KK 1188, 2004-07-10

Jörg Bernhard Bilke: Der „linke Diskurs“ zu Flucht und Vertreibung  2
Herbert Hupka: Die Verleihung des Kulturpreises Schlesien in Breslau 5
Brigitte Jäger-Dabek: Die Masurische Gesellschaft diskutiert über Medien 7
Werner Bader: Polnisches Buch in deutscher Sprache über die Neumark  9
Peter Mast: Die EU-Kandidatur Rumäniens und die deutsche Minderheit 11
Barbara Suchner: Der schlesische Olympiasieger Walter Bathe 13

Bücher und Medien 14

Literatur und Kunst
Ulrich Schmidt: Schlesische Reise (II) 18
Günter Gerstmann: Zum Tod des Dichters Hanns Cibulka 20
Görlitzer Ausstellung über die Breslauer Kunstakademie 22

KK-Notizbuch   23

 

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Weit ist's von Ostpreußen nach Deutschland
Der „linke Diskurs“ über Flucht und Vertreibung offenbart immer noch Ausflüchte und Verdrängungen

Die Thüringer Kommunisten, von denen es noch Restbestände gibt, hatten nach Jena ins „Haus auf der Mauer“ eingeladen, zu einer siebenstündigen Tagung über „Flucht, Vertreibung und Erinnern“. Es war schon die zweite Tagung dieser Art, die erste hatte 2000 in Erfurt stattgefunden. Damals waren nur vier Referenten aufgetreten, unter ihnen Peter Becher aus München und der Ostpreuße Bernhard Fischa aus Stadtroda. Der aus Oberschlesien stammende Schriftsteller Harry Thürk, der 1978 einen dicken Kolportageroman gegen Alexander Solschenizyn veröffentlicht hatte, hatte einen Diskussionsbeitrag geschickt.
Zu dieser ersten Tagung gibt es seit vier Jahren die Dokumentation „Vertriebene im linken Diskurs“, die die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten von SED-Historikern im Umgang mit dem Thema Flucht und Vertreibung aufzeigt. Schon der Umstand, daß das einladende Thüringer Forum für Bildung und Wissenschaft, das von der PDS-nahen Rosa-Luxemburg- Stiftung gefördert wird, ein Jahrzehnt verstreichen ließ, ehe es sich mit einem Abschnitt deutscher Nachkriegsgeschichte befaßte, der ohne die Erwähnung der von der Roten Armee an der deutschen Zivilbevölkerung verübten Greueltaten nicht aufgearbeitet werden kann, zeigt, auf welch unsicherem Gelände man sich bewegt, wenn die ideologischen Vorgaben des 1989/90 untergegangenen SED-Staates fehlen.
Deutlich wird das schon am Geleitwort des 1930 geborenen Slawisten Michael Wegner, eines Jenenser Emeritus und Vorsitzenden des Forums. Er betont einleitend, vom „Nachholbedarf in der Diskussion um Vertriebenenfragen unter linken politischen Kräften“ zu wissen, und fordert: „Es sollte nicht allein den Vertriebenenverbänden überlassen werden, darüber zu diskutieren.“ Er sieht „Defizite in der bisherigen Behandlung des Themas, die unsere Veranstaltung notwendig machten“, und plädiert dafür, „ausgewogene Positionen einer Vertriebenenpolitik von links“ zu entwickeln. Reichlich spät, möchte man einwenden, und erfährt dann, warum es dennoch, fünf bis sechs Jahrzehnte nach 1945, geboten sei, sich mit dem Jahrhundertthema Flucht und V ertreibung auseinanderzusetzen. Es ist nicht die Einsicht, daß, auch um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dieses heikle Thema aufgearbeitet werden muß, sondern der europäische Einigungsprozeß, der 2004 auch die einstigen Vertreiberstaaten Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn erfaßt, der offenbar auch die Thüringer Kommunisten zum Nachdenken zwingt. Die Motivation ist vorgeschoben, unter diesen Aspekten hätte das Thema auch schon zu Zeiten des Warschauer Paktes behandelt werden können! Die wahre Motivation dürfte anderswo liegen: Man sucht, da man so völlig ignorant dasteht, nach Argumentationshilfen gegen den Bund der Vertriebenen in Erfurt und Berlin und gegen das von Erika Steinbach geplante Zentrum gegen Vertreibungen.
Vier Jahre später scheint sich die politische Verkrampfung, dieses Thema unbedingt abarbeiten zu wollen, in verständnisvolle Zuwendung auflösen zu wollen, wenn Manfred Weißbecker, Emeritus für Geschichte an der Universität Jena, in seinen einleitenden Worten meint: „Dem Thema vermag niemand sich zu entziehen. Es sollte sich ihm auch niemand verweigern wollen. Es lebt in allen Teilen der Gesellschaft, und dies nicht allein in Deutschland. Vor und während des Zweiten Weltkrieges sowie danach vollzogen sich tiefe Einschnitte in Biographien derer, die unmittelbar betroffen waren, aber auch bei jenen, die mit Flüchtlingen und Vertriebenen umzugehen erst lernen mußten.“
Dennoch bleibt unverständlich, warum man in Jena auch im Jahr 2004 noch nicht weiß, daß das Thema Flucht und Vertreibung durchaus seinen Platz hatte in der DDR-Geschichtsforschung wie in der DDR-Literatur. Das führte so weit, daß man am 11. Januar 1988 in den nationaldemokratischen „Brandenburgischen Neuen Nachrichten“ lesen konnte, daß ein „zentraler Forschungsplan“ vorsah, bis 1990 in die Geschichtsforschung „für die Zeit  vor 1945 das gesamte damalige deutsche Staatsgebiet einzubeziehen“, mit dem Zusatz freilich, daß das „nichts mit Revanchismus zu tun“ habe, sondern der „geschichtlichen . Realität“ entspreche. Der Magdeburger Emeritus Manfred Wille beispielsweise, der jetzt eine dreibändige Dokumentation „Die Vertriebenen in der SBZ/DDR“ (Wiesbaden 1996, 1999, 2004) vorgelegt hat, vergab in DDR-Zeiten eine Reihe von Dissertationsthemen über
Flüchtlinge und Vertriebene, genauer: über deren Eingliederung in Sachsen-Anhalt. Und die vielgeschmähte DDR-Literatur hält zwei Dutzend Erzählungen und Romane von 1948 bis 1994 bereit, die man nur zu lesen und auszuwerten hätte!
Elke Mehnert von der Universität Chemnitz, die gründlichste Kennerin des Stoffs in den neuen Bundesländern, sprach über „Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur nach 1945“ überhaupt, die vom Kalten Krieg gesprägt gewesen sei, was allerdings nur bis zum Jahr 1974 zutrifft, als Arno Surminskis Roman „Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland?“ erschien, mit der die zweite Phase dieser Literatur einsetzte. Sie interpretierte dann ausführlich die Vertreibungs- und Vertriebenenerfahrung bei Josef Mühlberger (1903-1985), die er vor allem in seiner Erzählung „Der Galgen im Weinberg“ (1960) niedergeschrieben hat. Rache- und Vergeltungsgedanken fänden sich nicht bei diesem deutsch-böhmischen Schriftsteller aus Trautenau, der vergessen und verkannt in Eislingen/Fils gestorben ist. Abschließend sprach sie über den Roman „Niemandszeit“ (2002) des 1964 geborenen und bei Dresden lebenden Jörg Bernig, der als nachgeborener Sudetendeutscher das Schicksal eines von Deutschen verlassenen Dorfes in Böhmen beschreibt.
Kirsti Dubeck aus Leipzig, die über die Auseinandersetzungen mit dem Thema in der polnischen und tschechischen Nachkriegsliteratur sprach, konnte sich bei ihren Ausführungen auf ihre umfangreiche im Sommer 2002 in Leipzig verteidigte Dissertation „Heimat Schlesien nach 1945“ (Hamburg 2003) beziehen. Wertvoll war dieser Beitrag deshalb, weil aus Mangel an Sprachkenntnissen kaum ein Zuhörer die Fülle dieser literarischen Texte kannte, die zumeist auch nicht übersetzt sind.
Die vier anderen Referate waren einzelnen Texten gewidmet: Franz Fühmanns Erzählung von 1962 „Böhmen am Meer“ (Lutz Kirschner aus Ber1in), die völlig von Ideologie durchtränkt ist, wobei der aus dem böhmischen Riesengebirge stammende Autor, um mit angemessener Tendenz gegen den „Revanchismus“ anschreiben zu können, auch ein sudetendeutsches Heimattreffen in West-Berlin besucht hat, Heiner Müllers Theaterstück „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ (1961) nach Anna Seghers' Erzählung „Die Umsiedlerin“ (1950) (Jens Fietje Dwars aus Jena) oder Alfred Wellms 1976 erschienener Roman „Pugowitza oder Die silberne Schlüsseluhr“ (Christel Berger aus Hohen Neuendorf), während Bernhard Fisch aus Stadtroda über die Schwierigkeiten sprach, in der DDR über Ostpreußen zu schreiben. Besonders der letzte Referent, der als heimatverbundener Ostpreuße zu DDR-Zeiten heimlich von Kaunas/Litauen nach Königsberg/ Kaliningrad geflogen und prompt von der russischen Miliz festgenommen worden war, konnte eine Fülle von DDR-Büchern mit ostpreußischen Themen aufzählen, wobei ein Buch von 1945, das in einer kleinen Ausstellung einzusehen war, besondere Aufmerksamkeit erregte. Es heißt „Heimatbilder“, zeigt ostpreußische Landschaften, aber ohne jeglichen Text – die geographische Zuordnung der Bilder hat der sowjetrussische Kulturoffizier damals nicht zugelassen.
Eine literarische Entdeckung ist der geborene Westpreuße Alfred Wellm aus Neukrug bei Elbing, der, was bisher kaum bekannt war, das Kriegsende in Masuren schildert. Er hatte schon in Mehlsack von 1942 an die Lehrerfortbildungsanstalt und dann 1946 einen Neulehrerkurs in Stralsund besucht, worauf er in Fürstenberg an der Havel unterrichtete, 1959 „Verdienter Lehrer des Volkes“ wurde und 1963 aus dem Schuldienst ausschied, um Schriftsteller zu werden. Sein Lehrerroman „Pause für Wanzka oder Die Reise nach Descansar“ (1968) hatte ihn berühmt gemacht. Daß auch der 1924 in Reichenberg, Böhmen, geborene Günther Rücker, der heute in Meiningen lebt, sich mit der Erzählung „Hilde, das Dienstmädchen“ (1988) dieser Thematik gewidmet hat und schließlich auch der Parteischriftsteller Erik Neutsch (1931) aus Schönebeck an der Elbe mit dem Text „Der Hirt“ (1998), ist höchst erstaunlich!
Jörg Bernhard Bilke (KK)

