und blieb dies bis 1919, als er
SPD-Abgeordneter im Reichstag wurde. Schon zuvor war er 1909 und 1911 als Abgeordneter
für den Reichstag vorgeschlagen worden, aber er lehnte ab, weil er sich dieser Aufgabe
nicht gewachsen glaubte. So war das bekanntlich auch 1918 gegenüber Friedrich Ebert.
Diese Bescheidenheit und die Absage an jegliches Anspruchsdenken hat ihn zeit seines
Lebens ausgezeichnet.
Für das knapp sechs Seiten umfassende Schlußwort ist man dem Verfasser besonders
dankbar, denn der Protokolle und Belege sind es zu viele, und sie werden zu detailliert
wiedergegeben. Die zum Buch erweiterte Dissertation ist kein parteiliches Buch geworden,
sondern vielmehr die Historie eines Lebensweges, von dem es im Schlußwort heißt: Er
war ein Mann aus dem Volke, der die täglichen Sorgen und Nöte der armen Menschen, die er
aus eigener Erfahrung gut kannte, stets im Blick hatte. Er besaß ein einfaches, von
ethisch-moralischen Maßstäben geprägtes Weltbild.
Herbert Hupka (KK)
KK1192 Seite 16
Journalistisches zwischen Buchdeckeln
Brigitte Jäger-Dabek: Polen. Eine Nachbarschaftskunde für Deutsche. Christoph Links
Verlag, Berlin 2003, 254 S., 15,90 Euro.
Brigitte Jäger-Dabek stellt sich im Klappentext als Optikermeisterin und Journalistin
vor, aufgewachsen in Hamburg. Zahlreiche Reisen in Europa und in die weite Welt werden
erwähnt, seit Beginn der journalistischen Tätigkeit Spezialgebiet Osteuropa.
In vielen Artikeln, wie der Rezensent als Leser gern bestätigt, zeichnet sie sich durch
aktuelle Berichterstattung vornehmlich über Polen auch deswegen aus, weil sie die ohnehin
leider sparsame Nachrichtenvermittlung über unseren Nachbarn aus eigener Kenntnis und
aufgrund der Beherrschung des Polnischen kenntnisreich ergänzt. Jetzt ist es ein Buch der
Nachbarschaftskunde für Deutsche. Ärger und Streit über so viele leicht
widerlegbare Stereotypen, das Desinteresse an unserem östlichen Nachbarland haben sie zum
Schreiben veranlaßt, geradezu gezwungen.
Der historische Teil ist kurz ausgefallen, zwei Drittel des Buches füllen Zeitgeschichte
und die unmittelbare Gegenwart, wobei die Zugehörigkeit zur Europäischen Union deutlich
akzentuiert wird. Da die Geschichte gleichsam im Zeitraffer vorgetragen wird, was dem
unbefangenen Leser recht sein mag, werden einige Oberflächlichkeiten und Ungenauigkeiten
in Kauf genommen. Da und dort stößt man leider auf Beschönigungen. Daß sich das neu
erstandene Polen Vilnius (Wilna) in einem militärischen Handstreich aneignete, wird
vergessen, dafür aber festgestellt, daß eine Volksabstimmung die Annexion bestätigt
habe. Zum Schicksal Oberschlesiens wird behauptet, daß die Teilung Oberschlesiens trotz
des deutschen Sieges bei der Abstimmung 1921 und entgegen dem Selbstbestimmungsrecht zum
Schaden und Leidwesen Polens erfolgt sei! Die Vertreibung der Deutschen, die immerhin so
genannt wird, liest sich wie folgt: Aus den verlorenen Ostgebieten wurden 1,5
Millionen Polen zwangsausgesiedelt. Sie alle wurden überwiegend in den nach Flucht und
Vertreibung menschenleeren, bis dahin deutschen Regionen angesiedelt.