 

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58. Gementreffen der Danziger Katholiken

Vom 28. Juli bis zum 2. August veranstalten das Adalbertus-Werk, Bildungswerk der Danziger Katholiken, und die Adalbertus-Jugend, Katholische Jugend aus Danziger Familien, auf der Jugendburg Gemen bei Borken in Westfalen die 58. Ausgabe des traditionsreichen Gementreffens mit dem Thema „Europa nach der Osterweiterung: Einheit in Vielfalt – Austausch der Gaben. Kompetente Referenten aus „alten“ und „neuen“ EU-Ländern werden manchen Anstoß zur fruchtbaren Auseinandersetzung geben.  Weitere Informationen: Dipl.-Ing. Gerhard Nitschke, Am Gentenberg 1, 40489 Düsseldorf, Telefon 0211/400440, g.nitschke@-adalbertuswerk.de.
(KK)

 

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„Chronik der Sternstunden“
In Breslau wurde dem Übersetzer Karl Dedecius und dem Kunsthistoriker Jan Harasimowitz der Kulturpreis Schlesien verliehen

Seit zehn Jahren wird der 1977 gestiftete Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen jeweils im Wechsel zwischen einer Stadt in Niedersachsen und Breslau, nach polnischer Verwaltungseinteilung Hauptstadt der Woiwodschaft Niederschlesien, in einem Festakt vergeben. Am 19. Juni erhielten in der Aula Leopoldina der Breslauer Universität der Übersetzer, Essayist und Herausgeber Karl Dedecius und der Kunst- und Kulturhistoriker Jan Harasimowicz den Preis. In der freundschaftlich gestimmten Laudatio von Karol Bal wird Dedecius mit dem Satz zitiert: „Ich denke an eine Chronik, die nicht die Friedhöfe, sondern die Sternstunden registriert.“
Sternstunden des Geistes will auch dieser Preis registrieren, bis 1990 ausschließlich an Deutsche verliehen, seit der Wende zu gleichen Teilen an Deutsche und Polen mit besonderem Bezug zu Schlesien. Allerdings haben weder die deutschen Preisträger in Polen noch die polnischen Preisträger in Deutschland durch diesen Preis an Bekanntheit gewonnen.
Für Polen ergriff in Breslau Henryk Golebierski, der Marschall (Ministerpräsident) der Woiwodschaft Niederschlesien, das Wort: „Der Kulturpreis Schlesien wird zum ersten Mal in unserem gemeinsamen Haus  verliehen – in der erweiterten Europäischen Union.“ Eine geradezu optimistische Perspektive. Der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann erinnerte in seiner Ansprache an die Vertriebenen und Spätaussiedler im Lande Niederschlesien, nannte die Landsmannschaft Schlesien, auf deren Initiative der Kulturpreis Schlesien zurückgeht, und verwies darauf, daß „nach dem Zweiten Weltkrieg eine dreiviertel Million Schlesier in Niedersachsen ein neues Zuhause gefunden haben“.
Karl Dedecius, 1921 in Lodz geboren, heute in Darmstadt zu Hause, ist in den letzten Jahrzehnten vielfach ausgezeichnet worden. Der Laudator Karol Balm, Philosophieprofessor an der Breslauer Universität, nannte die Ehrendoktortitel der Universitäten Lodz, Krakau, Breslau, Köln und Lublin. Dedecius ist Träger des Andreas-Gryphius-Preises der Künstlergilde, des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, des Wieland-Übersetzungspreises, des Hessischen Kulturpreises, des Viadrina-Preises. Seinen Brotberuf hatte er für Jahrzehnte bei der Frankfurter Allianz-Versicherung. 1979 war er Initiator und Gründungsdirektor des Deutschen Polen-Instituts auf der Mathildenhöhe in Darmstadt. Mit viel Mut und geistigem Elan hat er neben vielen Einzelbüchern ein sieben Bände umfassendes „Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts“ herausgegeben. Mit einem Wort: Karl Dedecius ist nicht nur der beste Kenner des polnischen Geisteslebens, sondern auch der kundigste und sprachgewandteste Übersetzer und Vermittler.
In seiner Dankesrede berichtete Dedecius über die schlesischen Spuren der Familie, die zurückführen bis in die Zeit nach dem Ersten Schlesischen Krieg 1741, als es in Münsterberg und Friedrichsgrätz im Kreis Oppeln zwei böhmisch-lutherische Kolonien gab. „In Friedrichsgrätz stieß ich zum ersten Mal auf den Namen Dedecius. Landarme Exilanten, bald auch schlesische Weber, denen es nicht gelungen war, im Oppelner Land Wurzeln zu schlagen, zogen nach Norden und Osten, nach Polen, Rumänien, Rußland. Besonders verlockend schien ihnen ... das Dorf Pozdzenice in der Nähe von Lodz. Dorthin wanderte die Großfamilie Dedecius aus Petersgrätz und Friedrichsgrätz um 1840.“ Auch Dedecius' Vater hat zunächst als Weber bei einem deutschen Fabrikanten gearbeitet. Um die schlesischen Zusammenhänge und Beziehungen noch zu vertiefen, führte der Mann des deutschen und des polnischen Wortes all die Schlesier, die seinen Berufsweg begleitet haben, zum ehrenden Gedenken an.
Der polnische Preisträger Professor Dr. Jan Harasimowicz, 1950 in Breslau geboren, ist heute Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte der Renaissance und der Reformation im Kunsthistorischen Institut an der Universität Breslau. Die Laudatio hielt Professor Dr. Norbert Conrads, seit dem vorigen Jahr Emeritus, Herausgeber einer ebenso umfangreichen wie gründlich erarbeiteten Geschichte Schlesiens. Seit der Wende, als Harasimowicz ein Semester Gast am Institut für schlesische Geschichte an der Stuttgarter Universität war, kennen sich die beiden Wissenschaftler. In der Laudatio wurden vor allem die Arbeiten zur Reformationsgeschichte herausgegriffen, aber auch der 1000 Seiten umfassende Band „Encyclopedia Wratislavia“: „Wer oder was auch immer mit dieser Stadt zu tun hatte, fand hier seinen Platz. So ist die Lektüre ein vergnüglicher Gewinn.“ Erfreulich, daß Professor Harasimowicz sich als Leiter der Kommission für die Erfassung und Rückgewinnung des zerstreuten niederschlesischen Kulturerbes einsetzt, daß die heute im Warschauer Nationalmuseum gezeigten Exponate, die eigentlich nach Breslau und Schlesien gehören, dorthin zurückgeführt werden.
Aus seiner Dankesrede war die Identifikation mit Schlesien deutlich herauszuhören: „In welchem europäischen Land konnten fast zur selben Zeit so prächtige Bauten wie die evangelische Gnadenkirche in Hirschberg und die katholische Abteikirche in Grüssau entstehen? Niemals in der Geschichte, weder zuvor noch danach, hat meine Heimat soviel Souveränität und schöpferische Kraft gehabt wie zu jener Zeit.“ Um diese Sätze polnisch zu akzentuieren, spricht der Preisträger in einem Atemzug von der „jagellonischen und Habsburger Herrschaft“ und der „deutschen Mehrheit und polnischen Minderheit“, was nicht den historischen Tatsachen des 16. Jahrhundetrts entspricht.
Zum ersten Mal wurde den Preisträgern vom Marschall der Woiwodschaft Niederschlesien die vom Bildhauer Stanislaw Wysocki geschaffene Skulptur „Silesia“ überreicht. Der Künstler wird als Niederschlesier vorgestellt, die Skulptur allerdings symbolisiert ganz Schlesien. Auch in der offiziellen polnischen Sprachgebung trägt das industrielle Oberschlesien mit der Hauptstadt Kattowitz den Namen Schlesien. Der Kulturpreis Schlesien   soll unbeschadet der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Niedersachsen und Niederschlesien ein Preis für ganz Schlesien sein.
Herbert Hupka (KK)

 

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Die Medien und das tägliche Brot
Bei der Masurischen Gesellschaft wird über die deutschen Sendungen und Zeitschriften in Masuren und anderen Regionen diskutiert