Die Schilderung persönlicher Konflikte und Begegnungen vermittelt dem Buch eine
wohltuende Frische, aber dann stößt man auf in braver Absicht hingeschriebene Sätze,
die einen wundern. So heißt es, nachdem die Autorin in einer polnischen Familie einen
Brief, der aus dem deutschen Konzentrationslager gekommen war, übersetzt hatte: Wir
stellten (in der polnischen Gesellschaft) fest, daß nur mein deutschstämmiger polnischer
Freund und ich unsere Großväter gekannt hatten, die Großväter der Polen waren allesamt
in deutschen Konzentrationslagern ermordet worden oder gefallen. Was sollen solche
mit allesamt schnell zu Papier gebrachten Verallgemeinerungen?
Was gleichsam in Fortsetzung der journalistischen Arbeiten über die inneren Zustände des
heutigen Polens ausführlich und auch aufgrund persönlicher Anschauung ausgebreitet wird,
ist ein Gewinn. In diesen Kapiteln erfährt der Leser Wissenswertes über Politik und
Wirtschaft, den Sender Maryja mit seinen unheilvollen Wirkungen und den Fall
Jedwabne. Verspielt hingegen und nichts Neues offenbarend die gegensätzlichen
Nationaltypen Jan Kowalski und Hans Schmidt. Gern sei angemerkt, daß die kollektiven
Verhaftungen von Deutschen nach Kriegsende und die Leiden in nunmehr polnischen
Konzentrationslagern, Beispiel Lamsdorf wird ausdrücklich erwähnt, als Fakten aus der
Nachkriegszeit mitgeteilt werden. Aktuell und scharf kritisch wird Harald Schmidt mit
seinen Polenwitzen im Fernsehen vorgeführt.
Um das Buch handsamer zu machen, werden zum Schluß elf Kontaktadressen in Polen,
über Internet zu erreichen, angegeben. Verwunderlich, daß Ortsnamen plötzlich nur in
polnischer Fassung erscheinen, auch auf der mitgegebenen Landkarte, Oswiecim allerdings
als Auschwitz auch in deutscher Sprache.
Sicher weiß jeder Benutzer dieses Buches nach der Lektüre mehr und besser Bescheid über
unseren Nachbarn Polen, aber ein gewichtiges Buch mit ganz neuen Aussagen ist es nicht
geworden. Die journalistischen Arbeiten von Brigitte Jäger-Dabek möchten wir allerdings
nicht missen.
Herbert Hupka (KK)
KK1192 Seite 17
Herbert Somplatzki stellt am 12. Oktober, 19.30 Uhr, am Polnischen
Institut Düsseldorf seine soeben unter dem Titel Masurische Gnadenhochzeit
erschienene Familiengeschichte vor. Erzählt wird vom Leben einfacher Leute zwischen
Masuren und dem Ruhrgebiet.
(KK)
KK1192 Seite 18
Literatur und Kunst
Franz Hodjak
Wenn die Täuschungen sich besonders ähneln
Flohmarkt
Es ist Sonntag, weil
der Postbote in Gestalt
eines gelben Kinderwagens
ausbleibt, auf dem Flohmarkt
werden gefallene Engel
angeboten, und wer jetzt
den Atem anhält, sieht, wie
etwas triumphal vorbei-
zieht, das ungenannt bleiben
will, das Mittagslicht erinnert
an exotische Flaschen, die den Wind
zum Klingen bringen, Bücher,
Fischernetze, Ikonen, Granaten-
splitter, Uniformen, dies
wunderbare Gefühl, alles
sei erlaubt, was verboten ist, doch
jedes Ebenbild ist schrecklich, nichts ist
so schwer
zu ertragen, als die Nachbarschaft
dessen, was wir sind, also geht man
über Brücken, um sich nicht
zu treffen, bloß die Musen
sind so hilflos, als
wären sie Emigranten.
Augustusbrücke. Dresden
Man muß nicht gleich
betrunken sein, wenn
man spürt, es wachsen einem
Flügel, vor allem
am Abend, wenn die Täuschungen
sich besonders ähneln. Am
Morgen, wenn die Sonne aufgeht,
sehe ich die Schatten
der Verräter, und ich habe
Angst um die Schatten der Vögel,
die diese Schatten
streifen. Daß es
die Augustusbrücke gibt,
ist schon etwas, auch wenn es nicht weiterführt. Die
alte Uhr in Ehren, weil sie
die heilige Minute
anzeigt, in der sie
kaputtging. Tagsüber
das Gefühl, ungerecht
behandelt zu werden, vor
allem vom Schicksal, an das
man so nicht glaubt. Die Brücke
ein Kleiderbügel, das wars.
Franz Hodjak, der vagantische Poet und Erzähler, aus Siebenbürgen ausgewandert und,
wie es in seinen Geschichten und Gedichten zu lesen ist, nirgendwo angekommen als in der
deutschen Literatur, hat in aller ihn mit ausmachenden schöpferischen Unstetigkeit das
60. Lebensjahr erfüllt. Zu wünschen ist ihm, daß der Widersinn, den er literarisch
gestaltet, in seinem Leben nicht in derselben Intensität wiederkehrt.
(KK)
KK1192 Seite 19
Mit der Heimat wird man nicht fertig
Menschen mit verschiedenen Vorstellungen sind doch gern zusammen
Das Schöne und das Schwierige an der Heimat ist, daß sie aus Menschen besteht. Diese
Menschen entwickeln den Drang, periodisch zusammenzukommen und Heimat in geballter Form zu
leben, zu feiern, ja zu demonstrieren. Die Ballung bezeichnet man als Heimattreffen. Eine
solche Veranstaltung ist nicht jedermanns Sache, und mancher bleibt ihr fern. Nicht weil
er mit der Heimat nichts anfangen könnte jeder, ob er will oder nicht, hat
schließlich eine, und etwas anfangen können mit ihr muß er auch, sei es nur, daß er
sie verächtlich ignoriert.
Die meisten Menschen allerdings haben ihre eigene Vorstellung von ihr und möchten diese
verständlicherweise für sich behalten und nicht so zur Schau tragen, wie es bei
Heimattreffen mitunter geschieht. Zwischen Leuten, die Heimattreffen besuchen, und
solchen, die ihnen fernbleiben, gibt es nicht nur Meinungsunterschiede, sondern manchmal
nachgerade ideologischen Streit. Das müßte nicht sein, denn es ist genug Heimat für
alle da, für alle zusammen und für jeden einzelnen.
Schwieriger noch wird es, wenn es eine ehemalige Heimat ist und ihre Landschaft im Osten
liegt, sagen wir in Siebenbürgen. Der Weg aus Deutschland nach Rumänien ist weit. Zudem
verändert zumal der Osten, Rumänien, Siebenbürgen dauernd sein Gesicht, und nicht nur
zum Guten. Die Menschen, die den weiten Weg gefahren sind, finden unter Umständen nicht
mehr, was sie suchen, oder sie vergessen überhaupt, was sie suchen wollten. Es soll sogar
welche geben, die hinfahren, um bestätigt zu finden, daß sie dort nichts mehr zu suchen
haben.
Zurück kommt man aus Siebenbürgen mit wenigen Gewißheiten, aber mit dieser einen
bestimmt: daß man nicht vergeblich dort gewesen ist. Von einer Bereicherung zu reden ist
hochgestochen und wenig zutreffend, denn die Erfahrung ist in erster Linie die eines
Verlustes. Eines Verlustes von Heimat, von natürlicher und gebauter Landschaft, Wald und
Flur, Haus und Hof, von Menschen und Traditionen, Geschichte und Geschichten. Von dem
allem hat man nur Reste wiedergefunden, oft bis zur Unkenntlichkeit verheerte Spuren oder
schmerzlich versehrte Einzel- oder Gruppenexistenzen. Heimat ist das nicht mehr.
Oder doch? Man lernt auch etwas über diesen so abstrakten Begriff, und zwar in erster
Linie, wie schlecht er funktioniert. Mit ihm läßt sich nichts fassen, nichts begreifen,
er schillert und verschwimmt wie das Bild der Landschaft, durch einen Tränenschleier
betrachtet.