Das XIV. Kultur und Begegnungsfest der Masurischen Gesellschaft fand in Krutinnen mitten im Masurischen Landschaftspark statt. Das Thema lautete „Die deutschen Medien – unser tägliches Brot?“. Untersucht werden sollte die Bedeutung der deutschen Radiosendungen, Zeitungen und Zeitschriften in Masuren sowohl für die Region als auch für die deutsche Minderheit. Insbesondere wollte man sich der Frage widmen, ob diese Medien selbst überlebensfähig sind und welche Rolle sie für den Erhalt der deutschen Sprache spielen, ob sie gar den Sprachtod verhindern können.
Vorangegangen war dem Seminar eine Kontroverse mit Eckard Werner, der in der Märzausgabe des „Mitteilungsblattes“ des Verbandes der Deutschen Gesellschaften im ehemaligen Ostpreußen (VDGeO) dieses Seminar sowie die Mitglieder der Masurischen Gesellschaf schon im voraus so beurteilte: „Hier will die Gesellschaft eine Beurteilung unserer Zeitschriften vornehmen. Sehr problematisch ist die Tatsache, daß Menschen, die nicht aus unseren Reihen stammen, diese Urteile fällen sollen. Der Verband der Deutschen Gesellschaften im ehem. Ostpreußen (VDGeO) repräsentiert die deutsche Minderheit im südlichen ehem. Ostpreußen, und nun soll eine winzige Gesellschaft einer ethnischen Minderheit die Zeitschrift der deutschen Minderheit beurteilen? Man sollte in dieser Angelegenheit doch den VDGeO befragen, ob er so ein Seminar durchführen will, an dem dann auch Vertreter der Vereine der Minderheit mitwirken können.“
Werners Kommentar wurde zu Recht als unsäglicher Umgang mit der Presse- und Meinungsfreiheit sowie der Meinungsvielfalt empfunden. Nur wo Vielfalt auch im Bereich der Meinungsbildung, also auch bei den Medien herrscht, kann eine pluralistische Gesellschaft entstehen, die Vielfalt als Reichtum versteht. Um jeden Preis mit einer Zunge sprechen zu wollen ist eine rückwärtsgewandte Sichtweise.
Der neue Vorsitzende des VDGeO, Henryk Hoch, besuchte das Seminar der Masurischen Gesellschaft auf seiner Vorstellungstour, ließ auf eine künftig leichtere Verständigung hoffen und warb um einen vertrauensvollen Umgang.
Dr. Detlof von Berg, der deutsche Generalkonsul in Danzig, beurteilte die Arbeit der Masurischen Gesellschaft gerade im Zeichen des zusammenwachsenden Europas und des friedlichen Miteinanders unter der Glocke der EU als sehr positiv. „Sie leisten Wichtiges. Sie bringen das, worauf es ankommt, an die Basis, dafür dankt Ihnen die Bundesrepublik Deutschland“, erklärte er.
Die literarische Umrahmung des Seminars steuerte Horst Michalowski bei, der aus seinem mit Spannung erwarteten, noch nicht erschienen neuen Masurenbuch vorlas.  Gleiches galt für die Vorträge von Dr. Jörg Bernhard Bilke, der über eine „Vergnügte Lektüre über das alte, das friderizianische Ostpreußen“ erzählte und sich in seinem zweiten Referat passend zum Kant-Jahr dem Leben des großen Königsberger Philosophen Immanuel Kant widmete.
Zur Einführung in das Schwerpunktthema gab Professor Piotr Madajczyk eine umfassende Darstellung der Presseberichterstattung über die Deutschen im Vorwende-Polen und ergänzte sie mit einigen Bemerkungen über das gewandelte Deutschenbild, das Polens Presse seit 1989 verbreitet. Joanna Wankowska-Sobieskas Referat rundete diesen Überblick ab, sie berichtete über das Bild der deutschen Minderheit in der polnischen Presse.
Die Referenten des Seminars beschränkten sich nicht auf die in Polen beheimateten   deutschen Medien. Sie stellten diese Publikationen auch in den Rahmen der gesamten deutschen Auslandmedienlandschaft. Die Zahlen sind beeindruckend: Über 3000 Zeitungen, Zeitschriften, TV- und Radio-Programme in deutscher Sprache außerhalb der deutschsprachigen Länder gibt es, zwei Drittel dieser Medien sind in Europa beheimatet.
Breiten Raum nahmen die Referate über einzelne deutschsprachige Zeitungen ein.
Benjamin Haerdle, Medienassistent am Institut für Auslandsbeziehungen, lieferte einige interessante Fakten und Zahlen über das „Mitteilungsblatt“, über das auch Brigitte Jäger-Dabek ihre Einschätzungen referierte wie auch über die beiden anderen deutschsprachigen Blätter der Region, die „Allensteiner Nachrichten“ der Allensteiner Gesellschaft deutscher Minderheit sowie die „Masurischen Storchenpost“, die Kulturzeitschrift der Masurischen Gesellschaft. Engelbert Mis war aus Oppeln angereist und berichtete über das „Schlesische Wochenblatt“, für das er als Chefredakteur tätig ist. Das Wochenblatt ist die größte in Polen erscheinende Zeitung der deutschen Minderheit, die sich auch außerschlesischer Themen annimmt. Arkadiusz Luba stellte „sein Kind“ vor, die deutschsprachige Radiosendung „Allensteiner Welle“. Der hervorragend Deutsch sprechende junge Allensteiner leitete von Anfang an das Redaktionsteam der wöchentlichen Radiosendung, bevor sein Vertrag kürzlich nicht mehr verlängert wurde – eine der letzten Amtshandlungen Eckard Werners. Der Weggang dieses jungen Wissenschaftlers und Journalisten ist um so bedauerlicher, als die deutsche Minderheit sich solche Verluste an geistiger Elite eigentlich nicht leisten kann.
Auch über den Tellerrand der deutschen Presse in Polen wurde geschaut und dargestellt, wie deutsche Auslandszeitungen anderswo aussehen. Prof. Dr. Swetlana Tscherwonnaja berichtete über die Schwierigkeiten der Presse der Turkvölker in der ehemaligen Sowjetunion, besonders der Krimtataren, die als exemplarisch für andere Minderheiten dort gelten können. Brigitte Jäger-Dabek stellte den „Königsberger Expreß“, die einzige deutschsprachige Zeitung, die direkte Informationen aus dem Königsberger Gebiet liefert, sowie die „Deutsche Rundschau“ aus Kanada vor, die ein in der gesamten deutschen Auslandspresse einmaliges Experiment und eine weltumspannende Zeitung für Auslandsdeutsche und Deutschsprechende im Ausland ist. Der von Leif Nielsen von der deutschen Minderheit in Dänemark vorgestellte „Nordschleswiger“ kann als Modell einer erfolgreichen Minderheitenzeitung gelten, die aus dem Alltag der Menschen vor Ort tatsächlich nicht mehr wegzudenken ist. Den Bogen zum alten Ostpreußen schlossen Herbert Monkowski, der seine „Jomenpost“ vorstellte, und Dr. Marianne Kopp, deren Thema „Literatur und Schriftsteller in der ,Preußischen Allgemeinen Zeitung'“ lautete.
“Das Motto ,Deutsche Zeitungen – unser täglich Brot' drückt es deutlich genug aus: es ist die Muttersprache, die den Deutschstämmigen im anderssprachigen Land Halt gibt und deren Pflege auch das Bewahren der eigenen Identität bedeutet – um so mehr, als sie lange unterdrückt und verboten war. Den ostpreußischen Flüchtlingen bietet das ,Ostpreußenblatt' in vergleichbarer Weise Verbindung zu ihrer geistigen Heimat, eine Bestätigung und Stärkung ihrer Identität als Ostpreußen“, lautet der Schlußsatz im Referat von Dr. Marianne Kopp, der auch als Quintessenz des Seminars taugt. Denn eines leisten alle vorgestellten Medien: sie fördern die deutsche Sprache und Kultur in der Region.
Brigitte Jäger-Dabek (KK)

 

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„Heimatland“ in der Mehrzahl
Das erste polnische Buch in deutscher Sprache heißt „Kleine Heimatländer“ und zeigt Landschaften der früheren Neumark