Darum hält man sich am besten ans Konkrete. So tut man gut daran, in der Kirche zu sitzen
und um sich und in sich zu schauen, auf den Friedhof zu gehen, durch die Gräberzeilen mit
den vielen bekannten und weniger bekannten Namen, durch die Gassen zu streifen, sich zu
wundern, zu ärgern, je nach Gemütslage und Betroffenheitsgrad. Hinaus in Wald und Feld
kann man gehen, überall gibt es etwas wiederzufinden und vieles zu vermissen.
Zusammensitzen kann man mit Leuten, die ebenfalls von weither angereist sind, oder mit
solchen, die immer noch dort leben die Gespräche über die Vergangenheit sind
meist erfreulicher als die über die Gegenwart, durchweg erfreulich aber ist, daß man
miteinander reden kann wie eh und je. Das alles haben die Organisatoren der Heimattreffen
meist wohl bedacht und die denkbar besten Rahmenbedingungen geschaffen. Mit Leben füllen
können diesen Rahmen die Leute selbst und sich dabei vergewissern, daß Nachbarschaft
oder Landsmannschaft in des Wortes ursprünglicher Bedeutung nicht nur eine
Organisationsform ist, sondern eine Lebensform und ein Gefühl jenseits
geographischer Gegebenheiten.
Gerade das einem jeden eigene Gefühl aber gerät bei einer Festveranstaltung ins
Hintertreffen. Die allgemein aufgeräumte Stimmung, die festlichen Reden, die wiederholt
und von allen Seiten ausgesprochene Dankbarkeit und die allerseits erklärten guten
Absichten, die Musik und die dadurch befeuerte Rührung das sind alles durchaus
legitime, ehrbare Regungen und Strebungen.Was aber bewegen sie, wen bewegen sie
nachhaltig, wozu führen sie außer zu Bild- und Tondokumenten in modernster technischer
Qualität, mit hohem Erinnerungswert, aber weder dokumentarisch noch ästhetisch besonders
ergiebig?
Nun ist es nicht Zweck einer solchen Zusammenkunft, etwas zu produzieren oder zu etwas zu
führen. Wieso aber setzen die Menschen dann ihre Zeit daran, wieso nehmen Hunderte die
Kosten und Anstrengungen einer langen Reise auf sich? Sind es nur die inneren Saiten der
Rührseligkeit, die ab und zu bespielt werden wollen, ist es die Sehnsucht nach einer
künstlichen Geborgenheit auf Zeit, ist es das, was Brecht als tümlich
bezeichnet und von dem er gesagt hat, das Volk sei nicht so? Von all dem ist
es wohl etwas, und niemand kann allen Ernstes bestreiten, daß er von all dem auch etwas
in sich trägt mit mehr oder minder schlechtem Gewissen vielleicht, wenngleich er
dazu keinen Grund hat.
Denn bei allen Einschränkungen und Bedenken, bei allen vielleicht nicht zur Genüge
gewürdigten Anstrengungen und manchmal minder gelungenen öffentlichen Auftritten: Ein
jeder kann von dem Heimattreffen etwas nach Hause tragen, nach dem anderen Haus, das
zumeist nicht mehr in der Heimat ist. Er weiß jetzt, daß es andern ebenso ergeht wie
ihm, er weiß, daß er vieles mit vielen gemeinsam hat, seien es auch nur Verlustgefühle,
und er weiß, daß der Gram darüber niemandes Leben bestimmen darf. Es ist vielmehr
besser und gescheiter, auch in bezug auf die Heimat zu tun, was besagter Bertolt Brecht in
bezug auf sich selbst als Erfolg erkannte. Es sei ihm gelungen, schrieb er im Krankenhaus,
sich zu freuen allen Amselgesanges nach mir auch.
Konkret zu unserem Beispiel: Siebenbürgen ist kein Krankenhaus, und die Siebenbürger
Sachsen sind nicht Bertolt Brecht im entferntesten nicht. Ein Heimattreffen ist
auch nicht der Ort, Empfindungen und Gemütszustände dialektisch zu hinterfragen und
auszudifferenzieren. Und doch ist es ein Erlebnis auch für den, der glaubt, ein bißchen
Brecht im Kopf und kein Brett davor reichten aus, mit dem allem, was da auf einen zukommt,
fertigzuwerden. Man wird nicht fertig damit, denn das hieße, daß man auch mit all den
Menschen fertig wäre, die da zusammenkommen. Und das ist man nicht,
hoffentlich noch lange nicht, nie.