Das erste Buch ausschließlich in deutscher Sprache ist jetzt in Polen erschienen. Es trägt den Titel „Kleine Heimatländer“ und beschreibt Kriescht, Königswalde, Lagow, Drossen, Sonnenburg, Zielenzig und Sternberg in der früheren Neumark. Herausgeber ist die Gemeinde Sulecin, Zielenzig. Der 184 Seiten umfassende, großformatige, reich bebilderte Band ist damit, wie es auch im Vorwort heißt, „eine gewisse Art vom Novum auf dem Verlagsmarkt“.
Die Darstellung beginnt mit Lagow, seinen Seen und dem alten Johanniterschloß, dann folgen Zielenzig mit Luftaufnahmen und der Nikolauskirche, Sonnenburg mit der Schinkelkirche und der Ruine des Johanniterschlosses, aus der Luft fotografiert. Mit Kriescht geht es weiter, Schloß und Kirche von Königswalde sind ebenso präsent. Dann die alte märkische Stadt Drossen, mit intakter Stadtmauer, gotischer Jakobikirche, neugotischem Rathaus und einem Kupferstich von Daniel Petzold (leider wurde nicht der berühmte von Merian gezeigt). Aber es sind auch bildliche Abstecher in kleine Dörfer unternommen worden, bis zu den Kirchen von Woxfelde und Költschen. Oft sind alte Ansichtspostkarten aus deutscher Vergangenheit mit deutscher Beschriftung dabei, auch wenn die Bauten zerstört sind, wie das alte Rathaus von Zielenzig. Im Schlußkapitel „Landschaften des Ziemia Sulecinska/Zieleziger Landes“ finden sich 31 eindrucksvolle Landschaftsaufnahmen unterschriftslos aneinandergereiht.
Der Text des Buches enthält leider eine Vielzahl sprachlicher und grammatikalischer Fehler. Es ist zu fragen, warum die Herausgeber bei einem so anspruchsvollen Bildband nicht einen deutschen Journalisten oder Texter korrigieren lassen, damit solche Fehler vermieden werden. Und Heimatvertriebene, die in der Region gelebt haben, wären sicher gern bereit, auch historische Lücken zu schließen, es sei denn, sie sind gewollt. So gewinnt leider das Wort an Bedeutung: „Vielleicht werden die Historiker und passionierten Forscher der Vergangenheit dieser Region dem Autor eine zu oberflächliche Betrachtung des Themas vorwerfen.“ In der Tat, diesen Vorwurf muß man erheben.
“Die stolzen Adelsstämme aus den vergangenen Jahrhunderten schließen die Tore ihrer Schlösser, mächtige Johanniter werden kein Dorf mehr kaufen und kein Schloß mehr bauen.“ Dieser Text ist im Grunde unbestritten richtig, aber Adelsstämme wie Johanniter haben ein Recht darauf, daß ihre Geschichte korrekt dargestellt wird. Und das ist leider nicht geschehen.
Aber es gibt auch außerordentlich bemerkenswerte Informationen, die man nur selten oder nie in polnischen Büchern und Texten liest. So diese über Zielenzig: „Immerhin: 50prozentige Vernichtung (der Stadt) ist nicht nur Resultat der Kriegshandlungen, sondern auch der zielgesetzten Brandstiftungen und Devastation nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee.“ Das ist stilistisch fragwürdig, jedoch deutlich. Und dann: Die historischen Gebäude mußten auch später ein „hartes Schicksal erdulden“, was nach Durchzug der Roten Armee noch stand, „wurde abgebaut und als Baustoff nach Warschau gebracht“. Auch bei Sternberg wird geschildert: „Nach der Eroberung der Stadt durch sowjetische Armeen ereilte Sternberg das gleiche Schicksal wie viele andere Städte und Städtchen des heutigen Westpolen, Rathaus, Kirche, Schule, Wohngebäude und Handwerksbetriebe wurden vernichtet.“
Geradezu sensationell ist die Geschichte, die der Autor über das Schloß Sonnenburg erzählt: „Nach 1945 war das Schicksal für das Schloß nicht gerade gnädig, weil es als ein Lager bis zum Jahre 1975 genutzt wurde und dann einem Brand zum Opfer gefallen ist.“ (Der übrigens nie aufgeklärt wurde.) „Die Sache betrifft die Wappenschilde der Johanniter. Jeder neu aufgenommene Ritter hat sich einen Wappenschild angeschafft, der demnächst in den Schloßräumen zur Schau gestellt wurde. Gleich nach dem Einmarsch in Slonsk (Sonnenburg) hat die Rote Armee sich eben insbesondere an dem Schloß interessiert und den Zugang zu ihm völlig abgeschnitten. Kurz danach haben einige zehn Fuhrwerke unter sowjetischer Bedeckung Slonsk (Sonnnenburg) verlassen. Die Leute sagen, daß sich auf den Fuhrwerken die auf Holz gemalten Johanniter-Wappenschilde befunden haben. Davon gab es 1140.
Der Transport der gestohlenen Wappenschilde ist nie an deren Bestimmungsort gelangt. Man weiß nicht, ob es unter den sowjetischen Soldaten zu einem Streit gekommen ist, oder ob sie von einheimischen Dieben angegriffen wurden. Es ist genug zu sagen, daß die Milizabteilung, die an den Ort des Vorfalls gekommen ist, dort ein Schlachtfeld und die rund um die Fuhrwerke liegenden Leichen der Leute in Uniform der Roten Armee gefunden hat. Die Schilder wurden wiedergewonnen und nach Warszawa (Warschau) gebracht. Angeblich haben sie als ein Teil der Bezahlung für den Wiederaufbau des Königsschlosses gedient. Ein Teil davon wurde in einem der Auktionshäuser in Schweden zum Verkauf ausgestellt.“
Ein Buch in einem Gebiet, aus dem die Deutschen vertrieben worden sind, ausschließlich in deutsch zu drucken, ist ein großer Schritt nach vorn. Trotzdem bleibt es dabei, die Polen sind Geschichtsakrobaten. Ihnen gelingt das Kunststück, über die 800jährige deutsche Geschichte zu sprechen, zu schreiben und Ausstellungen zu gestalten, ohne ein einziges Mal das Wort „deutsch“ zu erwähnen. Leser und Zuhörer erfahren nicht, daß es sich um deutsche Stadtgründungen handelt, daß es die deutschen Johanniter waren, die dort residiert haben, daß es sich um einen Teil Brandenburgs und des Deutschen Reiches handelte, ja nicht einmal, daß die Einwohner bis 1945 Deutsche waren. Immerhin werden jetzt die Markgrafen mit dem Zusatz „brandenburgische“ erwähnt und daß die Johanniter von ihnen 1350 das Lehnsprivileg bekamen, das natürlich auf deutsch geschrieben war. Warum wohl? Nobelpreisträger Gerhard Domagk aus Lagow wird erwähnt, aber daß er Deutscher war, wird verschwiegen.
Festgestellt wird: „Die alten Fotos schützen vor Vergessenheit, was wir nie mehr sehen werden, der Text dagegen bezieht sich sehr locker, manchmal sogar nichtssagend auf die historischen Fakten.“ Geschichte darf nicht geklittert werden. Die Polen machen Schritte auf dem Wege zur geschichtlichen Wahrheit, aber der Weg ist lang. Der Autor des Buches sollte beim Verfassen eines nächsten Textes seiner eigenen Erkenntnis gerecht werden, die er so formuliert: „Der Geschichte kann man nicht entrinnen.“
Werner Bader (KK)

 

KK1188 Seite 11
Die Rumänen, ihre Deutschen und Europa
Im Münchner Haus des Deutschen Ostens wird über den künftigen EU-Kandidaten und seine deutsche Minderheit diskutiert

Den Problemkreis Europa, die EU-Osterweiterung und die Deutschen in Rumänien hatte sich jüngst das Haus des Deutschen Ostens in München zum Thema gemacht. Was kann die arg geschrumpfte deutsche Minderheit, nach der Volkszählung von 2002 noch knapp 60 000 Personen zählend, zum Gelingen der Integration Rumäniens in die Europäische Union beitragen? Mit welchen Erwartungen blicken die Rumänen und ihre Deutschen auf das Jahr 2007, zu dem sie sich die Aufnahme in die EU erhoffen? Und: Inwieweit ist der deutsche Kulturanteil in Rumänien, der auch Bestandteil der europäischen Kultur ist, zu erhalten? Das waren die Fragen, die zwei Gäste, Mihai Botorog, der rumänische Generalkonsul in München, und Wolfgang Wittstock, Abgeordneter der deutschen Minderheit im rumänischen Parlament, im Rahmen einer Seminarveranstaltung zu beantworten suchten.
Einleitend äußerte der Direktor des Hauses des Deutschen Ostens, Ortfried Kotzian, sein Erstaunen darüber, daß Rumänien für die Deutschen trotz aller alten Beziehungen so sehr abseits liege, zumal es seit 1989/90, gemessen am südosteuropäischen Maßstab, „ein Hort der Stabilität“ sei. Im übrigen habe es seit seiner Entstehung stets Minderheitenpolitik getrieben und und fahre darin fort. Insofern habe Rumänien als Schüler Frankreichs seinen Lehrmeister „massiv überflügelt“.
Botorog räumte freilich ein, daß, wenn Politiker in Rumänien wie bei der kürzlich abgehaltenen Kommunalwahl unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit Anerkennung finden, das keine Selbstverständlichkeit sei; wenn etwa im siebenbürgischen Hermannstadt die Kandidaten der deutschen Minderheit ein Vielfaches von deren Bevölkerungsanteil an Mandaten gewonnen hätten, so setze das einen „Lernprozeß“ voraus. Überhaupt werde man, so Botorog, der EU erst am Ende eines langen, nur mit Ehrgeiz zu bewältigenden Weges gerecht. Allerdings kehre man mit dem Eintritt in die EU in einen „Kultur- und Zivilisationsraum“ zurück, „zu dem wir immer gehört haben“. Nur vorübergehend, durch den Eisernen Vorhang, sei man aus ihm ausgeschlossen worden. In der Zwischenkriegszeit hätte keiner Rumänien zu „Osteuropa“ gerechnet. In der „europäischen Wiedervereinigung“ setze Rumänien schon deshalb auf Deutschland, weil dieses als Nation eine Wiedervereinigung erlebt habe. Im rumänisch-deutschen Verhältnis gelte darüber hinaus, daß die wirtschaftliche Globalisierung nicht mechanisch aufgefaßt werden dürfe, daß die „menschliche und historische Dimension“ zur Geltung kommen müsse. Die deutschen Siedler hätten einst auf dem späteren rumänischen Staatsgebiet in gründlicher Arbeit und mit Selbstvertrauen Wohlstand und Werte geschaffen, auf die Rumänen und Deutsche stolz sein könnten. Diese seien „gemeinsam durch Höhen und Tiefen der Geschichte“ gegangen, bis zum Jahre 1989. Botorog verhehlte nicht, daß er sich Deutschland an der Spitze der Investoren in Rumänien wünscht, womit „normale Verhältnisse“ erreicht würden.
Zu dem Rahmen einer solchen „strategischen Partnerschaft mit Deutschland“ gab er den in Deutschland lebenden Rumäniendeutschen zu bedenken, ob nicht vielleicht ihre Kinder und Enkel in Rumänien Karriere machen könnten. Ließe sich nicht das, „was uns gemeinsam getrieben hat“, erneuern? „Noch ist es dazu nicht zu spät“, meinte er.
Wolfgang Wittstock, der im Burzenland, also in der Umgebung von Kronstadt zu Hause ist, betonte, daß Rumänien „kein klassisches Vertreibungsland“ sei. Er verwies dabei auf die in den fünfziger Jahren vom Bonner Vertriebenenministerium herausgegebene „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, in der bemerkt wird, daß dort „eine eigentliche Vertreibung der Deutschen nicht stattgefunden hat, wenn auch durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse eine starke Dezimierung und Zerstreuung des Deutschtums in Rumänien eingetreten ist“. Das Hauptinteresse der deutschen Minderheit heute bestehe in der Schaffung und Erhaltung von „Freiräumen für muttersprachliche Kultur“. Die parlamentarische Vertretung von Minderheiten werde in Rumänien fast zu liberal gehandhabt. Eine Definition des Begriffs Minderheit, die das Kriterium der Bodenständigkeit enthalten müsse, tue not, wenn nicht die nationalen Minderheiten Schaden nehmen sollten. Während ein Gesetz über die Rückgabe des Eigentums der nationalen Minderheiten nunmehr im Gesetzblatt veröffentlicht worden sei, stehe die Ratifizierung der europäischen Charta der Minderheitensprachen durch die rumänische Regierung noch aus.
Wie Wittstock im übrigen ausführte, müsse eine Minderheit nicht ihre Nützlichkeit erweisen. Es sei zudem eine Illusion zu glauben, sie könne auf historische Prozesse Einfluß nehmen, so daß die Rolle der Rumäniendeutschen bei der europäischen Integration nüchtern zu sehen sei. Was sie aber zum „Mitbauen an der Brücke nach Europa“ befähige, sei die nach der EU-Osterweiterung wichtiger gewordene deutsche Sprache, weshalb es die deutschsprachigen Schulen in Rumänien weiter zu pflegen gelte.
Hier könne das bei den jüngsten Kommunalwahlen gestärkte Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien als regionalpolitische Kraft ansetzen. Im übrigen könne die Minderheit die nie abgerissenen Verbindungen zu den Herkunftsländern nutzen, etwa ihre Jugend in Deutschland studieren lassen. Sie werde dabei auch ihren eigenen Vorteil finden.
Peter Mast (KK)