Georg Aescht (KK)
KK1192 Seite 21
Draußen der Nachtwind
Trauer, Vernunft, Realismus und Zukunft: Dagmar von Mutius
Am 17. Oktober vollendet die Schriftstellerin Dagmar von Mutius ihr 85. Lebensjahr in
Heidelberg, wo sie seit gut einem halben Jahrhundert ansässig ist. Ihre Bücher sind vom
Geist der Brüderlichkeit getragen und statten einen Dank ab an östliche
Menschen, an Russen, Tschechen und Polen und Deutsche, mit denen man wieder zum
Frieden fand, Frieden als Versuch, auch in einer genormten Welt das Vergessene,
Unscheinbare sichtbar zu machen, dem jeweiligen Menschen in seiner Unverwechselbarkeit ein
Stück seiner zugeschütteten Würde zu wahren.
Sehr früh hat die Dagmar von Mutius das kontroverse Thema Flucht und Vertreibung in ihren
Büchern angesprochen und sich damit auseinandergesetzt Versuche, etwas von dem
Anliegen zu Trauer, Vernunft, Realismus und Zukunft zu vermitteln.
Als Diplomatentochter wurde sie am 17. Oktober 1919 in Oslo geboren, wo ihr Vater Gerhard
von Mutius als Gesandter die Weimarer Republik vertrat. Der schlesische Diplomat und
Philosoph, dessen letztes Buch Zur Mythologie der Gegenwart kurz vor seinem
frühen Tod 1934 erschienen ist und uns heute als eine Verkörperung der seltenen
Vereinigung von Politik und Geist erscheint, wurde auf dem Familiengut Schloß Gellenau in
der Grafschaft Glatz im Jahre 1872 geboren. Er hat seinem heimatlichen Bergland in der
autobiographischen Schilderung Das Lob der kleinen Stadt ein ergreifendes
Denkmal gesetzt.
Die literarische Gabe wurde Dagmar von Mutius wohl von ihren Eltern (auch der Mutter, die
Rilke ins Französische übersetzte) vererbt, was auch aus ihrem Credo zur Grafschaft
Glatz herauszulesen ist, etwa aus dem bekenntnishaften Bildnis dieser Landschaft unter dem
Titel Verlorenwasser:
Unter dem Laubdach eines Nußbaumes im Odenwald ... begrüße ich hin und wieder
Freunde, die ein wenig von der Eigenart ihres Landes mitbringen. Ich bin dankbar, daß ich
hier im Westen ein Haus mit einem Holzgiebel, ein Haus aus dem Glatzer Land, bauen durfte.
Es steht wie im Osten den Freunden offen.
Wir alle finden erst durch das Land unserer Herkunft zu uns selbst zurück.
Nicht einen, keinen einzigen wehleidigen Ton über den Verlust des Familienbesitzes, den
Dagmar von Mutius während des Zweiten Weltkrieges verwaltet hat, stimmt sie in den
autobiographisch getönten Büchern Wetterleuchten. Chronik aus einer schlesischen
Provinz 1945/46 , Einladung in ein altes Haus oder Draußen der
Nachtwind (Aus der Mappe der Jahre) an, nachtragende und aufrechnende
Schuldzuweisungen weist sie seit jeher zurück. Das Ferne-Sein von Herzen
auch im Requiem für Landschaften verlangt vielmehr ein genaueres Zu- und
Hinhören. Es scheint mir oft besser, bewußt mit Fragen zu leben, deren Antworten
wir vielleicht nie erfahren, als daß wir uns mit Antworten in einer nun wieder
wohlsituierten Zeit allzu schnell beruhigen. Bei der Lektüre ihrer Bücher können
wir uns versichern, daß ein Erleben wohl beim Schreiben erst zum Faktum wird,
und daß im Entfalten ihrer Erinnerungskunst dabei das subjektive Element Züge eines sich
entfaltenden Teppichs annimmt.
Günter Gerstmann (KK)
KK1192 Seite 22
Aus dumpfen Fluten kam Gesang
Zum 100. Geburtstag des schlesischen Dichters Horst Lange
Immer wieder bewegt mich am dringlichsten die Frage nach dem Menschen. Wird er
sich wieder aus der Tiefe erheben, in die er gefallen ist? Wird er nach all diesen
Schlägen und nach dieser Entgötterung und Entmenschlichung wieder einen Himmel über
sich erblicken können? Das Abendland wäre eine trostlose Einöde ohne Metaphysik. Der
Himmel wäre nichts als ein mechanisiertes Planetarium.
Der Mann, der diese Worte am 4. Januar 1944 in Berlin in sein Tagebuch schrieb, würde am
6. Oktober 2004 100 Jahre alt. Inzwischen sind 33 Jahre seit seinem Tode vergangen. Horst
Lange gehört heute zu den ostdeutschen Autoren, deren Werk weithin vergessen ist. Er
teilt dieses Schicksal mit etlichen Bedeutenden. Genannt seien hier nur Agnes Miegel und
Ernst Wiechert, Werner Bergengruen und Hermann Stehr, Friedrich Bischoff und Carl
Hauptmann. Zum Geringerwerden seines Bekanntheitsgrades trug in erheblichem Maße die
Tatsache bei, daß keines seiner Werke im Buchhandel angeboten wird.
Horst Lange gehört zu den Autoren, die ihre Arbeit als Auftrag ansehen. Schreiben war
für ihn eine ethische und moralische Aufgabe. Wichtig wurde für sein Schreiben auch das
Land, aus dem er stammte, die Niederung südlich der Oder. Von weiterem Einfluß auf sein
Schaffen war schließlich die Männerwelt des Militärs. Vielfältig waren von
literarischen Vorbildern ganz abgesehen die Wurzeln der Dichtung dieses Schlesiers.
Horst Lange wurde am 6. Oktober 1904 in Liegnitz/Niederschlesien geboren. Sein Vater Ernst
Lange war Regimentsschreiber und Vizefeldwebel. Die Mutter Horst Langes stammte aus der
Provinz Posen; sie war Putzmacherin und arbeitete in einem Modegeschäft. Ernst Lange
heiratete sie 1901 in Ostrowo. Später zog das junge Paar nach Liegnitz. Hier besuchte
Horst Lange die Oberrealschule. Ein Intermezzo ergab sich im Sommer 1921: Der
Sechzehnjährige verließ nach einem heftigen Streit mit dem Vater Liegnitz und fuhr nach
Weimar. Das Bauhaus war sein Ziel, er wollte Maler werden. Am Weimarer Bauhaus nahm ihn
vorübergehend sein Onkel auf. Bald war er aber, von seinem Vater zurückgeholt, wieder in
Lieg nitz. Dort bestand er die Reifeprüfung. 1925 folgte das Studium an der Universität
Berlin in den Fächern Kunstgeschichte, Literaturgeschichte und Theaterwissenschaften.
Später besuchte er die Universität Breslau; das Studium brach er aber ab.
Das Leben in Liegnitz gestaltete sich schwierig. Sein Kontakt mit dem Breslauer
Künstlermilieu hatte sein Leben verändert. Er galt nun als verbummelt, obwohl er
Kritiken für Zeitungen schrieb, Ausstellungen arrangierte und kunstgeschichtliche
Vorträge hielt. Im Herbst 1930 lernte er die aus Berlin stammende Oda Schaefer kennen,
die nach ihrer Scheidung nach Liegnitz gezogen war, wo ihre Mutter und ihr Bruder lebten.
Sie fühlte sich eingeengt, und auch Horst Lange zog es fort. So brachen die beiden am 1.
Mai 1931 zunächst ins Ungewisse auf und gelangten nach Berlin.