 

KK1188 Seite 13
Mit „Hühnerbrust“ zum Brustschwimmer
Der schlesische Olympiasieger Walter Bathe

Animiert durch das Gedenken an Jonny Weismüller, dem das Donauschwäbische Zentralmuseum in Ulm derzeit eine Ausstellung gewidmet hat (die KK berichtete in Heft 1185), erinnert unsere Autorin, die Schriftstellerin und Lyrik-Herausgeberin Barbara Suchner, an eine vergleichbare Persönlichkeit, die ihre Jugend geprägt hat.
Wer kann sich schon rühmen, einen Olympiasieger, noch dazu einen zweifachen, seinen Lehrer nennen zu dürfen? Ich kann es!
Der Chemieunterricht der Breslauer Apothekerpraktikanten wurde von Walter Bathe geleitet, der 1912 in Stockholm zwei Goldmedaillen gewonnen hatte, im Brustschwimmen über 200 und über 400 Meter. Das Einmalige an seinen Erfolgen war, daß seine Rekordzeiten 3:01,8 und 6:29,6, die zwar heute selbst Laien belächeln, bis zur Olympiade 1924 nicht unterboten wurden. Jetzt kaum vorstellbar, weil gerade in den Schwimmdisziplinen Bestleistungen oft nur Minuten Bestand haben.
Das Interessante an den Siegen von Walter Bathe ist die Tatsache, daß dem achtjährigen Jungen wegen einer „Hühnerbrust“ das Schwimmen empfohlen wurde, das er dann so eifrig betrieb, daß es ihm mit 19 Jahren die zwei begehrten Medaillen aus der Hand des Königs von Schweden einbrachte.
Während seiner aktiven sportlichen Laufbahn, die bis 1930 dauerte, errang er noch zehn deutsche Meistertitel, fünfmal den Kronprinzen-Preis, einmal die Adria-Meisterschaft in Abbazia, dreimal gewann er das Oderschwimmen über 7,5 km. Er schwamm auch mehrere Weltrekorde über 100 Meter, 200 Meter und 400 Meter Brust. Insgesamt konnte der Schlesier über 600 Trophäen in Empfang nehmen, von denen er allerdings nur die zwei Goldemaillen über die Kriegs- und Nachkriegswirren retten konnte.
Ein tragisches Geschick wollte es, daß Walter Bathe, erst Besitzer der Lessing-Apotheke in Breslau (dort leitete er mehrere Jahre, wie bereits erwähnt, den Chemieunterricht der Apothekerpraktikanten), nach dem Krieg Leiter der Augusta-Apotheke Augsburg, beim Schwimmen in der Adria eine Gehirnthrombose erlitt, der er zwei Tage später, am 19. September 1959, erlag.
Im Dezember 1970 erfuhr der ruhmreiche Schwimmer posthum noch eine besondere Ehrung: Er wurde in den Shrine of the Swimming Hall of Fame in Fort Lauderdale aufgenommen, als vierter Deutscher, dem diese Würdigung zuteil wurde.
Walter Bathe, mit dem ich auch nach dem Krieg Kontakt hatte, blieb trotz seiner großen Erfolge ein bescheidener Mensch.
Barbara Suchner (KK)

 

KK1188 Seite 14
Bücher und Medien

Wirklichkeitsgesättigte Betrachtung deutschen Lebens in Rußland
Jan Brendel: Der Kutschurgan. Roman. Fouqué Literaturverlag, Frankfurt am Main 2003. 338 S.

Jan Brendel hat mit seinem Buch „Der Kutschurgan“ genaugenommen zwei Romane vorgelegt. Zum einen wird die Geschichte der rußlanddeutschen Familie Keller während der Umwälzungen zur Zeit der kommunistischen Revolution erzählt, zum anderen nimmt der Leser am Lebensweg des jungen Österreichers Robert Ernst teil, der als freigelassener Kriegsgefangener durch Rußland irrt.
Der erste Teil des Romans spielt in Saratov an der Wolga anno 1907. Familienvater Johannes Keller war Lehrer gewesen. Jetzt betrieb er ein Schreibwarengeschäft mit Buchhandlung und Leihbibliothek. Es war deutschsprachige Literatur, denn die deutschen Kolonisten in Saratov und Umgebung wollten Bücher ihrer Heimatsprache lesen. So war es schon gewesen, als Zarin Katharina II. die ersten Siedler aus Deutschland an die Wolga gerufen hatte. Und so war es auch 1808 unter der Ägide des Zaren Alexander I., als die erste Generation Keller aus dem Elsaß einwanderte.
Die unentwegte Lesefreude der Kolonisten bescherte Vater Keller ein florierendes Geschäft. Sechs Kinder hatte er zu ernähren. Tochter Marie ist die Ich-Erzählerin des ersten Romanteils und des letzten. Sie schildert den Zusammenhalt der Siedler und das problemlose Einvernehmen mit der russischen und der exotisch wirkenden, schläfenlockigen jüdischen Bevölkerung.
Das ging gut bis zur Machtübernahme Lenins 1917. Von da an galt die „Diktatur der Partei im Namen des Proletariats“. Es herrschte Chaos, Terror. Keiner war vor Spitzeln, Denunziation, Verhaftung sicher. Johannes Keller entschloß sich, mit seiner Familie zu seinem Bruder Josef in die Ukraine zu ziehen, wo man noch friedlich leben konnte.
Die Ortschaft hieß Selz nach dem einstigen elsässischen Heimatdorf. Die frühen Siedler hatten ihren neuen Bleiben heimatliche Namen gegeben. Selz lag unweit von Odessa. Die Landschaft wurde vom Kutschurgan, einem linken Nebenfluß des Dnjestr, geprägt, der zum Schwarzen Meer strömt, aber in einem dunklen Schilfsee, einem sogenannten Liman, endet. Von diesem aus rinnen die Wasser ins Meer. Selz lag am Kutschurgan-Liman. Marie unternahm lange Spaziergänge zum See, beobachtete Wildgänse, Reiher, Raubvögel, lauschte dem Wehen des Schilfes. Sie vergaß es nie.
Viel geschah in diesen Umbruchszeiten. Einzelheiten aufzuzählen ist in einer Rezension unmöglich. Nur soviel: Die Mutter starb, Vater Keller heiratete wieder, gab seiner Kinderschar eine neue Fürsorgerin. Er wohnte und arbeitete als sozusagen offizieller „Stadtschreiber“ in Selz.
Die Rote Armee eroberte die Ukraine, somit gehörte sie zur Sowjetunion. Johannes Keller wurde verhaftet, ins Gefängnis nach Odessa gebracht. Nach der Haft tauchte er eines Tages in Selz auf – und sekundenlang erkannte ihn niemand. Dann aber herrschte Seligkeit.
1920 erschien ein junger Mann in Selz, bereits erwähnte Robert Ernst. Er war als Waise aufgewachsen. Die Kriegsgefangenschaft hatte er in wechselnden Lagern überstanden, war entlassen worden und quer durch Rußland geirrt, zu guter Letzt nach Odessa. Dort gab es die „Liga der Nationen“, eine Organisation, die kostenlose Rückkehrtransporte für ehemalige Kriegsgefangene zusammenstellte. Dazu war sie auf den guten Willen der Schiffskapitäne angewiesen. Roberts Ziel war die Heimatstadt Wien. Ihm wurde geraten, im deutschen Selz nach Arbeit zu suchen, bis er eine Schiffsreise zugeteilt bekäme. Marie und Robert begegneten sich. Er erzählte ihr von Wien. „Es würde dir bestimmt gefallen, in dieser schönen Stadt zu leben.“ Das wollte Marie. Sie heirateten. Im Oktober bestiegen sie in Odessa das Schiff. Aber ihr Ziel war nicht mehr Wien, sondern Deutsch Brod in Böhmen, damals Tschechoslowakei. Dort lebten Verwandte von Robert. Die würden helfen, denn Maria war schwanger.
Schicksalsgeprüfte Familien stehen füreinander ein. Die Rußlanddeutschen und Kolonisten in aller Welt haben es erfahren.
Esther Knorr-Anders (KK)

 

KK1188 Seite 15
Peinliche Parallelität der Lehrpläne und des politischen „Trends“
Jörg-Dieter Gauger: Der historische deutsche Osten im Unterricht. Diachrone Analyse von Richtlinien und Schulbüchern im Fach Geschichte von 1949 bis zur Gegenwart. Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2001, 369 S., 49,60 Euro

In der Schriftenreihe „Studien zur Schulpädagogik“ hat der Pädagoge Jörg-Dieter Gauger seine gewissenhaft geführte Untersuchung von Lehrplänen und Schulbüchern zur Thematik um Flucht und Vertreibung, die historische deutsche Ostsiedlung, die Abkommen und Verträge bis hin zum Zwei-plus-vier-Vertrag und den Ostverträgen von 1990/91 vorgelegt. Fast 200 Seiten füllen allgemeine Bemerkungen, Lehrpläne und die Analyse der Lehrbücher, weitere fast 200 Seiten sind überschrieben „Anmerkungen und Dokumentation“. Dieser zweite Teil bietet sich in einem kleineren Druck an, ist aber wichtiger und entscheidender für die eigene Urteilbildung als der Vorspann der aufgeblätterten Schulbücher samt schulischen Richtlinien. Zur Bestätigung dieses analysierenden Durchblicks und der akzentuierten Wertung muß der Leser ständig das „Kleingedruckte“ des zweiten Teils heranziehen. Darum ist das Buch trotz der vielfach eingestreuten „Zwischenbilanzen“ schwer zu lesen.
Es sind nicht nur unterschiedliche Schulsysteme von der Grundschule ab zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch die vielen deutschen Bundesländer mit ihrer Kulturhoheit, wobei die 1990 hinzugekommenen Bundesländer unterbelichtet geblieben sind. Dies ist allerdings schon deswegen verständlich, weil der Zeitraum, der in den Blick genommen worden ist, 1949 beginnt.
In den über vier Jahrzehnten, über die Auskunft erteilt wird, hat es zwei fast gegensätzliche Zeitabschnitte gegeben: zum einen die fünfziger und sechziger, dann nach offenkundiger Zäsur die siebziger und achtziger Jahre. Über die neunziger Jahre heißt es: „Was sich nirgendwo findet, ist jetzt irgendeine Form von Rückblick und Bedauern über den Verlust oder wie immer geartete historische Reflexion oder aber auch ein Hinweis auf eine gemeinsame Zukunft im Sinne des vormaligen Bundeskanzlers (Helmut Kohl). Das Thema ist abgehandelt.“ Anders ausgedrückt: Die Fakten der Gegenwart zählen und werden begutachtet, die Vergangenheit einschließlich der Geschichte des jetzt historisch zu nennenden Ostdeutschlands darf und soll vergessen gemacht werden: „Die Sache selbst erscheint als 1945 schon historisch abgeschlossen, 1970 de facto geregelt (auch wenn die Einwände der Opposition durchgängig notiert sind – Anm. d. V.), 1990/91 sind nur letzte bestätigende Reprise.“
Erstaunlich bei alledem ist die auffällige und damit auch peinliche Parallelität der Schulpläne und Lehrbücher zur aktuellen Politik. Die „Entspannungspolitik“ unter den von der SPD geführten Bundesregierungen setzte die Akzente, fand ihren Niederschlag in den Schulen und den Schulbüchern. Die Vertreibung der Deutschen wurde ein Ereignis der allgemeinen Migration (Beispiel Gastarbeiter), und das nachbarliche Verhältnis von uns Deutschen zu Polen und Tschechen trat in den Vordergrund. War es in den fünfziger und sechziger Jahren allgemeine Schulpraxis, die jüngste Zeitgeschichte auch in ihren Gegensätzen zu behandeln so hörte das jetzt auf, man suchte ausgleichende und in die Zukunft projizierte Formulierungen.
Es darf aber nicht verschwiegen werden, daß es vorübergehend klare Unterschiede zwischen den A- und B-Ländern gegeben hat, zwischen Bundesländern mit sozialdemokratischer Mehrheitsbildung und denen mit Landesregierungen, die sich auf CDU- oder CSU-Mehrheiten stützten. Heute dürfte es nach Auskunft von Jörg-Günter Gauger auch hier kaum noch Unterschiede in der Behandlung des historischen Ostens geben. Die von den angesehenen Schulbuchverlagen angebotenen Lehrstoffe haben sich im Laufe der Jahrzehnte angeglichen. Die politische Tendenz des Zeitgemäßen der Zeitgeschichte ist entscheidend. Die immer wieder nicht grundlos beklagte Unkenntnis über Schlesien und Ostpreußen oder das Sudetenland hat hier seinen Ausgangspunkt, das politische Faktum der Gegenwart obsiegt, Geschichte darf, wie es offenkundig scheint, verdrängt und vergessen werden. Spuren eines Gegensteuerns sind nicht wahrzunehmen.
Herbert Hupka (KK)

 

KK1188 Seite 16
Das dritte Leben des Weisen von Wolfenbüttel
(Hier die mit KK1190 korrigierte Fassung)
Der „Weise von Wolfenbüttel“ und sein väterlicher Freund
Julia Freifrau Hiller von Gaertringen (Hg.): Perseus-Auge bellblau. Erhart Kästner und Gerhart Hauptmann. Briefe, Texte, Notizen. Aisthesis-Verlag, Bielefeld 2004, 432 S.

Seit seinem „Zeltbuch von Tumilad“, erschienen im Herbst 1949, kennt ihn die literarische Welt, seit 1950 residierte er in Deutschlands ehrwürdigster Bibliothek, und doch war eine entscheidende Facette im Leben des Dichters und Bibliothekars Erhart Kästner bis zu dieser verdienstlichen Sammlung und kundigen Dokumentation der Freifrau Hiller von Gaertringen kaum bekannt gewesen: Kästners 1922, schon vor dem Abitur, einsetzende besondere Beziehung zunächst zum Werk und bald auch zur Person des Dichters Gerhart Hauptmann. Sie gipfelte in den stürmischen Jahren 1936-38, die Kästner als Sekretär an die Seite des Dichters führten und in das Innerste seiner Lebens- und Arbeitswelt, und sie endete erst mit Kästners Gefangenschaft in Nordafrika, die selbst eine nur postalische Verbindung mit dem zum väterlichen Freund gewordenen Gerhart Hauptmann unmöglich machte.
In einem Band von 432 Seiten mit dem sibyllinischen Titel „Perseus-Auge hellblau“, den Albert von Schirnding kurz, aber souverän eingeleitet hat, legt Julia Freifrau Hiller von Gaertringen zu zwei sehr bekannten literarischen Erscheinungen des hinabgegangenen Jahrhunderts erstaunlich viel Unbekanntes vor. Man darf sagen, hier wird in sensationeller Offenheit ausgesprochen, was der Hauptmann-Forschung bislang wie ein eiserner Reif um die Brust den freien Atem benahm und es einem schwer machte, den gebetsmühlenartig wiederholten Anwürfen gegen den greisen Dichter zu begegnen, der 1933 sein Land eben nicht verlassen wollte. Kästner war in entscheidenden Jahren, seit 1936, als sich der große Schrecken zu enthüllen begann, an der Seite eines genialen, aber schon andere Sphären anvisierenden Dichters und Denkers und verfolgte jung, wach und angespannt eine Entwicklung, die sich mit den Maßstäben, wie sie an andere Literaten jener Jahre anzulegen waren, nicht beurteilen, ja kaum erfassen läßt.
Erhart Kästner, der in späteren Jahren recht majestätisch in Wolfenbüttel residieren wird, berichtet von seinen Anfängen als Sekretär des großen Dichters mit sympathischer Bescheidenheit, nur in die mitgebrachte Verehrung mengen sich erste Ernüchterungen. Darüber korrespondiert er vorsichtig mit Ludwig Jauner, der 1933-35 Sekretär von Hauptmann gewesen war, und offenherziger, ja bald sehr freundschaftlich mit Elisabeth Jungmann, die diesen Posten von 1922 bis 1933 innegehabt hatte. Durch die Rassenverfolgung gefährdet, hatte sie sich in den Schutz des angesehenen und vermögenden Dichters Rudolf G. Binding begeben, dessen Lebensgefährtin sie bis zu seinem Tod im Jahr 1938 blieb und schließlich über Holland emigrierte. Kästners Briefe an sie bilden den wichtigsten Bestand der vorliegenden Sammlung, ihre Briefe an ihn sind nicht erhalten geblieben, vielleicht weil Benvenuto Hauptmann, der Sohn des Dichters aus seiner zweiten Ehe, häufig in Kästners Schreibtisch in Agnetendorf stöberte. Zwischen Lise Jungmann und Kästner wurde Benvenuto nur „der Depp“ genannt, und Hauptmanns Ehe mit Margarete bezeichnet Kästner als das „vielleicht doch größte Unglück in G. Hs. Leben ...Was für ein trostloses Fiasko ist diese Frau denn doch im Menschlichen, ...was für ein ungutes Bündel rabiater, primitiver und unedler Süchte und Ehrgeize“.
Dennoch wahrt er wie alle Angehörigen des Kreises um Agnetendorf das von Margarete verhängte Tabu hinsichtlich Ida Orloffs, weil ihnen allen, Behl, Voigt und anderen Freunden, der Umgang mit dem verehrten Dichter verboten worden wäre. Erst aus den Tagebüchern, erst aus dem Kapitel „Die deutsche Venus“ in der Hauptmann-Biographie ihres Sohnes Wolfgang Leppmann wird einer größeren Öffentlichkeit bekannt werden, durch welche Krise Hauptmann seit 1906 ging, als er die junge Schauspielerin kennenlernte, und welch ungeheuren belebenden Einfluß sie als Pippa, als Gersuind, als Ingigerd Hahlström oder Wanda nicht nur auf sein „Buch der Leidenschaft“, sondern überhaupt auf sein Lebenswerk hatte. Kästner wußte es und schwieg, er half dem Dichter, als er längst nicht mehr sein Sekretär war, gegenüber Behörden, Verlagen und Bühnen, und er erfuhr den Tod des verehrten väterlichen Freundes aus dem Lautsprecher des Zeltlagers von Tumilad in Nordafrika.
Bleibt noch zu sagen, daß die Edition dieses wertvollen Bandes in einer heute selten gewordenen Weise vorbildlich und leserfreundlich ist: die Anmerkungen, immer erhellend, aber niemals geschwätzig, stehen unten auf der Seite, die behandelten Personen sind übersichtlich mit den nötigen Daten präsentiert, alle verbindenden Texte sind sachlich, ohne Herausgeber-Prätentionen.
Hermann Schreiber (KK)

 

KK1188 Seite 17
Deutsche Bücherspenden für Schulen in Polen

„Jetzt haben wir endlich die Möglichkeit, die deutschsprachige Literatur im Original kennenzulernen, und unsere Schüler (und nicht nur sie) können ihre Sprachkenntnisse entwickeln. Wir hoffen auf eine weitere Zusammenarbeit und Unterstützung.“ So steht es in vorzüglichem Deutsch in dem Dankesbrief des Gimnazium W Sulecinie, Zielenzig in der Neumark. Der Vorsitzende des Kulturfördervereins Mark Brandenburg, Werner Bader, hat mit einer Delegation diesem Gymnasium in einer Feierstunde, an der die Deutschlehrerinnen und eine Klasse der Deutschschüler teilgenommen haben, 350 deutsche Bücher aus einer Buchspende übergeben. In dem nahegelegenen Städtchen Kriescht im Warthebruch übergab die Delegation weitere 350 deutsche Bücher an das Gymnasium. Werner Bader wurde aufgefordert, auf dem Erntedankfest der Stadt vor 2000 Besuchern über die Buchspende aus Deutschland zu sprechen. Die nächsten 350 Bücher gingen in die alte märkische Stadt Drossen.
(KK)