Schon während seines Studiums in Berlin hatte er zu schreiben begonnen: Gedichte und
kleine Prosa. Horst Lange hatte nun den Mut, freier Schriftsteller zu werden, und er hatte
nach schweren Jahren Erfolg. Oda Schaefer, die er 1933 heiratete, war als Lyrikerin eine
verständnisvolle Gefährtin, die ihn auf allen Wegen begleitete. Viele Zeitungen druckten
Horst Langes Gedichte, Erzählungen, Feuilletons und Rezensionen. Es begann auch die
Zusammenarbeit mit dem Berliner Rundfunk. Lange schrieb etliche Hörspiele, u. a. Spuk
in den zwölf Nächten (1933), Der Nächtliche (1935), Schattenlinie
(1936) und Goldgräber in Schlesien (1936). Die Berliner Jahre waren eine
erfüllte Zeit, die einen engen Umgang mit Freunden brachte, u. a. Peter Huchel, Werner
Bergengruen, Mathias Wiemann, Fritz Rasp, Wilfried Seyferth und Elisabeth Flickenschild.
Horst Lange publizierte in den Berliner Jahren bedeutende Gedichte, Erzählungen und
Romane. Er begann als Lyriker, und auf diesem Gebiet bewahrte er in besonderem Maße
seinen expressionistischen Ursprung und bewies ein außerordentliches dichterisches
Talent. 1928 erschien Nachtgesang. Es folgten Zwölf Gedichte
(1933), Gesang hinter den Zäunen (1939), Gedichte aus zwanzig Jahren
(1948), Eine Geliebte aus Luft (1957) und Aus dumpfen Fluten kam Gesang
(1958). Seinen literarischen Ruhm begründete er 1937 mit dem Roman Schwarze Weide.
In ihm bildet die versumpfte ostschlesische Hügellandschaft mit ihrem Wasserlauf, der
Schwarze Weide heißt, und mit einer Gutsherrschaft, einem Dorf und einer kleinen Stadt
den Schauplatz eines hintergründigen Geschehens, in dessen Mittelpunkt die Geschichte
eines lange Zeit ungeklärten Mordes und seiner Sühne sowie die Verwirklichung einer
Liebe stehen. Der zweite große Roman kam 1940 heraus: Ulanenpatrouille. Er
war die Geschichte einer Liebe (Horst Lange). Ein Leutnant begegnet 1913 bei
einem Manöver östlich der Oder seiner inzwischen verheirateten Jugendgeliebten wieder,
versäumt seine militärische Aufgabe und stirbt bei dem Versuch, seinen Fehler
gutzumachen.
Im Frühjahr 1940 wurde der Dichter eingezogen und zum Pionier ausgebildet. Er wurde am 9.
Dezember 1941 schwer verletzt. Splitter kamen in die linke Kopfhälfte und ins linke Auge;
es kam zu einer einseitigen Erblindung und zur Entzündung der Kopfnerven. Im Lazarett in
Lublin entstand die Erzählung Die Leuchtkugeln, die Carl Zuckmayer als die
beste Prosadichtung aus dem letzten Kriege bezeichnet hat.
Kurz vor Kriegsende wurde Horst Lange nach Mittenwald versetzt. Dort blieb er mit seiner
Frau auch nach dem Krieg. 1950 zog das Ehepaar nach München. Horst Lange wurden viele
Ehrungen zuteil. Der Präsident der Kulturliga in München (1946) wurde im Laufe der Jahre
Mitglied des Deutschen PEN-Zentrums und der Deutschen Akademie der Wissenschaften und der
Literatur in München; er erhielt 1956 einen Preis des Kulturkreises im Bundesverband der
Deutschen Industrie, 1958 eine Ehrengabe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste,
1960 den Ostdeutschen Literaturpreis (Esslingen) und 1963 den Literaturpreis der
Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
Umfangreiche Werke erschienen nach 1945 selten. Zu erwähnen sind die Romane Ein
Schwert zwischen uns (1952) und Verlöschende Feuer (1956), Versuche
eines neuen Weges, fernab vom Visionär-Hintergründigen der Schwarzen Weide.