 

KK1188 Seite 18
Literatur und Kunst

Selbst Gegensätze haben hier etwas Versöhnliches
Eine Reise nach Schlesien lehrt Gelassenheit vor der Geschichte und Bewunderung für deren Zeugen (II)

Zeitsprung: Das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Konferenz von Potsdam besiegelten das Schicksal der in Schlesien lebenden Menschen (nicht nur dort). Wieder erhielt das Land eine neue Regierung. Doch anders als bei früheren Regimewechseln wurde auch die Bevölkerung „ausgewechselt“. Die Deutschen wurden vertrieben, in ihre Höfe, Wohnungen und Häuser, sofern der Krieg sie nicht versehrt hatte, zogen Fremde ein, Menschen aus ganz anderen Gegenden, mit einem völlig anderen Verständnis vom Leben sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Und die kamen nicht freiwillig. Eine Ausstellung auf Schloß Kreisau zeigt, wie schnell in jenen Tagen in Breslau von deutsch auf polnisch „umgeschaltet“ wurde.
Die Mittel- und Ressourcenknappheit in den Jahren von 1945 bis 1989 hat dazu beigetragen, daß viele geplante Bausünden gar nicht erst begangen werden konnten. Es war auch zunächst der Wiederaufbau von Warschau vorrangig. Dafür wurden auch in Breslau Häuser abgerissen. Und im schlesischen Elysium verfielen nach Plünderung viele Schlösser und Herrenhäuser. Überhaupt tat sich lange Zeit nicht viel, weil das Denken und Handeln der Menschen von der Überlegung beherrscht war, das neue Domizil werde nicht von Dauer sein. Die einzigen, denen die Überzeugung der Ewigkeit die Hand führte, waren die Kirchenleute. Im Vakuum des Machtübergangs besetzte die katholische Kirche, noch bevor Weisungen aus Rom eingetroffen waren, die Gotteshäuser und organisierte ihr Leben neu. Und heute? Die Kirchen sind in der Regel nicht nur gut besucht, sondern auch in guterhaltenem Zustand. Und wenn man sich eine Kirche wie „Maria im Sande“ in Breslau anschaut, staunt man schon ob des Einfallsreichtums der damaligen Bauherren. Und über die gelungene Wiederherstellung.
Nun also Breslau. Von einer Stippvisite im Januar vor zwei Jahren war der Ring bekannt und die Kirche St. Maria Magdalena und – Zeitsprung – Bauten von Erich Mendelsohn. Seit der Wende hat sich viel getan, die Stadt strahlt Zuversicht aus. 100 000 Studenten gibt es in der Stadt, das ist auf Schritt und Tritt zu sehen. Der Verkehr hat großstädtische Dimensionen. Die reiche Vergangenheit wird gepflegt. Eine europäische Metropole. Erweitert um eine zusätzliche Dimension: vor dem Rathaus steht das Denkmal des aus Lemberg hierher überführten polnischen Komödiendichters Alexander Fredro. Aus Lemberg, das bis 1945 polnisch war, wurde eine ukrainische Stadt, die Polen wurden zum Teil nach Schlesien vertrieben. Auch Teile der Lemberger Universität wurden nach Breslau umgesiedelt. Es sind solche nicht sofort sichtbaren Hinweise, die einmal mehr verdeutlichen, was 1945 geschah. Auch die Neubesiedler Schlesiens waren/sind Vertriebene. Die neuen Herren bemächtigten sich der Stadt, indem sie sehr schnell alles Deutsche ausmerzten. Doch es war neuer Wein in alten Schläuchen.
Die hektische Umbenennung ins Polnische erinnert an die ebenso krampfhafte Italianisierung Südtirols im Jahre 1923. Mit dem Unterschied, daß die Deutschen in Südtirol zu diesem Zeitpunkt ihre Heimat noch nicht verlassen mußten. Das Verbrechen der Option auf Deutschland oder Italien kam später. Die Italianisierung bemühte sich um die Übersetzung deutscher Namen ins Italienische. Die Polonisierung wollte die Erinnerung an deutsche Vorgeschichte ausmerzen. Und so erlebt man heute, daß gebürtige Breslauer von vor und nach 1945 mit zwei verschiedenen Straßennamen ganz unterschiedliche Geschichten der gleichen Straße verbinden. Und nicht unbedingt Mißverständnisse ausräumen wollen. Die jüngere Generation interessiert sich für beide Geschichten.
Apropos Geschichte: „Das Ethnographische Museum wurde 1948 als Unterabteilung des Nationalmuseums in Breslau (Wroclaw) eröffnet. Das Museum stellt die typische Volkskultur der niederschlesischen Region dar (Kleidung, Stoffe, Keramik, verschiedene Alltagsmaterialien, Folklore).“ So steht es auf der Breslauer Website im Internet. Klingt harmlos. Ein Besuch dieser Abteilung läßt erschauern. Ganz offensichtlich wurde seit 1948 nur noch Staub gewischt in dieser Abteilung, deren Präsentation in dieser Form man gutwillig nur als Alibi bezeichnen kann. Pausbäckige lebensgroße Puppen sollen die Wohnsituation eines niederschlesischen Bauern charakterisieren, der zeitunglesend und pfeiferauchend am Tisch sitzt, derweil die Frau den Säugling herzt. Wahl- und kommentarlos zusammengetragene Einrichtungsgegenstände aus unterschiedlichen Epochen komplettieren die Irritation. Interessantestes Exponat ist eine Wandkarte, auf der die erzwungenen Wanderungsströme nach 1945 verzeichnet sind. Die vom Museum gestellte Interpretatorin – beste Sprechmaschine sozialistischer Prägung – war nicht davon zu überzeugen, daß gut 60 Jahre nach Kriegsende eine andere Bewertung der Potsdamer Beschlüsse von 1945 auch möglich ist.
Ein ganz finsteres Kapitel ist die Geschichte der Juden in Breslau, zumindest ab 1933. Da die Hauptsynagoge freistand, wurde sie in der Reichspogromnacht 1938 niedergebrannt. Es blieb den Juden die Synagoge „Zum Weißen Storch“ in einem Hinterhof in der Wallstraße, ein Bau von Carl Ferdinand Langhans, dem Sohn des Schöpfers des Brandenburger Tores, Carl Gotthard Langhans. Diese Synagoge anzuzünden hätte zu viele andere Bewohner gefährdet, sie blieb also stehen. Bis 1941 für Gottesdienste genutzt, wurde sie danach als Sammellager entfremdet. Von hier wurden die Breslauer Juden in den Tod geschickt. Nach der Kapitulation gab es kurze Zeit keine Juden in Breslau, dann schwoll ihre Zahl schnell an. So gingen 1948 nahezu 100 000 Juden von Breslau aus nach Israel. Auswanderungen nach Israel nach Stalins Tod wurden ausgeglichen durch Zuzug aus der ehemaligen Sowjetunion. Es herrschte ein reges Gemeindeleben, die Menschen standen während der Gottesdienste gelegentlich bis in den Hof.
Nachdem 1968 im Zuge der antisemitischen Kampagne die Juden außer Landes getrieben wurden, gab es wieder ein Vakuum. Es muß nach 1968 eine beklemmende Atmosphäre gewesen sein. Das Bekenntnis zum Judentum zog die Ausgrenzung nach sich. Wer in Mischehe mit einem katholischen Partner lebte, bekam keine Ausreiserlaubnis, sondern wurde diskriminiert. Die Gemeinde verwaiste. Das Haus wurde wegen Baufälligkeit geschlossen. Erst 1994 bekam die Jüdische Gemeinde nach vielen Querelen ihr Haus zurück, das zwischenzeitlich verkauft worden war und ganz anderer Nutzung zugeführt werden sollte. Ohne die Gelder der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit hätte nicht einmal das Nötigste renoviert werden können. Doch für die mittlerweile 300 Mitglieder gibt es wieder Ansätze von Gemeindeleben. Man hat einen Arzt, Medizinbeihilfe, eine koschere Kantine und, ganz wichtig, eine jüdische Schule in Breslau, die von der Estée Lauder Foundation gefördert wird. Einen Rabbi kann man sich noch nicht leisten. Auch hier kommt Hilfe aus den USA. Seit drei Jahren kommt ein Rabbi drei bis viermal im Jahr für jeweils einen Monat und kümmert sich um die Gemeinde.
Die stärkste jüdische Spur hinterließ der Jüdische Friedhof. 1942 zum letzten Mal für eine Bestattung genutzt, überrascht er mit seiner Größe und seinem Erhaltungszustand. Natürlich pilgert man zum Grab von Ferdinand Lassalle, man findet Alfred Kerrs Eltern, man findet auch Friederike Kempner, seine Tante, auch der „Schlesische Schwan“ genannt, und  überhaupt so viele bemerkenswerte Gräber, die etwas von der Würde vermitteln, mit der den Toten die letzte Ehre erwiesen wurde. 15 000 Gräber sollen es sein – hier merkt man, daß Breslau einmal eine deutsche Stadt war.
Am Sonntagmorgen kurz vor der Abfahrt: Der Ring von Breslau strahlt Ruhe aus. Ein letzter Gang rund um das Rathaus – das muß sein, um noch einmal die Vielfalt der Giebel zu betrachten. Denn ob Krakau, Warschau, Breslau, Hirschberg oder Schweidnitz – so ein Ring vermittelt einen bleibenden Eindruck von der Stadt.
Ulrich Schmidt (KK)

 

KK1188 Seite 20
„Die Zeit bedarf keiner Uhr“
Zum Tod des Dichters und Tagebuchschreibers Hanns Cibulka aus Jägerndorf

„Die Zeit, sie kommt, sie geht, kein Mensch hat sie je gesehen. Du spürst sie als Hauch im Nacken, sie geht an dir vorbei, du merkst nicht, daß sie es ist, die dich anblickt. Sie hat dich eingekreist, sie krallt sich in deinen Kleidern fest, du wirst sie nicht los. Und wenn du alle Uhren dieser Welt anhältst, die Zeit bedarf keiner Uhr, sie weiß genau, wie spät es ist ...“
Darüber und über das Alter hat Hanns Cibulka, der am 20. Juni mit 83 Jahren in Gotha verstorben ist, in seiner letzten Veröffentlichung, den mit „Späte Jahre“ bezeichneten Tagebuchaufzeichnungen, reflektiert – und damit eine letzte Bilanz, das Resümee über sein Leben, sein Werk, das Wort in seinen immerwährenden Gefährdungen, aufs höchste in der sprachlichen Metapher verdichtet. Das poetische Bild muß der Erkenntnis näher stehen als der Erfahrung, wie es schon in der „Sanddornzeit“, dem frühen Tagebuch von Hiddensee, heißt.
Wo beginnen? „Dort, / wo deine Fragen offen sind.“ Die Gedichte Hanns Cibulkas vermitteln davon eindrückliche Kunde. In einem seiner schönsten Gedichtbände, „Der Rebstock“ (1980), wird dieser zum poetischen Spiegel.
Bekannt wurde Hanns Cibulka, der am 20. September 1920 als Sohn eines Appreturmeisters im früheren Jägerndorf (heute Krnov) geboren wurde, vor allem als Schreiber von Tagebüchern, womit er dieses spezifische Genre um bemerkenswerte Darstellungen bereichert hat. Nach Meinung von Cibulka folgen Tagebücher einem tieferen Gesetz, sie deuten auf die doppelte Ordnung in unserem Leben hin und zeigen den Menschen in seiner halb realen, halb phantastischen Existenz. In seinen frühen Aufzeichnungen werden immer wieder wesentliche existentielle Erfahrungen wie das Kriegserlebnis, die ständige Bedrohung durch den Tod, die Begegnung mit einem und der Verlust eines nahestehenden Menschen, eines polnischen Mädchens, und nicht zuletzt auch der Verlust seiner mährischen Heimat, reflektiert: „Diese Erlebnisse waren stärker als alles ..., was auf mich zukam; sie packten mich dort, wo der Mensch am verwundbarsten ist.“ (“Liebeserklärung in K.“).
Cibulka wurde nach seiner Entlassung aus amerikanischer Gefangenschaft in Gotha, nahe dem Thüringer Wald, seßhaft., wo er bis zu seiner Pensionierung eine Bibliothek leitete.
Wichtig waren seine warnenden Hinweise zur wachsenden Umweltverschmutzung zu Lande und zu Wasser in der DDR, mit denen er der Umweltbewegung einen wesentlichen Anstoß gab (“Swantow“, „Die Aufzeichnungen des Andreas Fleming“).
Kritik übte er am Rüstungswahnsinn, der Gewissenlosigkeit der Politiker gegenüber der Menschheit – um freilich in den Aufzeichnungen, die nach der Wende erscheinen, auch viele Erscheinungen der neuen Lebenswelt., wie sie sich in der früheren DDR zeigten, kritisch zu beleuchten. Hierbei erwies sich der Autor durchaus als ein Nachfahre der deutschen Romantik, wenn er an die Goethesche Forderung erinnert, daß eine „Vergeistigung des Politischen und Militärischen“ erfolgen müßte – ein frommer Wunsch angesichts der Frage: „Ab wann begann die Wende zu changieren?“ Dieses sei die Ironie der Wende: „Die Ostdeutschen haben sich einer Gesellschaft angeschlossen, die selbst einer Wende bedarf.“
Immer wieder klingen die besorgten Fragen nach neuen Wegen, neuen Prinzipien, nach dem Sinn der menschlichen Geschichte, „nach ihrem sittlichen und metaphysischen Rang“ an. Antworten darauf findet Hanns Cibulka keine mehr.
Günter Gerstmann (KK)

 

KK1188 Seite 22
Ex oriente: die deutsche Moderne
Ausstellung des Schlesischen Museums zu Görlitz über die Breslauer Akademie für Kunst und Kunstgewerbe

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gehörte Breslau zu den wichtigsten Schauplätzen der modernen Kunstentwicklung in Deutschland. Dies ist auf das Wirken der „Akademie für Kunst und Kunstgewerbe“ zurückzuführen. Künstler wie Hans Poelzig und August Endell, später auch Oskar Moll, Otto Mueller und Hans Scharoun prägten den Lehrbetrieb an dieser Schule und suchten nach einer neuen schöpferischen Verbindung von freier Kunst, Kunstgewerbe und Architektur. In dieser Zeit wurde aus der verschlafenen Kunstschule in der preußischen Provinz, 1791 gegründet zur Förderung des heimischen Kunstgewerbes, eine dem Bauhaus ebenbürtige Institution.
Das Schlesische Museum zu Görlitz hat vor kurzem die wichtigste Privatsammlung zur jüngeren Geschichte der Breslauer Akademie erworben. Die Sammlung wurde seit 1970 von Hans Peter Reisse in Kassel zusammengetragen und umfaßt heute rund 2000 Kunstwerke sowie dokumentarisches Material. Dem großen Engagement des Sammlers ist es zu verdanken, daß viele in der NS-Zeit, durch Krieg und Vertreibung ins In- und Ausland verstreute Werke und Archivalien erhalten wurden.
Aus der bisher noch unveröffentlichten Sammlung sind rund 180 Werke von 55 Künstlern zu sehen. Die Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphiken, Skulpturen und kunsthandwerklichen Objekte bieten Einblicke in das erstaunlich breite Spektrum künstlerischer Richtungen, die in diesen Jahrzehnten an der Akademie zu finden waren. Neben eher traditionell orientierter Kunst von Theodor von Gosen, Arnold Busch oder Hans Zimbal sind Künstler der Avantgarde vertreten, darunter Otto Mueller, Georg Muche, Johannes Molzahn, Carlo Mense, Oskar Moll und Alexander Kanoldt.
Einen Eindruck vom Leben und Lernen an der Akademie geben Arbeiten von Schülern wie Walther Kohlhase, Ludwig Peter Kowalski, Hans Leistikow, Willi Jaeckel, Elisabeth Jaspersen, Georg Nerlich und Grete Schmedes. Archivalien, Fotos, Architekturmodelle, Plakate, launige Schülerzeitungen, Künstlerwerkzeuge und Postkarten lassen diesen Abschnitt der schlesischen Kulturgeschichte wieder lebendig werden.
(KK)

 

KK1188 Seite 23
KK-Notizbuch

Die Sendung „Alte und neue Heimat“ des Westdeutschen Rundfunks, jeweils sonntags von 9.20 bis 10 Uhr auf WDR 5, bringt am 18. Juli einen Bericht von Antje Krekeler über „Armut in Polen“. Am 25. Juli dokumentieren Ursula Junk und Edith Lia Vasilescu Erinnerungen an Buchenwald und Emilie Schindler unter dem Titel „Koffergeschichten“. „Das Elend der Roma in der Slowakei“ schildert Christoph Scheffer am 1. August.
Zugleich teilt die Redaktion mit, daß hinfort keine Programmvorschauen mehr versendet werden, so daß auch wir unsere Leser nicht mehr vorab informieren können, sondern auf das Angebot im Internet unter www.wdr5.de verweisen müssen.

Nachdem das Deutschbaltische Literaturseminar, organisiert von der Ostseegesellschaft e. V., mit großem Erfolg an der Pädagogischen Akademie in Libau/Liepaja, der Universität Riga (Germanistische Fakultät, Lettland, und in Travemünde in der Ostsee-Akademie durchgeführt wurde, wünscht jetzt auch Dorpat/Tartu diese Tagung in seiner Universität anzubieten. Vom 28. bis zum 30. September werden Studenten aus Narva und Dorpat sowie weitere Interessierte zu Vorträgen über Bergengruen, Vegesack, Schaper, Lenz, Kyber, Thiess, Hueck-Dehio und Keyserling eingeladen.

Als nächste größere Veranstaltung der Künstlergilde steht das Herbstseminar der Fachgruppe Literatur am 22./23. Oktober ins Haus, das bekanntlich immer ein Werkstattgespräch, einen Leseabend und die Festveranstaltung der Preisverleihung zu einem Wettbewerb verbindet. Der anonyme Literaturwettbewerb wird für Lyrik und Prosa durchgeführt, wiederum ohne ein bestimmtes Motto.

Der Erzählerwettbewerb der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat hat bei Einsendeschluß 68 Teilnahmen zu verzeichnen. Die Jury tritt am 1. September zusammen, die Preisträger werden dann umgehend benachrichtigt und in der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ vorgestellt. Die festliche Preisverleihung ist für den 23. Oktober im Bonner Haus der Geschichte vorgesehen.

Am 21. Juni fand im Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg in Stuttgart die Preisverleihung zum diesjährigen Schülerwettbewerb „Die Deutschen und ihre Nachbarn im Osten“ statt, der diesmal „Deutsche und Slowaken – Einblicke in die gemeinsame Geschichte“ zum Thema hatte. Fast 4000 Schülerinnen und Schüler hatten sich beteiligt. Die interessantesten Arbeiten und die Hauptpreisträger werden im Internetangebot des Innenministeriums unter der Rubrik „Kulturerbe im Osten“, www.im.baden-wuerttemberg.de, vorgestellt.

Der Lyriker Wulf Kirsten erhält den Eichendorff-Preis der Wangener Gesellschaft für Literatur und Kunst. Die mit 5000 Euro dotierte Auszeichnung soll ihm am 19. September in Wangen im Allgäu anläßlich der Wangener Gespräche überreicht werden.

Den Friedrich-Schiedel-Preis der Stadt Wurzach erhält in diesem Jahr Arno Surminski für seinen Roman „Sommer vierundvierzig oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland“. Der mit 10000 Euro dotierte Preis wird alle zwei Jahre an einen Autor vergeben, dessen Werk einen „engen Bezug zur Geschichte des deutschen Volks- und Sprachraums“ hat. Frühere Preisträger waren unter anderen Golo Mann und Günter de Bruyn. (KK)