Nennen sollte man auch Langes Ostfront-Schauspiel der Rückzugskämpfe Der Traum von
Wassilikowa (1946), das erste deutsche Schauspiel nach 1945, das die Frage aufwirft,
welche menschlichen Beziehungen hinter den aktuellen und vordergründigen politischen
wirksam sein könnten. Zuletzt schrieb Lange außer kleinen Erzählungen nur noch
Gedichte. Seine Erinnerungen an den Krieg marterten ihn. Der Umgang mit Freunden und
Bekannten wurde immer schwieriger; viele verstanden offenbar seine Situation nicht. Horst
Lange starb am 6. Juli 1971 in München. Er wurde nur 66 Jahre alt. Horst Lange hatte noch
viele literarische Pläne, die er nicht verwirklichen konnte.
Der Schlesier Horst Lange gehört zu den bedeutenden Autoren der deutschen Literatur im
20. Jahrhundert und zu einem wichtigen Vertreter des magischen Realismus. Es
wäre angebracht gewesen, diesen Meister der deutschen Sprache anläßlich der hundertsten
Wiederkehr seines Geburtstages mit einer kleinen Werkausgabe zu ehren, wie das auch bei
Friedrich Bischoff (1896 1976) vor acht Jahren wünschenswert gewesen wäre.
Klaus Hildebrandt (KK)
KK1192 Seite 24
KK-Notizbuch
Interkulturelle Prozesse im Ostseeraum hat die Internationale Konferenz in Stettin vom 7. bis zum 10. Oktober zum Thema, die im Tagungszentrum Külz vom Institut für Germanistik der Universität Stettin, dem Germanistischen Seminar der Universität Düsseldorf und dem Gerhart-Hauptmann-Haus Düsseldorf veranstaltet wird.
Unter dem Titel Schweres Gepäck hat Helga Hirsch bei der Edition Körber-Stiftung ein Buch über Flucht und Vertreibung als Lebensthema veröffentlicht. Sie hat mit Kindern Vertriebener über ihr Leben und ihre Suche nach der eigenen Identität gesprochen und nach Wegen gesucht, auf bewußtere Weise mit der Vergangenheit umzugehen. Das Buch wird am 7. Oktober um 11.30 Uhr im Lesezelt der Frankfurter Buchmesse mit einer Lesung und einem Podiumsgespräch der Autorin mit Ralph Giordano, Rupert Neudeck, Wolf Schmidt und Cornelia Zetzsche vorgestellt.
Die Ostseegesellschaft e. V. organisiert vom 3. bis zum 5. Dezember in Travemünde ein Seminar zu deutschbaltischer Kunst (Malerei und Grafik im 19. und 20. Jahrhundert), bei dem sich vier Deutschbalten, zwei Estinnen und zwei Lettinnen verschiedenen Künstlern und ihren Werken widmen. Anmeldungen unter Telefon 0 45 02 / 80 32 03.
Emilie Schindler, der Frau Oskar Schindlers, der in der NS-Zeit mehr als 1200 Juden das Leben rettete, ist die Ausstellung unter dem Titel ... daß meine Geschichte wahrheitsgemäß erzählt wird gewidmet, die vom Bundesverband der Sudetendeutschen Landsmannschaft gestaltet worden ist und vom 5. bis zum 28. Oktober im Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus gezeigt wird. In die Präsentation des Films Schindlers Liste im Rahmenprogramm am 14. Oktober, 15 Uhr, führt Rüdiger Goldmann ein.
Das Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg zeigt bis zum 7. November die Ausstellung Begegnung in Regensburg. HfBK Dresden AVU Prag: Zwei traditionsreiche Kunstakademien stellen sich vor.
Am 26. Oktober um 19.30 Uhr präsentieren Gabriele Hasler (Stimme) und Roger Hanschel
(Altsaxophon) im Bonner Akademischen Kunstmuseum Texte des siebenbürgisch-berlinischen
Dichters Oskar Pastior in einer Veranstaltung des Hauses der Sprache und
Literatur.
(KK)